Herzensliebe und Hass. Protest und Conspirituality

Auto an Auto. Es waren mehrere Hundert Fahrzeuge, die am 27. Januar 2021 einen über einen Kilometer langen Korso durch die Stuttgarter Innenstadt bildeten. Zu der Aktion aufgerufen hatte Querdenken 711, um gegen die staatlichen Pandemie-Maßnahmen zu protestieren. Manche Autos hupten, andere hatten Warnblinker eingeschaltet, und an vielen waren Botschaften angebracht. Mal mehr, mal weniger eindeutig: »Denkt nach! Es ist Zeit zu hinterfragen« oder »Keine Impfpflicht. Schiebt euch die Spritze in den Arsch«.

Mit der Kundgebung beendete Querdenken 711 eine selbst auferlegte Demonstrationspause. An Weihnachten 2020 hatte Michael Ballweg, Initiator der Bewegung, in einem Video verkündet, den Winter nutzen zu wollen, um »Kräfte für den Frühling« zu sammeln. Den anderen Querdenken-Gruppen empfahl er, ebenfalls auf Aktionen zu verzichten. Per Video erfolgte auch der Aufruf für die neue Protestform. Die sozialen Medien von Blogs und Websites über Facebook und Instagram bis zu Chat- und Telegram-Kanälen sind die medialen Multiplikatoren der Bewegung. So blieb der Appell auch in anderen Städten der Bundesrepublik nicht ungehört. In Hamburg, Köln, Mannheim, München oder Zwickau folgten weitere Autokonvois. Bis zum offiziellen Frühjahrsbeginn konnte die selbsternannte Bewegung für Freiheit und Schutz der Grundrechte doch nicht ausharren. Im April 2021 richtete sie immer noch Auto-Protestfahrten aus.

Anlass für die Wiederaufnahme der Proteste aus dem Vorjahr dürften die neuerlichen Lockdown-Regelungen gewesen sein, die am 19. Januar 2021 von Bund und Ländern beschlossen worden waren. Das geschichtsträchtige Datum ihres offiziellen Aktionsstartes für 2021 weniger. Am 27. Januar 1945 wurde das KZ Auschwitz-Birkenau befreit, 2005 beschlossen die Vereinten Nationen, jedes Jahr an diesem Tag den Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust zu begehen. Eine Verbindung zur Querdenken-Bewegung und Corona-Leugnungsszene besteht insofern, als Einzelne daraus eine historische Verbindung zwischen sich und den Opfern des Nationalsozialismus sehen wollen. Sie tragen einen gelben Stern mit der Aufschrift »Ungeimpft«, in Anlehnung an den Stern, den jüdische Menschen von 1941 bis 1945 sichtbar anheften mussten, oder identifizieren sich, wie die zu zweifelhaftem Ruhm gelangte »Jana aus Kassel«, mit Sophie Scholl, die 1943 hingerichtete Widerstandskämpferin von der Weißen Rose.

In der Debatte um das »Dritte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite« im November 2020 wurden ebenso Vergleiche mit dem Nationalsozialismus bemüht. Bei Aufrufen zu Protesten vor dem Bundestag, die in den sozialen Medien kursierten, bezeichneten Gegnerinnen die Vorlage als »Ermächtigungsgesetz«. Mit dem »Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich« vom 24. März 1933 hatten die Nationalsozialisten unter Adolf Hitler das Recht erhalten, ohne Zustimmung von Reichstag und Reichsrat sowie ohne Gegenzeichnung durch den Reichspräsidenten Gesetze zu erlassen. Der Reichstag schaffte sich durch die Annahme der Gesetzesvorlage als demokratische Institution selbst ab.

Das Infektionsschutzgesetz hingegen lässt sich natürlich kritisieren, zur Zerstörung der pluralistischen Demokratie führen die Erweiterungen der Befugnisse für die Regierung aber nicht. Auch nicht die angekündigte Ausweitung im April 2021. Der AfD-Fraktionsvorsitzende Alexander Gauland sprach im Bundestag gleichwohl von einer »Gesundheitsdiktatur«. Und der parlamentarische Geschäftsführer der AfD-Fraktion, Bernd Baumann, schob nach: Diese »Gesetzesvorlage ist eine Ermächtigung der Regierung, wie es das seit geschichtlichen Zeiten nicht mehr gab«. Diese Vielzahl von begrifflichen und symbolischen Anspielungen auf den Nationalsozialismus im Spektrum der Pandemie-Maßnahmenkritiker:innen legt nahe, dass sie den Termin für den Autokonvoi durchaus bewusst gewählt haben könnten.

Die Kritik an diesem Missbrauch der Geschichte folgte schnell, blendete allerdings oft aus, dass viele Mitglieder der Bewegung tatsächlich fest davon überzeugt sind, sie würden ihrer individuellen Rechte beraubt und eine Diktatur stehe unmittelbar bevor. Sie hoffen mit »Herzensliebe« den »Freiheitsvirus« verbreiten zu können und diese Entwicklung zu stoppen, wie sich Ballweg am 1. August 2020 bei der Demonstration »Tag der Freiheit« ausdrückte.

Bei derselben Gelegenheit stellte auch Markus Haintz, Fachanwalt für Baurecht, Mitgründer von Querdenken 731 aus Ulm und von Anwälte für Aufklärung, die eigene Bewegung in eine historische Tradition: »Die Straße des 17. Juni, auf der wir heute stehen, gedenkt all jener, die damals für ihre Rechte auf die Straße gegangen sind.« Am 17. Juni 1953 waren Menschen in Ost-Berlin und anderen Städten der DDR mit wirtschaftlichen und politischen Forderungen auf die Straße gegangen, die Bewegung wurde aber gewaltsam unterdrückt. Haintz fuhr fort: »Auch wenn heute keine Panzer mehr rollen, um Proteste niederzuschlagen, so sind wir in Deutschland und in vielen anderen Ländern der Welt dennoch an einem Punkt angekommen, an dem der Staat ohne jede tragfähige Begründung willkürlich und unverhältnismäßig und unter Zuhilfenahme von massiver medialer Angst- und Panikpropaganda der staatshörigen Massenmedien eine Agenda durchsetzt, die die Demokratie und den Rechtsstaat massiv gefährdet, die Freiheitskräfte faktisch außer Kraft gesetzt hat und die Menschenrechte und die Menschenwürde mit Füßen tritt.« Und schließlich: »Unter dem Deckmantel des Infektionsschutzgesetzes werden Menschen durch staatlich geförderte Paralleljustiz diskriminiert, Kinder körperlich und psychisch misshandelt, alte und kranke Menschen in Pflegeheimen und Hospizen isoliert und ihrer Menschenwürde beraubt.«

Dagegen müsse die Bevölkerung mobilisiert werden. »Wenn die Menschen begreifen, dass wir alle dieselben Grundbedürfnisse haben, nach Freiheit, nach Gesundheit, Zusammenhalt und Selbstbestimmung, dann hat die verschwindend kleine Minderheit aus Geldadel, Politik und Massenmedien keinerlei Macht mehr über uns (…) Wenn wir zusammenhalten, werden die Masken bei denen fallen, die uns beherrschen und bevormunden wollen.« Er zeigte sich sicher, dass die »Mehrheit der Menschen« der »Corona-Politik« nicht zustimme, »die Masse« habe »lediglich Angst vor staatlichen Repressalien, vor staatlich gefördertem Existenzverlust und der vermeintlichen negativen Meinung anderer«.

Eine schweigende Mehrheit, die von einer Minderheit mit Zugriff auf alle staatlichen und medialen Machtmittel unterdrückt wird, eine »Merkel-« oder »Hygiene-Diktatur«, die nicht davor zurückschreckt, Kinder zu misshandeln und Alte ihrer Menschenwürde zu berauben – träfe irgendetwas davon zu, wäre Widerstand wohl tatsächlich Pflicht. »Wer in einer Demokratie schläft, wird sonst in der Diktatur aufwachen«, warnte Haintz. Der Satz kann als Anspielung auf ein angebliches Zitat von Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) verstanden werden: »Wer in der Demokratie schläft, wacht in der Diktatur auf.« Klingt gebildet, klingt belesen. Allein, der Dichter hat diesen Satz nicht gesagt, wie Michael Niedermeier weiß. Der Leiter der Berliner Arbeitsstelle des Goethe-Wörterbuches sagte in der Welt vom 28. September 2019, der Satz sei nicht belegt und auch »ganz ungoethisch«. Seine weite Verbreitung zeige lediglich, »dass »Kampfbegriffe der Gegenwart immer in die Vergangenheit zurückprojiziert werden«.

Haintz’ Projektion von der »Hygiene-Dikatur« steigerte sich in der Rede zu einer faschistischen. »Wir wehren uns gegen faschistische Tendenzen, die der deutsche Staat schon wieder hat, beziehungsweise, die sich inzwischen durch Großkonzerne kennzeichnen, die so viel Macht haben, dass sie Politik nach Belieben bestimmen können.« Dabei räumte er offen ein: »Das Wort Faschismus habe ich früher immer nicht verstanden, und ich habe es erst mal gegoogelt.« Das Ergebnis: »Der Begriff Faschismus leitet sich von dem italienischen Wort fascio ab, was Bündel bedeutet.« So weit, so richtig. Indem Haintz den Begriff auf seine Etymologie reduziert, ignoriert er die Ideologie, die darunter verstanden wird. So kann er ihn zur Bezeichnung von Phänomenen verwenden, die damit gar nichts zu tun haben: »Durch die Corona-Krise wurde die ohnehin schon massive Bündelung von Macht und Geld in den Händen weniger noch weiter verschärft. Wir wollen keinen Faschismus, egal unter welchem Deckmantel er sich verbreitet.« Seine Rede, die er in einem T-Shirt mit dem Aufdruck »#Freedum. #Courage« hielt, wurde von großem Applaus begleitet.

Im Januar 2021 verkündete die Basisdemokratische Partei Deutschlands, kurz dieBasis, dass Haintz ihr beigetreten sei. »Es wird Zeit, dass wir die Veränderungen, die wir auf der Straße fordern, auch in die Politik und die Parlamente einbringen«, wird er auf der Website der im Juli 2020 gegründeten Kleinstpartei um die Doppelspitze Andreas Baum und Diana Osterhage zitiert. Sie sieht wie die Querdenken-Szene und Corona-Leugnungsbewegung die Gefahr, dass »mit den Maßnahmen, die 2020 getroffen wurden (…) der Verlust unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung auf dem Wege des Notstandsrechts« einhergehe.

Auf der Website zitiert die Bundespartei prominente Persönlichkeiten. Pablo Picassos (1881–1973) Aussage, »wenn es nur eine einzige Wahrheit gäbe, könnte man nicht hundert Bilder über dasselbe Thema malen«, oder Kurt Tucholskys (1890–1935) Behauptung, »das Volk versteht das meiste falsch; aber es fühlt das meiste richtig«, sollen offenbar die Grundpositionen der Partei wie der Szene, für die sie steht, beglaubigen: Was Regierung und Medien über die Pandemie verkünden, ist nur eine Wahrheit, andere sind nicht weniger legitim. Und: Die Mehrheit des Volkes teilt eigentlich die Auffassungen der Querdenker:innen. Die Pandemie-Maßnahmen kritisiert dieBasis damit nur indirekt. Indem sie »Freiheit, Machtbegrenzung, Achtsamkeit, Schwarmintelligenz« als die vier Säulen angibt, auf denen die Partei ruht, suggeriert sie zudem, dass es um mehr geht als nur um den richtigen Umgang mit einer Pandemie.

Die Termini und Referenzen sowohl in der Rede des führenden Querdenkers als auch in den Statements der jungen Partei lassen keinen Zweifel: Die Bewegung verfolgt eine Strategie der Delegitimierung von Staat und Politik. Darauf wies bereits der Titel der Demonstration am 1. August 2020 in der Bundeshauptstadt hin. »Tag der Freiheit« lautete er, ganz so, als seien die Menschen an den übrigen Tagen unfrei. Doch es werden nicht alleine die Einschränkungen der persönlichen Freiheit durch die Lockdown-Maßnahmen zu einer allgemeinen Unfreiheit aufgebauscht.

Aus dem Spektrum wird gern auf das »Newspeak« in George Orwells 1984 verwiesen. Wie in dem dystopischen Roman manipulieren die realen Eliten der Gegenwart angeblich die Sprache, um politisches Handeln zu beeinflussen. Tatsächlich sind es die Querdenkenden selbst, die Begriffe zu besetzen und umzudeuten versuchen. In ihrer Kritik an den staatlichen Maßnahmen wird Freiheit zu Unfreiheit, Fürsorge zu Bevormundung, Infektionsschutz zu Infektionsangriff und Demokratie zu Diktatur. Dieses Newspeak entwertet die Werte der Demokratie. Und es erschwert jedes Gespräch zwischen Menschen, die die Pandemie-Maßnahmen befürworten, und solchen, die sie ablehnen, weil letztere sich von einer gemeinsamen Sprache verabschieden.

Der Rekurs auf linke und liberale Künstler:innen und Publizist:innen soll dabei suggerieren: »Wir können doch nicht rechts sein.« Den jeweiligen Werkkontext blenden sie aus, sonst könnte sich herausstellen, dass die Zitierten kaum als Kronzeug:innen für die Bewegung taugen.

Die soziale Struktur der Bewegung

Solche Referenzen weisen sogleich auf den kulturellen und sozioökonomischen Hintergrund der Querdenkenden und Corona-Leugnenden hin: Aus einem bildungsfernem Milieu kommen sie sicherlich nicht. Tatsächlich fallen auf den analogen Bühnen und in den digitalen Foren der Bewegung die vielen Angehörigen bürgerlicher Berufe auf: Ärzt:innen wie der Hals-Nasen-Ohren-Arzt Bodo Schiffmann oder der Facharzt für Mikrobiologie Sucharit Bhakdi, Apotheker:innen, Dozent:innen, Geschäftebetreibende, Lehrer:innen, Selbstständige, Polizist:innen oder Verwaltungsangestellte. Hinzu kommen Persönlichkeiten, die aus anderen Kontexten bekannt sind: Schlagerstar Michael Wendler oder Popstar Xavier Naidoo, Bestsellerautor Thorsten Schulte oder Fußballweltmeister Thomas Berthold, der Journalist und Buchautor Oliver Janich oder der Influencer Samuel Eckert.

Mittlerweile gibt es dank der Baseler Studie Politische Soziologie der Corona-Proteste von Oliver Nachtwey, Robert Schäfer und Nadine Frei aus dem Dezember 2020 genauere Anhaltspunkte zur sozialen Zusammensetzung der Protestierenden. Für die Datenerhebung hatten die drei eine quantitative Online-Umfrage vorgenommen, aber auch ethnografische Beobachtungen, qualitative Interviews und Dokumentenanalysen durchgeführt. Einen Link zur Online-Befragung posteten sie »in Telegram-Gruppen von Corona-Massnahmen-Kritiker:innen und Querdenker:innen«. Mehr als 1150 Fragebögen wurden ausgefüllt. Ohne die Aussagekraft der erhobenen Daten in Abrede stellen zu wollen, weist das Untersuchungsteam darauf hin, dass die Rückläufe natürlich nur einen Ausschnitt aus der Gesamtgruppe darstellen: »In einigen Telegram-Gruppen wurde explizit vor der Teilnahme an unserer Studie gewarnt.«

Dies vorweggeschickt, verfügten 34 Prozent der Befragten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz nach eigenen Angaben über ein abgeschlossenes Studium, 31 Prozent über Abitur oder Matura, 21 Prozent über einen Realschulabschluss beziehungsweise Mittlere Reife. Vier Prozent hatten promoviert. Der »oberen Mittelschicht« ordneten sich selbst 32,42 Prozent zu, der »unteren Mittelschicht« 34,28 Prozent und 0,89 Prozent der »Oberschicht«. Eine klare Gewichtung, die im Gegenbild noch sichtbarer wird: Nur 8,61 Prozent sahen sich in der »Arbeitsschicht«, 2,22 Prozent in der »Unterschicht«. 14,03 Prozent fanden, sie gehörten »keiner dieser Schichten« an, und 7,55 Prozent gaben an: »weiß nicht«.

Das gegenüber der Gesamtbevölkerung höhere Bildungs- und Einkommensniveau führte jedoch nicht zu einer besonders hohen Akzeptanz von wissenschaftlichen Erkenntnissen. Der Aussage »Ich vertraue meinen Gefühlen und Intuitionen mehr als sogenannten Experten« stimmten 34,46 Prozent »teilweise, sowohl als auch« zu, 17,01 Prozent stimmten »zu«, und 24,74 Prozent stimmten »voll und ganz zu«. Ein ähnliches Bild ergab sich bei der Aussage »Mehr spirituelles und ganzheitliches Denken würde der Gesellschaft guttun«: 41,48 Prozent stimmten ihr »voll und ganz zu«, 25,43 Prozent stimmten zu und 20,14 Prozent stimmten »teilweise, sowohl als auch« zu. Da überrascht es wenig, dass 45,23 Prozent auch »voll und ganz« dem Wunsch zustimmten, die Alternativmedizin möge mit der »Schulmedizin gleichgestellt werden«. 18,49 Prozent stimmen dem »auch zu« und 24,83 »teilweise, sowohl als auch«.

Die Studie bestätigt außerdem, was auf der Straße zu beobachten ist: Frauen sind bei den Corona-Protesten sehr präsent. Das wird in der öffentlichen Diskussion bisweilen mit den gesundheitlichen und spirituellen Aspekten der Bewegung erklärt. In der Studie stimmten Frauen den Aussagen zur Entfernung des Menschen von der Natur, zur Aufwertung der Alternativmedizin und des ganzheitlichen Denkens häufiger zu als Männer. Alleine bei der Aussage »unsere natürlichen Selbstheilungskräfte sind stark genug, um das Virus zu bekämpfen« war die Zustimmungsrate bei den Männern etwas höher.

Nachtwey, Schäfer und Frei haben ihre eigenen Forschungsergebnisse mit denen der Leipziger Autoritarismus-Studie von 2020 verglichen, wo es um Einstellungen in der Gesamtbevölkerung geht (Autoritäre Dynamiken. Alte Ressentiments – neue Radikalität, herausgegeben von Oliver Decker und Elmar Brähler). Ihr Fazit: »Insgesamt sind Querdenker:innen, soweit sie an unserer Erhebung teilgenommen haben, weder ausgesprochen fremden- oder islamfeindlich, in einigen wenigen Bereichen sogar eher anti-autoritär und der Anthroposophie zugeneigt«; 64 Prozent sagten, »man solle Kindern nicht beibringen, Autoritäten zu gehorchen«. Eine Mehrheit der Befragten sei auch nicht »der Auffassung, dass auf Minderheiten in unserem Land zu stark Rücksicht genommen wird – was häufig ein eher rechter Topos« sei. Der Nationalsozialismus werde »seltener verharmlost als in der Gesamtbevölkerung« und »sozialdarwinistische Haltungen« fänden sich kaum. Eine »große Mehrheit will es Menschen aus anderen Ländern erlauben, ins Land zu kommen und dauerhaft hier zu leben« – was für Rechte inakzeptabel wäre.

Regenbogen- und Reichsfahnen

Die Demonstration »Tag der Freiheit« am 1. August 2020 in Berlin, auf der Markus Haintz exemplarisch für die Bewegung argumentierte, hatte Michael Ballweg angemeldet. An die 38 000 Menschen folgten dem Aufruf des Geschäftsführers einer Stuttgarter Software-Firma. In der Landeshauptstadt von Baden-Württemberg meldete er am 18. April 2020 die erste »kleine Demo« an. »180 Menschen« seien gekommen, berichtete er in seiner Rede am 1. August. Der Beginn einer Bewegung. Geplant hatte Ballweg diese Entwicklung nicht. 2020 habe er ein Sabbatical nehmen wollen, eine längere berufliche Auszeit, um durch Indien und Japan zu reisen, Yoga zu machen und die Geheimnisse des Ostens zu erkunden, wie er den Focus-Journalisten Sebastian Schellschmidt und Jan-Philipp Hein bei einem Spaziergang mit Hund sagte. Außerdem sei es ihm darum gegangen, mehr »über die natürlichen Mechanismen (zu) erfahren, um die Selbstheilungskräfte des Körpers zu stärken«.

Der Lockdown änderte nicht nur die Reisepläne, wie die beiden Journalisten am 28. November 2020 in ihrem Artikel berichteten. Auch Ballweg veränderte sich. In seinem Bungalow recherchierte er zur Pandemie und den Gegenmaßnahmen, bis er schließlich für sich erkannte, dass die Meinungsfreiheit und das Versammlungsrecht stark eingeschränkt worden seien. Er begann seinen Protest gegen die Pandemie-Maßnahmen. Das anfängliche Gefühl der Machtlosigkeit dürfte durch den breiten und schnellen Zuspruch aus der Mitte der Gesellschaft längst einem Machtrausch gewichen sein. Wer immer wieder vor Tausenden von Demonstrierenden spricht, dürfte sich kaum ohnmächtig fühlen. Der vom Focus konsultierte Psychologe Louis Lewitan sieht darin einen Widerspruch, der für die Entwicklung der gesamten Bewegung charakteristisch ist: »Wir haben es mit Leuten zu tun, die sich besonders mächtig fühlen, zugleich aber auch besonders ohnmächtig.«

Beim Spazierengehen führte Ballweg aus, dass die Pandemie vorbei sei, wenn die Bevölkerung entscheide, »dass sie vorbei sei«. »Ein klassischer esoterischer Ansatz, nach dem sich die Realität alleine durch das Bewusstsein verändere«, stellen die Focus-Journalisten klar. Sie zitieren wiederum Louis Lewitan, der hinter dieser Haltung einen Abwehrmechanismus am Werk sieht: »Risiken werden kleingeredet bis hin zur Verleugnung.« Diese wiederum könne in eine Gegenoffensive übergehen: »Ich verfolge alle, die mich verfolgen.« Wenn Querdenker:innen von den etablierten Medien interviewt werden, lassen sie die Situation deshalb auch gerne von »alternativen Medien« filmen.

Ballwegs Veränderung dürfte nicht alleine der erste Lockdown ausgelöst haben. Das geplante Sabbatical spiegelt bereits eine besondere Lebenseinstellung wider. Offenbar sollte die Pause dazu dienen, auszusteigen und sich selbst zu finden. Zwei Jahre zuvor, so berichtete der Initiator von Querdenken dem Focus, habe er einen Mountainbike-Unfall gehabt, der ohne Helm tödlich gewesen wäre. Seitdem lebe er im »Hier und Jetzt«. »Ich warte nicht auf meine Rente.« Offenbar hat er seinen Weg gefunden und dabei eine Bewegung angestoßen.

Das von Ballweg ins Leben gerufene Querdenken 711 wurde zum Label und Vorbild für andere. Der Zusatz »711« ist von der Stuttgarter Ortsvorwahl abgeleitet. Andere Querdenken-Gruppen griffen diese Idee auf. Im Februar 2021 führte die Website von Querdenken 711 65 Initiativen auf – alle mit Webadressen, Telegram-Kanälen, Twitter-, Facebook- und Instagram-Accounts. Bis Oktober 2020 will Querdenken bundesweit über 1000 Demonstrationen und Versammlungen mit mehreren Hunderttausend Anhänger:innen organisiert haben. Die Demonstration am 1. August in Berlin offenbarte Politik und Medien die Dimension und Dynamik dieser neuen Bewegung.

Wie äußerst politisch heterogen deren Zusammensetzung ist und wie wenig Berührungsängste sie nach rechts hat, wurde auf einer weiteren Demonstration in der Bundeshauptstadt am 29. August 2020 deutlich. Am Sturm auf den Bundestag waren nicht bloß besorgte Querdenker:innen beteiligt, sondern auch überzeugte Republikfeinde, von Reichsideologie-Bewegten über Holocautsleugner:innen bis hin zu Rechtsextremen. Regenbogenfahnen flatterten an jenem Samstag neben Reichsfahnen im Wind. Inmitten des »Love, Peace and Happiness« kamen deswegen keine negativen Vibrationen auf.

Den Anstoß, sich zum Reichstagsgebäude zu begeben, hatte Tamara Kirschbaum mit einer kurzen Rede gegeben, in der sie erwähnte, dass Donald Trump, damals noch US-Präsident, sich in Berlin aufhalte. Das Milieu schätzt Trump wegen seines Habitus und seiner Positionen. Hier handelte es sich jedoch um Fake News, wie die Heilpraktikerin aus der Eifel später selbst einräumte. Sie behauptete, die Information von einem Mann namens Marcel erhalten zu haben, und spekulierte, es könne sich um einen »V-Mann« handeln, der sie bewusst habe täuschen wollen. Eine V-Person lässt der Polizei oder dem Verfassungsschutz Informationen zukommen, ohne dass dies offen bekannt ist. Die Rolle, die Kirschbaum der unbekannten Person zuschreibt, erinnert an einen Agent Provocateur, einen undercover agierenden Agenten, der nicht bloß Informationen beschafft, sondern auch Aktionen herbeiführt. Wenn es »Marcel« tatsächlich gibt und er besagte Nachricht verbreitet hat, wäre er es gewesen, der den Sturm der rund 500 Demonstrant:innen auf den Bundestag initiiert hat. Das Motiv könnte gezielte Beeinflussung der öffentlichen Diskussion um die Bewegung gewesen sein – auch um sie zu diskreditieren. Solche Strategien werden von Geheimdiensten praktiziert, und sie sind äußerst umstritten. So ist fast zehn Jahre nach der Selbstenttarnung des rechtsterroristischen Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) nicht aufgeklärt, in welcher Weise V-Leute in dessen Umfeld agierten. Das NSU-Kerntrio Uwe Mundlos (1973–2011), Uwe Böhnhardt (1977–2011) und Beate Zschäpe ermordete bis November 2011 zehn Menschen, verübte 43 Mordversuche und 15 Raubüberfälle. Das Urteil ist im April 2021 noch nicht rechtskräftig.

Auch Michael Ballweg scheint nicht abgeneigt, bestimmte Phänomene bei seiner Bewegung auf die Tätigkeit von V-Personen zurückzuführen. In einem Interview mit dem Südwestrundfunk (SWR) am 1. September 2020 führte er zu den Reichsflaggen bei der Demonstration vom 29. August aus: »Von vielen Teilnehmern haben wir gehört, dass diese Flaggen verteilt wurden und dass sie gar nicht wissen, wofür diese Flagge steht. In der Bundespressekonferenz wurde ja bestätigt, dass auch V-Leute unterwegs waren. Von daher kann ich nur sagen: Es wäre ein Untersuchungsausschuss hilfreich, der mal den Einsatz von V-Leuten klärt, und hier auch direkt die Aufforderung an die CDU in Berlin, für lückenlose Aufklärung zu sorgen, wo die denn herkommen.«

Bei Demonstrationen reihen sich durchaus schon mal Beamt:innen von Polizei und Verfassungsschutz in Zivil mit ein, und das nicht nur, um unauffällig zu beobachten. Ballwegs Antwort wirft gleichwohl Fragen auf: Warum nimmt jemand von irgendwem, den er nicht kennt, irgendeine Fahne an, ohne deren Bedeutung zu kennen? Und wie wahrscheinlich ist es überhaupt, dass jemand die Bedeutung der schwarz-weiß-roten Fahne nicht einmal ungefähr kennt? Dies waren die Farben des Deutschen Kaiserreichs. Die Weimarer Reichsverfassung legte 1919 Schwarz-Rot-Gold als Farben der ersten deutschen Republik fest; die Kombination hat ihren Ursprung in den Befreiungskriegen gegen die napoleonische Besetzung 1813 bis 1815. Wer weiterhin Schwarz-Weiß-Rot zeigte, positionierte sich deshalb als Gegner:in der parlamentarischen Demokratie. In der Bundesrepublik dient diese Farbkombination extrem Rechten als Symbol oder Code, deshalb tragen sie diese Farben gern auf Fahnen oder Kleidung.

Wie man solchen Inszenierungen oder Provokationen entgegenwirken kann, wird seit Jahren in Politik, Medien, Bildungseinrichtungen, Sportvereinen, freiwilligen Feuerwehren und Ordnungsbehörden diskutiert. Denn die schwarz-weiß-rote Fahne ist nicht verboten. Darauf weist auch Ballweg hin und meint: »… aber jetzt einfach zu sagen: Diese Flagge bedeutet, jemand ist rechtsextrem, finde ich falsch, weil wenn es so wäre, dann gäbe es eine offizielle Bestätigung davon vom Verfassungsschutz.«

Doch legal ist nicht gleichbedeutend mit legitim. Zwar muss nicht jeder Mensch, der diese Fahne hochhält, rechtsextrem sein, rechts allerdings sehr wohl. Die niedersächsische Landesregierung ließ im März 2021 keinen Zweifel daran, welche Bedeutung sie der Fahne beimisst. Auf eine Kleine Anfrage der Grünen Landtagsfraktion zu »Reichskriegsfahnen im Schulalltag« antwortete sie: »Die Reichsflagge steht nicht nur für eine Ablehnung der Grundsätze, auf denen Demokratie und unser gesellschaftliches Zusammenleben beruhen. Die Reichsflagge ist darüber hinaus insbesondere ein beliebtes Erkennungsmerkmal antidemokratischer und verfassungsfeindlicher Strömungen und ein tief in der Tradition des deutschen Rechtsextremismus verwurzeltes Kampfmittel.« Sollte all das den Demonstrierenden gänzlich unbekannt gewesen sein, als sie die Fahnen schwenkten, wie Ballweg nahelegt?

Mitte der Gesellschaft

Bei den Demonstrationen der Querdenker:innen- und Corona-Leugner:innen-Bewegung ist neben »Das Freiheitsvirus ist ausgebrochen« ein weiteres Credo immer wieder zu vernehmen: »Wir sind überparteilich und schließen keine Meinung aus.« Ballweg bekräftigt diese Haltung im Gespräch mit dem SWR: »Wir ignorieren jetzt mal dieses Schubladendenken, dass die Menschen einfach nicht mehr miteinander reden können, weil der eine links ist und der andere rechts und der andere Mitte. Und ich glaube, die Menschen fühlen sich auch unwohl, wenn man sie in solche Schubladen steckt und damit auch einen offenen Diskurs ausschließt.« Diese Offenheit suggeriert Ausgewogenheit. Eine Mitte, die sich neu gefunden hätte.

Diese neue Mitte hat mit der alten Mitte gemein, sich selbst als nicht politisch extrem wahrzunehmen. Das hat den Benefit, dass die Mitte außerhalb der Betrachtung bleiben kann. Über die Mitte zu reden, hieße dagegen, sich und uns zu hinterfragen. Diese Selbstreflexion wäre nötig, löst jedoch offensichtlich Abwehrmechanismen aus. Denn eins ist auch bei den Querdenker:innen und Corona-Leugner:innen sicher: Rechtsextreme, Sexist:innen, Rassist:innen und Antisemit:innen – das sind immer die anderen. Auf den Demonstrationen werden Gegendemonstrant:innen deshalb auch gern als die »Nazis« oder die »Faschisten« ausgemacht, die die Kritik an den Pandemie-Maßnahmen unterdrücken wollten. Diese Verkehrung entspringt dem Selbstverständnis der Bewegung.

Die Mitte ist sowohl im öffentlichen Diskurs als auch ihrem Selbstbild nach das, was »gut und schön« ist. Mitte, das »signalisiert zugleich Normalität, sodass alle politischen Handlungen, die aus der ›Mitte‹ heraus geschehen, als normal erscheinen müssen«, schrieb der Sprachwissenschaftler Siegfried Jäger (1937–2020) in »Über das Eindringen von Ideologemen des völkischen Nationalismus in den öffentlichen Diskurs« (1998). Dass es nach einer in der Soziologie geläufigen These auch einen »Extremismus der Mitte« (Seymour Martin Lipset) gibt, wird nicht bloß oft verdrängt, sondern jeder Hinweis darauf angefeindet. Unterstellt diese These doch, so Jäger, dass »auch etwa Politiker der ›Mitte‹ nicht dagegen gefeit sind, in den Sog ›rechter‹ Ideologie zu geraten«. Das gilt für Wähler:innen oder Nichtwähler:innen aus der Mitte ebenso. So kann eine Ikone der Querdenken-Bewegung wie Heiko Schrang, ein bekennender Buddhist, dem »Mainstream« – also der politischen und medialen Mitte – entgegenschleudern: »Geht nach Hause. Eure Zeit ist um«, und sich doch der Mitte der Gesellschaft zugehörig fühlen.

Auf die Mitte lässt sich auch deshalb leicht berufen, weil der Begriff verschiedene Dimensionen hat – politisch, sozial, kulturell – und bestimmte Vorstellungen von Gesellschaft impliziert. Mit dem Phänomen hat sich Steffen Mau, Professor für politische Soziologie und vergleichende Analyse der Gegenwartsgesellschaft, 2014 in seinem Aufsatz »Die Mittelschicht – das unbekannte Wesen?« auseinandergesetzt. Ein »unbekanntes Wesen« sei sie gerade nicht, sie habe eine lange Geschichte und eine neue Gegenwart. »Wer Mittelschicht sagt, hat dabei meist ein positiv aufgeladenes Bild vor Augen: die integrierte Gesellschaft, ein Modell sozialen Ausgleichs, eine wichtige Trägergruppe gesellschaftlicher Entwicklung und eine spezifische und die Gesellschaft stabilisierende Form der Lebensführung.« Der von Helmut Schelsky geprägte Begriff »nivellierte Mittelstandsgesellschaft« gelte »vielen sogar als Signum dafür, in einer von der Mitte dominierten Gesellschaft angekommen zu sein«. Mit der wachsenden Bedeutung mittlerer Soziallagen sei ein Sozialbewusstsein jenseits der gesellschaftlichen Grundspannung zwischen oben und unten entstanden, schreibt Mau unter Berufung auf Schelsky, das zudem ein Gefühl entwickelt habe, »man könne ›in seinem Lebenszuschnitt an den materiellen und geistigen Gütern des Zivilisationskomforts teilnehmen‹«.

Die Ökonomen definieren die Mittelschicht Mau zufolge über das Einkommen und rechnen ihr alle Personen zu, deren nach Zahl und Alter der Haushaltsmitglieder gewichtetes Haushaltseinkommen zwischen 70 und 150 Prozent des mittleren Einkommens (Medianeinkommen) liegt. Demnach würden in der Bundesrepublik etwa 58 Prozent der Bevölkerung (etwa 47,3 Millionen Menschen) zur Mittelschicht zählen. Genau genommen müsse man hier aber von einer Einkommensmittelschicht sprechen.

Diese Präzisierung ist wichtig, weil Mau meint, neben den »objektiven Lagemerkmalen wie Beruf, Bildung und Einkommen« seien auch »subjektive Charakteristika« zu berücksichtigen, etwa »Lebenswelt und Kultur«. Die Mittelschicht solle auch als eine Form des Bürgertums verstanden werden. Denn ihre Kultur gehe zurück auf die »bürgerliche Kultur«, die historisch »für Werte wie Respektabilität, Pflichterfüllung, Familiensinn, Ordnung und Stabilität und kulturelles Interesse« stehe. Mit ihr verbunden seien auch »bestimmte Vorstellungen des privaten und öffentlichen Lebens«, in denen »Selbstständigkeit, methodische Lebensführung, allgemeine und fachliche Bildung sowie Leistungsorientierung« eine zentrale Rolle spielten.

Diese Werte entwickelten das Besitz- und Bildungsbürgertum zu Beginn der Industrialisierung im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Seitdem ist die gesellschaftliche Mitte nicht nur enorm gewachsen, sie hat auch ihre Struktur verändert, unter anderem durch die Entstehung neuer Berufsgruppen wie den Angestellten. Bürgerliche Werte strahlten in andere soziale Gruppen aus, veränderten sich aber insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg. »Neue Geschlechtermodelle, postmoderne Werte und die Ökologiebewegung sind in der Mittelschicht entstanden, zugleich haben neue Formen von Individualismus, Flexibilität und Wettbewerblichkeit in der Mittelschicht Fuß gefasst«, so Mau. Das einstige Buddenbrook-Bürgertum war ein anderes als die heutige Bio-Boheme. Und die wiederum ist nur eine von vielen Fraktionen und Milieus in der gesellschaftlichen Mitte.

Im Zusammenspiel von »Sozialstruktur und Kultur« bei der gegenwärtigen Mittelschicht ergibt sich Mau zufolge eine charakteristische Verbindung »zwischen der Ausstattung mit Ressourcen und einem spezifischen Lebensführungsmodus«. Den heutigen Angehörigen dieser Schicht sei gemein, »dass sie über eine bestimmte mittlere Ausstattung an kulturellem und ökonomischem Kapital verfügen, also etwas zu gewinnen, aber auch etwas zu verlieren (haben), was sie dazu anhält, mit diesen Kapitalien achtsam umzugehen und sie immer wieder zu erneuern und zu investieren«. Das Bestreben, durch soziale Praktiken den eigenen Status mindestens zu erhalten, wenn nicht zu verbessern, könne auch als »investive Statusarbeit« beschrieben werden, schlägt Mau vor. Konsequenterweise sind seiner Meinung nach auch »ein Leistungsethos und der Planungsimperativ« typisch für dieses Lebensführungsmodell.

Die Ergebnisse der Studie Politische Soziologie der Corona-Proteste deuten darauf hin, dass Angehörige der Mittelschicht unter den selbsternannten Freiheitskämpfer:innen und Grundrechtsschützer:innen überrepräsentiert sind. Das könnte sich wenigstens teilweise durch die ökonomische Situation und das spezifische Selbstverständnis der Mittelschicht erklären lassen. Denn die Einschränkungen durch den Lockdown bringen wirtschaftliche Verluste mit sich, verhindern Lebensplanungen und begrenzen die Selbstständigkeit und Selbstverwirklichung.

Verschwörungnarrative und -mentalitäten

Es liegen darüber hinaus Studien mit längerer Laufzeit und größerer Datenbasis vor, die Aufschlüsse über gruppenbezogene Ressentiments in der Mitte der bundesdeutschen Gesellschaft geben. Ressentiments, wie sie sich zum Teil in der Querdenken-Bewegung offen widerspiegeln. Seit 2002 veröffentlichen Forschungsteams um Oliver Decker und Elmar Brähler im zweijährigen Rhythmus die sogenannte »Leipziger ›Mitte‹-Studie«, die sie 2018 wegen eines neuen Forschungsfokus in »Leipziger Autoritarismus Studie« (LAS) umbenannt haben. In der aktuellen, bereits erwähnten Studie von 2020 heben beide hervor, dass sie den »Begriff der Mitte« bewusst schon 2006 gewählt haben, um auf den Punkt zu bringen, dass rechtsextreme Einstellungen schon lange in der Mitte der Gesellschaft angekommen waren«.

Ihre Untersuchungen bestätigen, dass die »Hygiene-Demonstrationen«, wie sich der Protest gegen die Pandemie-Maßnahmen anfangs selbst nannte, »aus der Mitte der Gesellschaft« kommen. Gleichwohl würden sich bei den Demonstrationen Gruppen zusammenfinden, die »in Erscheinungsbild, Alter oder Bildungsgrad« nicht unterschiedlicher sein könnten. Der Befund ist also differenzierter als in der Studie Politische Soziologie der Corona-Proteste, widerspricht ihr aber in diesem Punkt nicht. Decker und Brähler führen weiter zu den »Hygiene-Demonstrationen« aus: »Wenn man ihnen zuhört, offenbaren viele ihre Weltsicht, sie sind etwa Impfgegner, Reichsbürgerinnen, Esoterikerinnen. Ihnen ist nicht nur gemeinsam, dass sie die Berechtigung der im Zuge von Covid-19 erlassenen Einschränkungen bestreiten«, sondern auch, dass sie »verschiedenste geheime Organisationen am Werk (sehen), die aus dem Hintergrund das Geschehen lenken würden«.

Die beiden Wissenschaftler stellen klar: Inhaltliche Kritik sei mehr als legitim, gehöre zum demokratischen Diskurs. Doch »während die einen eine ›Weltregierung‹ imaginieren, die einen ›Bevölkerungsaustausch‹ vorbereitet, sind für andere die ›Pharmalobby‹ oder gleich ganz offen die ›jüdischen Milliardäre‹ verantwortlich für die Pandemie«. Diese Narrative legten frei, »was sich in jeder Erhebungswelle« der Leipziger Studie gezeigt habe: »wie weitverbreitet die antidemokratische Orientierung in der Gesellschaft ist«.

Die Bedeutung von Verschwörungsfantasien wird in dem Sammelband zur Studie Autoritäre Dynamiken. Alte Ressentiments – neue Radikalität wiederholt herausgearbeitet. Keinesfalls lassen sie sich als politisch folgenlose Wahrnehmungen abtun. In dem Beitrag »Zersetzungspotential einer demokratischen politischen Kultur: Verschwörungstheorien und erodierender gesellschaftlicher Zusammenhalt« stellen Gert Pickel, Susanne Pickel und Alexander Yendel fest, dass die kursierenden Verschwörungstheorien eine »Abwehrposition« teilen, »die sich nicht nur gegen die aktuellen politischen Repräsentant:innen richtet, sondern gegen die Demokratie an sich«. Darin schwängen unbestimmte Ängste mit, die »mit mangelndem Sozialvertrauen« korrelierten. Ihr Fazit: »Generell tolerante Menschen mit Sozialvertrauen sind deutlich weniger anfällig für Verschwörungstheorien.«

Mit der Virulenz von »Verschwörungsmentalität und Aberglauben« in der Gesamtgesellschaft befassen sich Oliver Decke, Julia Schuler, Alexander Yendell, Clara Schließler und Elmar Brähler in dem Beitrag »Das autoritäre Syndrom: Dimensionen und Verbreitung der Demokratie-Feindlichkeit«. Sie haben festgestellt, dass »etwa jede bzw. jeder dritte Befragte« der Auffassung beipflichte, »die meisten Menschen würden nicht erkennen, ›in welchem Ausmaß unser Leben durch Verschwörungen bestimmt wird‹. Ebenfalls ein Drittel ist überzeugt, dass ›Politiker und andere Führungspersönlichkeiten (…) nur Marionetten der dahinterstehenden Mächte‹ sind. Dass es ›geheime Organisationen gibt, die großen Einfluss auf politische Entscheidungen haben‹«, meinten 38,1 Prozent der Befragten.

Im Jahresvergleich zeigt sich, dass die Verschwörungsmentalität in Gesamtdeutschland von 34,5 Prozent der Befragten im Jahr 2018 auf 51,5 Prozent im Jahr 2020 massiv gestiegen ist. Allein im Jahr 2012 lag der Anteil mit 59,2 Prozent höher. In dem Jahr erschütterte die Euro-Krise nicht bloß die Bundesrepublik. 2020 wurde in der Leipziger Studie zum ersten Mal auch die Verbreitung von »Aberglaube« untersucht. Über 40 Prozent der Befragten erklärten, dass sie Glücksbringer »für wirkungsvoll« halten, und mehr als 30 Prozent trauten »Horoskopen korrekte Vorhersagen zu«. Über 20 Prozent hielten es für »mindestens wahrscheinlich, dass es Wahrsager gibt, ›die die Zukunft wirklich voraussehen können‹ und Wunderheiler, die tatsächlich über ›übernatürliche Heilkräfte‹ verfügen«.

Bei ihrer Beschäftigung mit Verschwörungsmentalität und Aberglauben greifen Decker u. a. auf die Studien von Theodor W. Adorno (1903–1969), Max Horkheimer (1895–1973) u. a. zum »autoritären Charakter« zurück. Demnach handelt es sich um zwei Elemente des »autoritären Syndroms«. Als Unterschied heben Deckers Mitautor:innen hervor, dass Verschwörungsmythen sich auf das Gemeinwesen und damit die Politik bezögen, Aberglauben hingegen nicht. »Wer annimmt, sein Schicksal in die Hände von guten Geistern legen zu können, hat nicht nur die Verbindung zur Realität, sondern auch die zur Politik aufgegeben.« Beiden gemein sei indes, dass sie die »eigene Verantwortung äußeren, der eigenen Kontrolle« der jeweiligen Person »entzogenen Kräften« zuschreiben, wie es bei Adorno heißt. Eine Ich-Schwäche. Der Aberglaube löst diese Ich-Schwäche Decker u. a. zufolge allerdings erst auf, nachdem das Ich bereits »aufgegeben« hat, wie sie Adorno zitieren. Sowohl Verschwörungsmentalität als auch Aberglaube wohne die Tendenz inne, eigene unerwünschte, ambivalente oder beängstigende Eigenschaften und Gefühle auf andere Gruppen oder äußere Instanzen zu projizieren.

Hierbei handelt es sich um eine idealtypische Klassifizierung von Verschwörungsmentalität und Aberglaube, zu der auch die Esoterik gehört. Zunehmend populärer wird ein Hybrid der beiden, die conspirituality (ein Kofferwort aus englisch conspiracy, »Verschwörung«, und spirituality, »Spiritualität«). Deren Anhängerschaft steht anerkannten Wissensquellen – wissenschaftlicher Forschung, öffentlicher Bildung und etablierten Medien – nicht bloß kritisch gegenüber, sie negiert sie. In dem Sammelband Verlorene Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2018/19, herausgegeben von Andreas Zick, Beate Küpper und Wilhelm Berghan, gehen Jonas H. Rees und Pia Lamberty Verschwörungsmythen nach, die sie »als Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt« sehen. Ihre Ergebnisse aus Befragungen korrespondieren mit denen von Decker u. a. »Fast die Hälfte (45,7 %) glaubt an geheime Organisationen, die großen Einfluss auf politische Entscheidungen haben.« Ein knappes Drittel stimmt der Aussage zu, »Politiker_innen und andere Führungspersönlichkeiten seien nur Marionetten dahinterstehender Mächte und etwa jede_r Vierte (24,2 %) findet, Medien und Politik steckten unter einer Decke«. Knapp über die Hälfte der Befragten teilte eine wissenschaftsfeindliche Haltung und gab an, »dass sie ihren Gefühlen mehr vertrauten als sogenannten Expert_innen«. Den Klimawandel zweifelten 11,6 Prozent an. Rees und Lamberty weisen allerdings darauf hin, dass sie bei »dieser kurzen Zusammenfassung (…) lediglich die Antwortkategorien von ›stimme eher zu‹ und ›stimme voll und ganz zu‹« ausgewertet haben. »Unter Hinzunahme der Mittelkategorie, die immerhin nicht ausdrücklich ablehnt, würden die Zustimmungswerte teilweise noch deutlich höher ausfallen.«

Weiter fiel den beiden auf, dass männliche Befragte »tendenziell eher an Verschwörungstheorien glauben als weibliche – 43,9 Prozent und 33,9 Prozent«. Über die Altersgruppen hinweg sei »die Zustimmung dagegen konstant«. Die Verschwörungsmentalität sei zudem »unabhängig davon, ob Befragte überwiegend in Ost- oder Westdeutschland aufgewachsen sind oder einen Migrationshintergrund berichten«. Rees und Lamberty ist allerdings eine interessante Korrelation aufgefallen: »Menschenfeindliche Einstellungen werden jeweils deutlich stärker von denjenigen Befragten geteilt, die Verschwörungsmentalität eher zustimmen, als von jenen, die diese ablehnen.« Da kommt ein weiterer Befund nicht überraschend: »Von denjenigen Befragten, die Verschwörungsmentalität eher zustimmen, neigen 40,3 % auch zu rechtspopulistischen Einstellungen.« Unter den Befragten, die diese Mentalität eher ablehnen, tendierten lediglich 8,6 Prozent zu solchen Einstellungen.

Die beiden Studien zeigen zudem auf, dass Menschen, die an eine Verschwörungstheorie glauben, oft auch noch anderen anhängen. Rees und Lamberty formulieren es so: »Wer beispielsweise daran glaubt, dass es sich bei den Anschlägen vom 11. September 2001 um einen ›Inside Job‹ der amerikanischen Regierung handele, glaubt auch eher, dass die Regierung verschleiere, dass Impfungen zu Autismus führen und dass sie giftige Chemikalien versprühe (sogenannte ›Chemtrails‹), um die Bevölkerung zu dezimieren.« Beide Studien legen auch nahe, dass die Verschwörungsmentalität vom Bildungsniveau abhängig ist. »Befragte mit niedrigem (48,6 % Zustimmung) oder mittlerem Bildungsniveau (42,2 %) scheinen deutlich empfänglicher für Verschwörungstheorien als solche mit hohem (25,3 %)«, stellten Rees/Lamberty fest. Ein Widerspruch zu der Studie von Nachtwey, Schäfer und Frei. Er dürfte darauf zurückzuführen sein, dass für Letztere ausschließlich Kritiker der Pandemie-Maßnahmen befragt wurden, für die beiden anderen Studien hingegen ein repräsentativer Teil der Bevölkerung. Diese Erklärung sollte einen folglich nicht beruhigen, sondern beunruhigen.

Die Studien untermauern, was Beratungsstellen für Demokratie und gegen Rechtsextremismus längst aus eigener Erfahrung zu berichten wissen. So schilderten zwei Mitarbeiterinnen des Mobilen Beratungsteams gegen Rechtsextremismus in Hamburg (MBT) der taz am 20. Oktober 2020, dass die Zahl der Ratsuchenden zwar nicht gestiegen sei, sich Anfragen aber »verstärkt auf Verschwörungsnarrative« bezögen. Die Frauen tauchten in der Zeitung mit dem Kürzel MZ und FR auf, weil sie nicht namentlich genannt werden wollten, um in Beratungen und anderen Tätigkeitsbereichen geschützt zu sein. FR sagte: »Auffällig ist, dass sich sowohl um Kinder und Eltern, als auch Großeltern und Freunde gesorgt wird.« Verschwörungserzählungen geisterten auch durch alle Bildungsschichten. Sehr oft heiße es, »aber, der/die hat doch studiert und verbreitet dennoch Verschwörungen. Die Freunde oder Familienangehörigen sind da oft anfänglich mehr als verwundert«, sagte FR.

Der Schock und der Druck seien enorm hoch. Anfangs komme es häufig zu Abwehrreaktionen, »da kann es auch heißen, ach das geht vorüber oder das wächst sich raus oder das ist bloß eine Phase. Da ist geboten, genau aufzuklären und Verklärungen entgegenzuwirken«, meinte MZ. Die Konflikte brächen im Alltag auf, berichtete sie: »(…) die Eltern verweigern den Mundschutz, die Oma erzählt dem Enkelkind, dass es das Corona-Virus gar nicht gebe. Abstands- oder Quarantäneregeln werden nicht eingehalten. Und schon ist der Streit da.« FR weist darauf hin, dass Abhängigkeiten die Lage zusätzlich komplizieren: »Die Großeltern oder Geschwister helfen beispielsweise bei der Kinderbetreuung. Wenn die Schwester dann Telegramposts versendet, in denen behauptet wird, Bill Gates will uns alle verchippen, ist eine Ratlosigkeit da.«

Fake News und antisemitische Muster

In der Querdenken-Bewegung und dem Corona-Leugnungsmilieu ist der Mitbegründer von Microsoft eine der verhasstesten Personen. »Gib Gates keine Chance. Freier Impfentscheid« wird bei Demonstrationen als Button angeboten; T-Shirts mit der Aufschrift »Bill Gates – Vaccinator« können im Internet bestellt werden. Dahinter steht die Unterstellung, Gates wolle mit der Bill & Melinda Gates Foundation weltweit Impfungen vorantreiben, um die eigene Macht auszubauen. Fakt ist: Gates, einer der reichsten Männer der Welt, hat erklärt, bis zu seinem Lebensende 95 Prozent seines Vermögens für die Verbesserung der Gesundheitsfürsorge, die Bekämpfung extremer Armut sowie für den Zugang zu Bildung und Informationstechnik in der gesamten Welt einzusetzen. Die Stiftung unterstützt auch die Forschung an Impfstoffen. Keine Überraschung: Bereits vor Jahren warnte Bill Gates vor der Gefahr einer globalen Pandemie. Neuartige Krankheitserreger könnten gefährlicher werden als militärische Konflikte, sagte er 2015 bei der alljährlichen Innovations-Konferenzserie Ted-Talks. »Wir sind nicht bereit für eine Epidemie«, warnte er.

Im Februar 2020 kündigte er an, dass die Stiftung an die 100 Millionen Dollar alleine für die Bekämpfung der Corona-Pandemie spenden werde. Die Stiftung hat auch schon der Tübinger Firma Curevac geholfen, die einen der Impfstoffe entwickelte. Dass Gates außerdem in der Washington Post vom 23. April 2020 für die schnelle Massenproduktion eines Corona-Impfstoffes eintrat, dürfte die bestehenden Anfeindungen bestärkt haben.

Schon vor der Corona-Pandemie rankten sich wegen der Investitionen in weltweite Impfkampagnen Verschwörungserzählungen um die Person Gates und seine Stiftung, sagte Michael Butter dem Deutschen Ärzteblatt am 28. Oktober 2020. Der Experte für Verschwörungsnarrative wies zudem darauf hin, dass die Bill-&-Melinda-Gates-Stiftung 2019 eine Pandemie simuliert habe, bei der ein Virus aus China von Tieren auf den Menschen übergesprungen sei, das sich dann weltweit ausbreitete. Futter für alle, die für Verschwörungserzählungen empfänglich sind. Solche Simulationen führten zwar auch andere Institutionen aus. »Aber nur wenige haben ein so prominentes Gesicht wie die Bill-&-Melinda-Gates-Stiftung«, erklärt Butter.

Das zentrale Narrativ besteht darin, dass Bill Gates bei der Corona-Pandemie im Hintergrund die Fäden ziehe. Welches Interesse er an der Pandemie haben soll, wird auf den Demonstrationen und Portalen unterschiedlich beantwortet. Am gemeinsamen Feindbild ändert das aber nichts. Einige meinen, Gates hoffe, mit der Pandemie einen globalen Impfzwang durchsetzen zu können, weil er an Impfungen verdiene. Andere denken, dass er den Menschen durch Impfungen Chips einpflanzen lassen wolle, um sie zu beeinflussen. Wieder andere glauben, er habe Corona entwickeln lassen, um die Weltbevölkerung zu reduzieren.

Einer der bekanntesten Verschwörungserzähler in der Bundesrepublik über Bill Gates ist Ken Jebsen, der eigentlich Kay-van Soufi Siavash heißt. Seine Reichweite in den sozialen Medien und auf der Straße ist enorm. Am 4. Mai 2020 lud der ehemalige rbb-Moderator ein etwas über 30 Minuten langes Video mit dem Titel »Gates kapert Deutschland« auf seiner Plattform KenFM hoch, in dem Covid-19 als »relativ harmlose Grippe« beschönigt wird. Es wurde fast drei Millionen Mal aufgerufen und ist immer noch auf YouTube zu finden. Bereits nach 1:51 Minuten behauptet Jebsen, Bill und Melinda Gates bestimmten die Politik der »Weltdemokratien« in der Pandemie. Die beiden hätten sich über die World Health Organization (WHO) »in die Weltdemokratien hineingehackt«. In »ihrem Wahn«, die »Welt besser machen zu können«, hätten sie die »Weltgesundheitsorganisation gekauft«, sagt Jebsen ab Minute 2:30 und behauptet, die Stiftung finanziere zu mehr als 80 Prozent die WHO.

Das ist eine Fake News, wie Till Eckert und Alice Echtermann in ihrem Artikel »Große Verschwörung zum Coronavirus?« klargestellt haben, der am 8. Mai 2020 auf dem Rechercheportal Correctiv erschien. Die Bill-&-Melinda-Gates-Stiftung ist nach Angaben der WHO zwar der zweitgrößte Spender nach den USA. Die Spende macht aber nur 11,41 Prozent der Finanzierung aus. Weitere 6,49 Prozent des WHO-Etats stammen aus Spenden der Gavi Impfallianz, die zu einem großen Teil von der Gates-Stiftung finanziert wird. Doch selbst, wenn man beide Anteile zusammenrechnet, wäre man nicht einmal annähernd bei den 80 Prozent, die Jebsen behauptet. Die WHO gekauft? Die Millionen Dollar der Gates dürften dazu nicht gereicht haben.

Die Verschwörungsnarrative über Bill Gates befeuerte Jebsen dennoch immer wieder. Am 23. Mai 2020 ging er im Rahmen seiner Serie »Me, Myself and Media« auf die Person und die Stiftung ein. Titel der Folge: »And the winner is … Bill Gates!« Im ergänzenden Artikel heißt es erneut: »(…) bei der WHO gilt Gates als heimlicher Chef. (…) Wenn die WHO eine Impfpflicht empfiehlt, wenn sie auf einen (sic!) Covid-19-Impfstoff besteht, hat Bill Gates erheblichen Anteil an dieser Forderung, denn die WHO ist von Gates-Leuten durchsetzt. Aber auch an der Spitzte der EU beeinflussen Mitarbeiter, die direkt von Gates kommen, die Entscheidungen der Europäischen Kommission. Gates ist überall. Im Kanzleramt sowieso.«

Im November 2020 sperrte YouTube den KenFM-Kanal auf der eigenen Plattform dauerhaft. Innerhalb von 90 Tagen hatte Jeb-sen drei Mal gegen die Community-Richtlinie zu medizinischen Fehlinformationen über Covid-19 verstoßen. Mit seiner eigenen crowdfinanzierten Website KenFM.de ist er jedoch nicht nur für die Querdenken-Bewegung und das Corona-Leugnungsmilieu weiter digital präsent. Dort präsentiert er eine Verschwörung nach der anderen. Der rbb hatte sich bereits 2011 von dem Moderator getrennt, da »zahlreiche seiner Beiträge nicht den journalistischen Standards des rbb« genügten, wie die Programmdirektorin Claudia Nothelle mitteilte. Der Sender habe Jebsen allerdings gegen Vorwürfe verteidigt, Antisemit und Holocaust-Leugner zu sein. Solche Vorwürfe hatte unter anderem Henryk M. Broder erhoben, nachdem Jebsen in einer E-Mail an einen Hörer geschrieben hatte, er wisse, »wer den Holocaust als PR erfunden hat«.

Die Kritik an einem Milliardär und der Art und Weise, wie er sein Kapital einsetzt, dürfte in dem Querdenker:innen- und Co-rona-Leugner:innen-Milieu jene besonders ansprechen, die kapitalismuskritisch sind. Eine besondere Form der Kapitalismuskritik kann sogar besonders anfällig für Verschwörungsfantasien machen. Schon 2013 stellten Roland Imhoff und Oliver Decker in »Verschwörungsmentalität als Weltbild« fest, dass »der allgemeine Glaube daran, dass die Geschicke der Welt von Mächten gelenkt werden, die hinter den Kulissen agieren«, zwar zur »Akzeptanz rechtsextremer Ideologiefragmente« prädisponiere, »der Glaube an Verschwörungen« jedoch mitnichten »ein exklusives Phänomen des rechten Spektrums« sei.

In ihrem Aufsatz, der in dem Sammelband Rechtsextremismus der Mitte – Eine sozialpsychologische Gegenwartsdiagnose, herausgegeben von Johannes Kiess, Elmar Bähler und Oliver Decker, erschien, stellten die beiden als Resultat von Befragungen fest, sowohl die Anhänger:innenschaft von NPD und Republikanern als auch die von Die Linke und Piraten sei »überproportional geneigt, Verschwörungen zu vermuten« – mit Abstand zueinander allerdings. Bei der grafischen Darstellung der Befragungsergebnisse liegen NPD und Republikaner bei einem Wert von über 5, Die Linke bei 4,5 und die Piraten bei über 4,5. Die übrigen im Bundestag vertretenen Parteien liegen hingegen knapp über 4. Gefragt wurde unter anderem nach Zustimmung oder Ablehnung von Aussagen wie: »Die meisten Menschen erkennen nicht, in welchem Ausmaß unser Leben durch Verschwörungen bestimmt wird, die im Geheimen ausgeheckt werden« oder »Politiker und andere Führungspersönlichkeiten sind nur Marionetten der dahinterstehenden Mächte«.

In Anlehnung an Max Horkheimer und Theodor W. Adorno sehen Imhoff/Decker in »extrem personalisierendem Antikapitalismus« nicht nur die Motive für eine Verschwörungsmentalität, sondern auch für eine »antisemitische Ideologie«. Die Mitbegründer der Kritischen Theorie schlossen an den von Karl Marx festgestellten »Fetisch-Waren-Charakter« an, der zu einer besonderen Personifizierung der Kritik führt. In Dialektik der Aufklärung, erstmals 1944 erschienen, schreiben Horkheimer und Adorno: »Der bürgerliche Antisemitismus hat einen spezifischen ökonomischen Grund: die Verkleidung der Herrschaft in Produktion.« Die Herren der Maschinen und des Materials reihten sich »unter die Schaffenden ein, während sie doch die Raffenden blieben«. Dieser von Karl Marx beschriebene Betrug um den Mehrwert werde mit einem ideologischen Gebäude verschleiert. Der Fetisch erfasst die Gesellschaft, ohne den Prozess der Mehrwerterschaffung offenzulegen. Diese Verschleierung kann die Vorstellung nähren, »hinter dem Rücken der Menschen vollzögen unsichtbare Mächte ominöse Vorgänge«, erklären Imhoff/Decker. Das Direktorengehalt und der Arbeitslohn deckten die »raffende Natur des Wirtschaftssystems« zu, führen Horkheimer und Adorno weiter aus. Aber »der Kaufmann präsentiert« im Laden den Lohnabhängigen den Wechsel, er »ist der Gerichtsvollzieher fürs ganze System«.

Die allgemeine Annahme wird mit einer besonderen Annahme erweitert. Im Laden erscheint für den Mehrwertschaffenden ein Verantwortlicher des organisierten Betrugs in der Zirkulationssphäre: der Jude. Horkheimer und Adorno betonen, dass »die Juden« in der Geschichte nicht alleine »die Zirkulationssphäre« besetzt hätten, aber ihnen hafte allzu lang diese Anrüchigkeit an, die Feindschaft und Hass mit hervorrief. Dass ihnen »im Gegensatz« zu ihren »arischen Kollegen der Zugang zum Ursprung des Mehrwerts« lange selbst »verschlossen war«, änderte an den Anfeindungen wenig. Statt der raffenden Kapitalist:innen wurden die Juden zum personalisierten »raffenden Kapital«. Die Kapitalist:innen, obwohl selbst raffend, erschienen hingegen als das personalisierte »schaffende Kapital«.

Imhoff/Decker heben hervor: »Antisemitismus und personalisierte Kapitalismuskritik treten also deswegen gemeinsam auf, weil beide durch eine verschwörungsaffine Weltsicht befördert werden.« Diese Variante der Kapitalismuskritik ist im extrem rechten Spektrum omnipräsent und im linksalternativen Spektrum zumindest virulent. Die selbsternannten Kämpfer:innen für Freiheit und Grundrechte beziehen sich durch Formulierungen und Termini auf »Antisemitismus als kulturellen Code«. Die israelische Historikerin Shulamit Volkov versteht darunter in ihrer gleichnamigen Publikation aus dem Jahr 1978, dass der Antisemitismus für ein »vertrautes Bündel von Auffassungen und Einstellungen« steht, die mit den Juden selbst gar nichts zu tun haben müssen. Vielmehr fungieren sie schon seit dem 19. Jahrhundert als verhasstes »Symbol der modernen Welt«.

Die Studien zur Querdenken-Bewegung deuten nicht auf einen offenen Antisemitismus hin. In Reden oder Publikationen wird nicht »Die Juden sind schuld« verkündet. Wenn aber Markus Haintz bei der Demonstration in Berlin am 1. August 2020 von einer »kleinen Minderheit aus Geldadel« spricht oder Heiko Schrang erklärt: »Die Politik-Darsteller in der Politik, die nichts anderes sind als zeichnungsberechtigte Schriftführer der Pharmaindustrie und der Hochfinanz, diese Leute werden nicht mehr an uns vorbeikommen«, dann sollte man nachfragen: Bitte, wer ist jetzt hier genau gemeint? Denn solche offenen Formulierungen können einen Raum für antisemitische Ressentiments öffnen. Sind »Geldadel« und »Hochfinanz« in der rechtsextremen Szene doch historisch und aktuell synonym für »die reichen Juden«. Die Erwähnung von »den Rothschilds« und »den Rockefellern« erweitern diesen Raum. Die Namen sind Trigger-Worte des Antisemitismus.

Dass diese Bankiers- und Unternehmer:innendynastien als Inbegriff für die Macht und die angeblich sinistren Machenschaften finanzkräftiger Jüdinnen und Juden gelten, daran sind auch Künst-ler:innen und Intellektuelle wie Honoré de Balzac (1799–1850) und Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798–1874) nicht unschuldig. Heinrich Heine (1797–1856), als linker Dichter geachtet und verhasst, schrieb 1841 in Lutetia – Erster Teil über James de Rothschild: »Das Geld ist der Gott unserer Zeit, und Rothschild ist sein Prophet.« Ein Satz, geschrieben nach einem Mittagessen »en familie«, zwischen »Respekt vor diesem Mann« und Ressentiments. Im März 2021 kann dieser Satz auf »Umhängetaschen aus Recyclingmaterial« im Internet bestellt werden. So präsentiert, erscheint der Satz als personalisierte Kapitalismuskritik, die antisemitische Vorhaltungen verstärkt. Die Ambivalenz des Dichters ist perdu. Erst gar keine aufkommen ließ Richard Wagner (1813–1883) in seiner berüchtigten Schrift »Das Judentum in der Musik« (1850): Ein »jerusalemisches Reich« gebe es nur deshalb nicht, weil »Herr v. Rothschild zu geistreich war, um sich zum König der Juden zu machen, wogegen er bekanntlich es vorzog, ›der Jude der Könige‹ zu bleiben«.

Geld, Macht, Einfluss – Weltverschwörung. Das sind die Elemente der antisemitischen Verschwörungsideologie. Die Exponent:innen dieser Verschwörung müssen nicht einmal Juden sein. John D. Rockefeller (1839–1937) etwa, dessen Familie auch bei Corona-Protesten als finstere Macht im Hintergrund dargestellt wird, war Baptist. Die Imagination genügt für die antisemitische Hetze. »Der Antisemitismus ist das Gerücht über die Juden«, postulierte Theodor W. Adorno schon 1951 in Minima Moralia.

Eines der einflussreichsten Pamphlete antisemitischer Verschwörungsfantasien erschien erstmals 1903 im russischen Zarenreich und avancierte zum Longseller: Die Protokolle der Weisen von Zion. Dabei handelt es sich angeblich um Dokumente von einem Treffen jüdischer Führungspersönlichkeiten, die belegen sollen, dass die Juden mit allen Mittel – Lug und Trug, Frieden und Krieg – versuchen, die Welt unter ihre Herrschaft zu bekommen. Schon 1935 wurde zum Abschluss des sogenannten »Berner Prozesses« durch ein Schweizer Gericht festgestellt, dass die »Protokolle« eine »unverschämte, grobe Fälschung« seien. Dem Erfolg tat diese Einschätzung keinen Abbruch: Die Nationalsozialisten bezogen sich darauf, heutige Rechtextreme in Teilen. Und auch islamistische Antisemit:innen greifen auf die »Protokolle« zurück.

Warum sind antisemitische Verschwörungsnarrative in Teilen der Gesellschaft selbst nach Auschwitz noch populär? Detlev Claussen hat 2015 in Grenzen der Aufklärung auf ein Motiv hingewiesen: den individualpsychologischen Gewinn. »Der Antisemit leuchtet in die verborgenen Winkel, er entlarvt, er deckt die Machenschaften auf, er weiß, dass hinter allen Sachzwängen Menschen stecken. Er weiß sie zu benennen: die Juden. Nicht als Individuum, sondern als Prinzip: der Jude.« Auf der Ebene des Individuums funktionieren alle Verschwörungsnarrative so.

Compact und Querdenken

Gerüchte zusammenfassen, Verschwörungsfantasien weiterverbreiten, das gelingt Compact – Magazin für Souveränität Monat für Monat. Katharina Nocun und Pia Lamberty bezeichnen das 66 Seiten starke farbige Magazin in Fake Facts – Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen (2020) als »Zentralorgan für Verschwörungserzählungen«. Mittlerweile könnte man es auch das »Zentralorgan« des Querdenken-Milieus nennen. In einzelnen Ausgaben tauchten dessen Protagonisten als Interviewpartner:innen auf, etwa Thomas Berthold, oder sie liefern Beiträge, wie Oliver Janich. Darüber hinaus hat die Compact-Magazin GmbH mit Sitz im brandenburgischen Werder als Compact Edition 2020 ein Sonderheft »Tage der Freiheit« herausgebracht, in dem auf 122 Seiten Reden und Interviews von den Querdenken-Demonstrationen in Berlin am 1. und 29. August mit Bildern verbreitet werden.

Im selben Jahr erschien in dem Zeitschriftenverlag zudem ein Compact Spezial mit dem Titel: »Die Querdenker – Liebe und Revolution«. Auf 84 Seiten werden Akteur:innen der Proteste porträtiert und interviewt, außerdem einzelne Initiativen und ausgemachte Vordenker:innen vorgestellt. Im Editorial greift Chefredakteur Jürgen Elsässer die Pandemie-Maßnahmen der Bundesregierung an: Die Kanzlerin habe »unsere Lebensweise« unmöglich gemacht. Selbst Gottesdienste seien verboten, was in der 2000-jährigen Geschichte des christlichen Abendlandes noch nie der Fall gewesen sei, »nicht unter Hitler, nicht unter Honecker. Die Reisefreiheit und die parlamentarische Einspruchsmöglichkeit gegen eine selbstherrliche Exekutive – zwei Punkte, die den entscheidenden Unterschied zwischen Bundesrepublik und DDR ausmachten – hat sie ebenso beseitigt. Im Merkel-Staat entscheidet das Politbüro der Virologen, das ZK der Ministerpräsidenten nickt alles ab. Den tiefsten Einschnitt (…) bildet der Vermum-mungsimperativ und das Berührungsverbot: Noch schlimmer als unter dem Scharia-Regime sind bei uns jetzt Männer wie Frauen verhüllt. (…) ›Lieb deinen Nächsten, wie dich selbst‹ (…) ist abgeschafft – der Nächste gilt als Seuchenträger.«

Die politischen Vergleiche dürften kaum als zufällige Entgleisungen eines Autors, der sich in Rage geschrieben hat, gelesen werden. Elsässer weiß, was er schreibt, was er antriggert. Er kennt seine Leser:innenschaft, und sie kennt ihn. Der Leitartikel gibt die Linie des Compact Spezial vor. Schon die Überschrift »Aufstand unterm Regenbogen« deutet Verklärungen an. »Querdenker im Geist von Jesus, von Gandhi, von Q: Corona war nur der Anlass, dass sie sich in Bewegung gesetzt haben. In ihrem Herzen brennen die uralten Sehnsüchte nach Freiheit, Frieden und Gottes Gerechtigkeit«, schreibt Elsässer. Er berichtet von der Demonstration in Berlin am 1. August 2020, wo Michael Ballweg bat, eine »Herzensminute« einlegen zu dürfen, weil er meditiere, und Bodo Schiffmann meditierend auf der Bühne saß: »Schneidersitz, die Unterarme auf den Knien, die Hände geöffnet.« Dass »Hippies und Patrioten« zusammen auf der Straße gewesen seien, dass »indische und germanische Elemente« sich vereint hätten, stört Elsäs-ser nicht. Er betont die Allianzen. Denn für ihn sind die politischen Klassifizierungen rechts und links schon länger obsolet.

Diese Aufhebung kann bei Elssäser auch dazu dienen, seinen eigenen politischen Werdegang zu legitimieren. Denn er ist links gestartet, wie auch andere in der Querdenken-Szene und der Co-rona-Leugnungsbewegung. Vom Kommunistischen Bund (KB) kommend, war er von 1975 bis 2008 Autor, Redakteur und Herausgeber links ausgerichteter Medien: Arbeiterkampf, Bahamas, jungle world, junge Welt, konkret und neues deutschland. Weil er 1990 im Arbeiterkampf einen Artikel mit dem Titel »Warum die Linke antideutsch sein muß« veröffentlicht hat, gilt er als Initiator der »antideutschen« Strömung. Heute allerdings ist ihm die Beteiligung an der Demonstration »Nie wieder Deutschland« am 12. Mai 1990 in Frankfurt am Main »mächtig peinlich«. Wie kam es zu dieser Abkehr vom Links-Sein?

Ein bestimmtes Datum oder Thema, das den Wandel ausgelöst hat, lässt sich nicht ausmachen. Es scheinen mehrere Momente zusammengekommen zu sein. Nach dem Terrorangriff am 11. September 2001 in New York durch al-Qaida zweifelte Elsässer die »offizielle Version der Anschläge« an, später lehnte er den Irakkrieg ab. Wer jetzt keine antiamerikanischen Zuckungen habe, sei hirntot oder gekauft, soll er gemeint haben. Mit dem damaligen konkret-Herausgeber Herman L. Gremliza (1940–2019) stritt er 2002 beim Irakkrieg, da dieser meinte, im Falle eines irakischen Angriffs auf Israel müsse die Linke einer deutschen Beteiligung an der Beseitigung des Regimes von Diktator Saddam Hussein zustimmen. 2006 geriet Elsässer bei der jungen Welt in die Kritik, weil er die Regierungskoalition in der Slowakei zwischen sozialdemokratischer Smer-Partei und der als rechtsradikal geltenden Slowakischen Nationalpartei begrüßte – immerhin wolle diese sich dem Neoliberalismus widersetzen. Der Konflikt spitzte sich zu, als er nach den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus im September 2006 über die Linke anmerkte: »Mit Staatsknete wird Multikulti, Gendermainstreaming und die schwule Subkultur gefördert, während die Proleten auf Hartz IV gesetzt werden.«

Im Januar 2009, mitten in der Finanzkrise, startete Elsässer eine »Volksinitiative gegen das Finanzkapital«. In dem Aufruf hieß es: »Die aktuell einsetzende Depression ist das Ergebnis eines bewussten Angriffes des anglo-amerikanischen Finanzkapitals auf den Rest der Welt.« Hauptaufgabe der Linken müsse der »Aufbau einer Volksfront sein, die das national bzw. ›alt-europäisch‹ orientierte Industriekapital einschließt«. Vom Klassenkampf wollte der einstige Klassenkämpfer Elsässer jetzt nichts mehr wissen. Der Applaus von der NPD folgte – und die Kündigung vom neuen deutschland, wo er mittlerweile gelandet war.

Elsässer, der auch 14 Jahre Gymnasiallehrer war, nahm 2020 in dem Leitartikel in der Compact Spezial und einem weiteren in der September-Ausgabe von Compact (»Revolution der Herzen«) eine grundsätzliche Positionsbestimmung vor. Elsässer recycelt gern Artikel, nutzt Textbausteine mehrfach. So heißt es in beiden Artikeln: »Die Epoche des Klassenkampfes ist passé, weil die gesellschaftliche Spaltung eine andere geworden ist als in den letzten 150 Jahren. Seit Beginn der Globalisierung stehen sich nicht mehr Proletarier und Kapitalisten gegenüber, sondern, wie im Mittelalter, die 99 Prozent der Schaffenden gegen das eine Prozent Ausbeuter. Herrschten damals die Blutdynastien, also die Habsburger, Tudors und Romanoffs, über den Rest, so sind es heute die Gelddynastien, also die Rothschilds und Rockefellers, Blackrock und Soros. Und so wenig man im Mittelalter von links oder rechts sprechen konnte – Wilhelm Tell, Robin Hood, Jan Hus oder Thomas Müntzer waren Vertreter des Volkes gegen die Eliten, aber gewiss keine Kommunisten –, so wenig sollte man es heute, wenn man die Dinge voranbringen will.« Vier Jahre zuvor hatte er sich in einer Compact Spezial »Zensur in der Presse« ganz ähnlich geäußert.

Wer die Kategorien Links und Rechts allerding für obsolet erachtet, missachtet die Differenzen. Diese Ausblendung fällt bei vermeintlichen Selbstverortungen von »Mitte« oder »Vorne« immer wieder auf. Links ist nicht gleich Rechts und Rechts nicht gleich Links. Das bedeutet nicht, wie Ernst Jandl (1925–2000) 1966 in »Lichtung« dichtete: »manche meinen / lechts und rinks / kann man nicht velwechsern / werch ein Illtum«. Der italienische Rechtsphilosoph Norberto Bobbio (1909–2004) hat in Rechts und Links die »Gründe und Bedeutungen einer politischen Unterscheidung« ausgeführt. Die »Menschen sind untereinander so gleich, wie sie ungleich sind«, schreibt er, aber Links und Rechts ließen sich danach unterscheiden, inwieweit das Gleiche oder das Ungleiche hervorgehoben werde. Die Pole seien »egalitär« oder »antiegalitär«. »Die Rechte« vertrete nicht die Idee, dass alle Menschen die gleichen Rechte haben sollten. »Die Linke« dagegen strebe nach diesem Ideal, indem sie die »drei Hauptursachen für die Ungleichheit, nämlich Klassen, Rasse und Geschlecht, äußerst kritisch hinterfragt«. »Nieder mit der Gleichheit«, sei eine Parole »der Rechten«, die mehr bedeute als: »Es lebe der Unterschied.« Nein, es bedeute: »Es lebe die Ungleichheit«, so Bobbio 1994.

»Jürgen Elsässer ist der Revolutionär von einst geblieben«, sagt der Rechtsextremismus-Experte Volkmar Wölk, der ihn von früher persönlich kennt. Elsässer habe aber »sein revolutionäres Subjekt ausgetauscht. An die Stelle des Proletariats ist die Nation getreten. Und Deutschland wird zur proletarischen Nation erklärt«, sagt Wölk. So ist Elsässer ganz weit rechts angekommen. Mit dem neurechten Betreiber des Antaios Verlags Götz Kubi-tschek und dem AfD-Landtagsabgeordneten in Sachsen-Anhalt Hans-Thomas Tillschneider hat er den Verein »Ein Prozent für unser Land« gegründet. Eine »Art ›NGO‹« für Deutschland, schrieb Kubitschek, der auch das »Institut für Staatspolitik« in Schnellroda prägt. Die rechtsextreme Identitäre Bewegung unterstützte den Verein finanziell. Institut und Verein werden seit 2020 vom Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) als Verdachtsfall einer rechtsextremen Ausrichtung und Vernetzung beobachtet. Auch die Zeitschrift Compact hat das BfV als Verdachtsfall eingestuft. »Das Magazin bedient sich revisionistischer, verschwörungstheoretischer und fremdenfeindlicher Motive«, erklärte BfV-Präsident Thomas Haldenwang am 12. März 2020.

Die Bewertung hat das Zusammengehen von Compact-Redak-tion und Querdenken-Szene oder Corona-Leugnungsbewegung nicht gebremst. Nach der Einschätzung erschienen die Publikationen mit den Akteur:innen der Bewegung. Für sie mag die Bewertung des Bundesamtes irrelevant sein, befeuert das Magazin doch viele Verschwörungsfantasien, die in der Bewegung virulent sind. »Die Bilderberger«, die »Israel-Lobby« oder die »Lügenpresse«: Kein politisches Geschehen, keine ökonomische Entwicklung, wo nicht irgendjemand im Hintergrund die Strippen zieht. Immer wieder wird nahegelegt, die Bundesrepublik unterliege einer Fremdherrschaft. Das »dunkle Geheimnis der Wall Street« weiß die Redaktion aufzuhellen: Das »internationale Finanzkapital und die Wall Street« hätten den Aufstieg der Nationalsozialisten forciert.

QAnon und Anti-Establishment

Im Dezember 2020 konnte die Redaktion ihr zehnjähriges Bestehen feiern. Der Ton des Magazins kommt an – auch im Internet. Zwei Millionen Websitebesucher:innen im Monat will man haben und Zehntausende Aufrufe bei YouTube. Mit Compact TV ist die Redaktion nicht minder bei YouTube präsent. Binnen 15 Stunden hatte das Video »Läßt sich der ewige Lockdown noch stoppen« mit Amseln Lenz aus dem Querdenken-Milieu im April 23 396 Aufrufe. Online können Fanartikel bestellt werden. Mit dabei: ein Button mit einem »Q«, ergänzt mit dem Zusatz »Querdenker«. Der Preis für das »Erkennungszeichen der neuen Freiheitsbewegung«: drei Euro.

Die Gestaltung des Q erinnert allerdings an die des entsprechenden Buchstabens im Schriftzug »QAnon«. Das ist der Name einer Bewegung aus den Vereinigten Staaten. Bei den Corona-Protesten ist dieses Q immer wieder auf Plakaten und T-Shirts zu sehen. Auch der Schwur der Bewegung »Where we go one, we go all!« (grob übersetzt: »Einer für alle, alle für einen«) ist als Aufdruck und Hashtag #WWG1WGA präsent. QAnon hat seinen Ursprung im Internet. Am 28. Oktober 2017 postete ein User unter dem Namen »Q Clearance Patriot«, Kurzform »Q«, auf dem Imageboard »4chan« einen ersten Beitrag. Schon vorher posteten User:innen hier misogyne und rechtsextreme Positionen. »Q Clearance« ist die höchste Stufe der Zugangsberechtigung zu streng geheimen oder brisanten Daten, die das US-Energieministerium vergibt. Der Nutzer behauptete also, ein ranghoher Regierungsangestellter mit Zugang zu solchen Informationen zu sein, der nicht länger schweigen könne. »Anon« steht dabei für »Ano-nymous«. Es ist allerdings umstritten, wie viele Personen hinter »Q« stecken. Jedenfalls erschienen laut New York Times bis Ende August 2020 fast 3500 Posts von »Q«, die die Anhänger:innenschaft als »Drops« bezeichnen.

Das zentrale Narrativ: Ein geheimes Netzwerk, das Kinder quäle und missbrauche, strebe die Weltherrschaft an. Die Mitglieder des Netzwerks, das »Q« ausgemacht haben will, sollen nicht bloß Politiker:innen und Agent:innen sein, sondern auch Wirtschaftsgrößen und Stars aus der Film- und Musikindustrie. »Q« wusste darüber hinaus, dass ein »Deep State« innerhalb des US-Regierungsapparates versuche, Donald Trump zu stürzen, dieser sich dem Netzwerk aber entgegenstelle. Bei der QAnon-An-hänger:innenschaft ist der ehemalige US-Präsident ein Held, der für die Wahrheit kämpft.

»Q«s Posts bestehen aus kryptischen Texten und vagen Hinweisen, mit der Aufforderung, selbst weiter zu recherchieren. »Die QAnon-Bewegung ist geschickt darin, die Lebenskrisen der Menschen, die nach einfachen Erklärungen suchen, aufzugreifen, und so entsprechende Verschwörungsmythen zu verkaufen«, schreibt das »Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus e.V.« (JFDAeV) in der Broschüren: QAnon: Eine weltweit verbreitete antisemitische Verschwörungsideologie mit historischen Wurzeln (2020). Für jeden sei »quasi etwas dabei«. So tauchen auch Motive auf, die man aus Querdenken-Kontexten kennt: »Das Abwechseln von Leugnen und Verharmlosen« des Co-ronavirus findet sich ebenso wie die Behauptung einer »Zwangs-verchippung«, einer Vernichtung der weißen Menschen oder einer »Versklavung« der gesamten Bevölkerung. Verantwortlich dafür sollen Kommunist:innen oder Illuminat:innen sein. Die angeblichen Pläne, wie nun bei einer Verchippung Mikrochips in den menschlichen Körper kommen sollen, sind vielfältig. Eine Erzählung: durch Impfung.

Solche Verschwörungsmythen reproduzierten antisemitische Stereotype, schreibt das JFDAeV. Bestimmte Elemente in den Erzählungen von QAnon lassen sich bereits in den Protokollen der Weisen von Zion finden, besonders, was die Art der angeblich bevorstehenden Diktatur angeht: Die Masse der Bevölkerung werde vollständig manipuliert in einem stumpfsinnigen Glück dahinleben. Dass die Jüd:innen Corona erfunden hätten, wird zwar nicht einfach behauptet, aber es werden »codierte Namen von (jüdischen) Persönlichkeiten und Organisationen genannt«.

Ein Begriff, der in der Bewegung ständig herumgeistert, ist »Adrenochrom«. Dabei handelt es sich um ein Stoffwechselprodukt von Adrenalin, aus dem sich nach dem Glauben der QAnon-Anhänger:innen Heilmittel und Verjüngungskuren entwickeln lassen, aber nur, wenn der Stoff von Kindern stammt. Tatsächlich kann der Stoff im Labor hergestellt werden und ist online erhältlich. Auch diese Erzählung ist keine harmlose Spinnerei: Sie »ist direkt abgeleitet von den christlichen Ritualmordlegenden, denen viele tausend europäische Jüd:innen im Mittelalter zum Opfer gefallen sind«, hebt das JFDAeV hervor. Den Legenden nach entführen Jüd:innen christliche Kinder, um mit deren Blut religiöse Rituale zu vollziehen.

In Deutschland wurde QAnon auch durch Xavier Naidoo bekannt. Anfang April 2020 verbreitete er ein Video, in dem er weinend erklärte, dass »in diesen Momenten in verschiedenen Ländern der Erde Kinder aus den Händen pädophiler Netzwerke befreit« würden, und rief dazu auf, online nach »Adrenochrom« zu suchen. Die Suchanfragen nach dem Begriff vervielfachten sich daraufhin bei Google.

Inzwischen hat sich die Bundesrepublik zu einem Hotspot der Bewegung außerhalb der Vereinigten Staaten entwickelt. Das kann das JFDAeV an einer ganzen Reihe von Zahlen festmachen. Nach einer Untersuchung des Institute for Strategic Dialogue in London etwa wurden hierzulande auf Twitter vom November 2019 bis Juni 2020 alleine 64 000 Tweets mit QAnon-Bezug abgesetzt. Weltweit liegt die Bundesrepublik damit an fünfter Stelle, jedoch auf Platz 1 bei den nicht-englischsprachigen Ländern. Und dem Rechercheportal NewsGuard zufolge kommen von den 448 000 Follower:innen ausgewählter QAnon-Seiten in Europa die meisten aus Deutschland: 200 000 Accounts. Bei Telegram haben die Kanäle der Verschwörungsbewegung, wie »Frag uns doch«, »WWG1 WGA« und »Qlobal-Change«, zwischen 10 000 und 200 000 Follower:innen.

»Qlobal-Change« ist der wohl erfolgreichste deutschsprachige Kanal; er verbreitet vor allem Übersetzungen US-amerikanischer Inhalte. Seine YouTube-Videos haben mehr als 18 Millionen Menschen gesehen. Mit Beginn der Pandemie-Maßnahmen konnte er seine Abonnent:innenzahl um 323 Prozent steigern. Auf YouTube wurde »Qlobal-Change« allerdings gelöscht. Die Videos können jetzt bei BitChut gefunden werden. Auf dem Portal werden regelmäßig rechtsextreme und rechtsterroristische Inhalte verbreitet.

Xavier Naidoo war nicht der Erste im deutschsprachigen Raum, der QAnon aufgegriffen hat. Schon 2017 verfasste Oliver Janich auf seinem Blog den ersten Beitrag zu QAnon, also bald, nachdem die Verschwörungserzählung aufgekommen war und lange vor Ausbruch der Pandemie. Der rechte Blogger, der kurz für Focus Money tätig war und auf den Philippinen lebt, hat auch schon Verschwörungsnarrative zu 9/11 verbreitet und veröffentlich weiterhin Corona-Relativierungen. Ein weiterer wichtiger Multiplikator von QAnon im deutschsprachigen Raum ist nach Recherchen von WDR, NDR und der Süddeutschen Zeitung ein Programmierer aus Berlin, der sich »Resignation Anon« nennt und einen Tele-gram-Kanal unterhält. Julia Ebner, Forscherin am Institute for Strategic Dialogue, hält »Resignation Anon« für einen der ersten deutschen »Q«-Unterstützer – und für einen der möglicherweise wichtigsten. Gegenüber tagesschau.de erklärte sie am 26. Oktober 2020: »›Resignation Anon‹ ist ein Account, der die technische Basis bereitstellt für die Bewegung, also die Infrastruktur aufgebaut hat und auch für das internationale Netzwerken verantwortlich ist.« Ein Telegram-Kanal, der allein 126 000 Abonnenten hat, würdigte »Resignation Anon«.

Warum ist eine Verschwörungserzählung, die zunächst sehr amerikanisch und auf amerikanische Gegebenheiten bezogen erscheint, auch im deutschsprachigen Raum populär? Eine Erklärung könnte sein, dass sie an antiamerikanische Ressentiments anknüpft, sie aber wenigstens teilweise auch transformiert. Die amerikanische Besatzung in Teilen Westdeutschlands nach 1945, die den »American way of life« mit Konsumkapitalismus und Rock ’n’ Roll ins eigene Land brachte, weckte im deutschen Bildungsbürgertum früh Sorgen vor einem Verlust der eigenen Kultur und Identität. Bereits in der 68er-Bewegung findet sich jedoch eine ambivalente Haltung gegenüber den Vereinigten Staaten. Einerseits wurden sie als führende Kraft des Imperialismus ausgemacht, gegen den man sich wandte; die Bilder des Vietnamkrieges trieben die Studierenden auf die Straße. Andererseits wurden sie vom Lebensgefühl der Protestbewegung und der Gegenkultur in den USA, von den Beatniks und Hippies, von Jazz und Rock beflügelt.

Der Liedermacher Franz Josef Degenhardt (1931–2011) fasste diese beide Momente 1973 in »Ja, das ist die Sprache der Mörder« zusammen. Nach der gleichlautenden Anfangszeile geht das Lied weiter: »die in fliegenden Festungen / bei Kaffee / Coca / Country-und Rockmusik / von ihren Mädchen sprechen / über Haiphong / oder irgendwo über Laos / (…) den Knopf drücken / okay sagen. / Aber es ist auch die Sprache / von Angela Davis / und Charlie Parker / und Luther King / und von Millionen, / die schreien / und sprachlos schweigen, / die Sprache der Lieder, / die wir gern hören. / Bei aller Wut – / Vergeßt das nicht.«

Diese Differenzierung ging im linken Spektrum häufig verloren, Antiimperialismus und Antiamerikanismus gingen Hand in Hand. Aber nicht oft, wenn man Michael »Bommi« Baumann (1947–2016) liest. Gegenüber Spiegel Online sagte der ehemalige Haschrebell und Bombenleger am 22. November 2007, dass mit der Parole »USA, SA, SS!« »natürlich die Politik der Regierung der USA in Vietnam gemeint« gewesen sei und »nicht das ganze Land«. Solche Parolen seien in ihrer »Verkürzung natürlich Wahnsinn«. Und er betonte: »Es gab vor den 68ern keine Generation in Deutschland, die so viele Einflüsse aus Amerika aufgenommen hat und so stark durch die amerikanische Kultur geprägt wurde.«

Diese kulturelle Affinität ist auch das Hauptunterscheidungsmerkmal zum Antiamerikanismus im rechten Spektrum. Dort haben Affekte und Ressentiments gegen die Vereinigten Staaten eine lange Tradition, in jüngerer Zeit wurde das Land vor allem als »Besatzungsmacht« und wegen seiner multikulturellen Gesellschaft abgelehnt. In der Popularität von QAnon hierzulande drückt sich aber ein neuer, positiver Bezug auf die USA aus, der wesentlich damit zu tun hat, dass Donald Trump bei deutschen Rechtsradikalen als eine Art Heilsbringer gesehen wird, wie Miro Dittrich von der Amadeu Antonio Stiftung es gegenüber der New York Times ausdrückte. Matthias Quent, Leiter des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena, wird von der Zeitung mit der Formulierung zitiert, es gebe eine regelrechte »Trumpi-fizierung der äußersten Rechten«. Trump habe es in Deutschland ebenso wie in den USA geschafft, verschiedene Milieus hinter sich zu scharen, von den Impfgegnern bis hin zu Rechtsextremen. Sie alle protestieren unter dem »Q«-Banner gegen die Pandemie-Po-litik. Trotz teilweise gravierender Differenzen untereinander gibt es eine große Gemeinsamkeit: die Ablehnung des politischen, kulturellen und medialen »Establishments« oder »Mainstreams«. Und Trump, so Quent, ist für sie der Mann, der gegen dieses Establishment vorgeht. Genau diese Rolle spielt er in der Ideologie von QAnon.

Diese neue Amerikabegeisterung in der deutschen Rechten bedeutet also, dass ein reaktionäres Amerika begrüßt und ein liberales Amerika angefeindet wird. Menschen gehen gegen »die da oben« auf die Straße und verehren eine Autorität, die angeblich »für sie« ist. Schon die ersten Studien zum »autoritären Charakter« haben die Hinwendung zu »falschen Propheten« (Leo Löwenthal) als ein wesentliches Merkmal ausgemacht. Sie wiesen auch auf die eigentümliche Verbindung von Rebellion und Unterwerfung hin. In Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches unterschied Erich Fromm beim »autoritären Charakter« zwei »Untergruppen«: den »konservativ-autoritären Typus« und den »rebellisch-autoritären Typus«. Der konservative Typus ordne sich grundsätzlich einer Autorität unter, beispielhaft dafür stehe das Kleinbürgertum des Wilhelminischen Kaiserreichs. Dieses »Kleinbürgertum« habe keine »rebellischen Empfindungen«, und wenn doch, dann »schlummerten« sie »tief verborgen«.

Mit der »Veränderung der wirtschaftlichen und politischen Stellung des Kleinbürgertums, dessen Ersparnisse in der Inflation von 1921/23 verfielen«, habe, so Fromm 1929, jedoch der »zuvor unterdrückte rebellische Impuls eine starke Intensivierung« erfahren. In der Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg gingen »konservativ-autoritäre« Charaktertypen über in einen »rebellisch-autoritären Charaktertypen«, sowohl im »Kleinbürgertum« als auch bei der »jungen Generation«. In jener Zeit seien die »rebellisch-autoritären Charaktertypen häufig« in die linken Parteien eingetreten. »Die Linke« war für sie attraktiv, »weil sie den Kampf gegen eine bestehende Autorität repräsentierte«, die als schwach und nicht schützend eingeschätzt wurde. »Anderen Zielen, wie Glück, Freiheit und Gleichheit, standen sie jedoch gleichgültig gegenüber«, führte Fromm weiter aus. »Auch der Nationalsozialismus öffnete Ventile für rebellische Gefühle, mit dem Unterschied allerdings, dass die von ihnen bekämpften Machtsymbole und Autoritäten die Weimarer Republik, das Finanzkapital und das Judentum waren. Gleichzeitig etablierte die neue Ideologie auch neue Autoritäten: die Partei, die rassistische Gemeinschaft und den Führer.« Zwei gegenläufige Bedürfnisse wurden so befriedigt: die »rebellischen Tendenzen« und die Sehnsucht nach »umfassender Unterordnung«.

Diese Analyse trifft auch auf gegenwärtige Phänomene von den vermeintlichen »Wutbürger:innen« bei Pegida und AfD bis zu den Querdenker:innen zu. Sie alle rebellieren gegen Autoritäten, um sich neuen Autoritären unterzuordnen. In der Querdenken-Bewegung und dem Corona-Leugnungsmilieu können es politische und spirituelle Autoritäten sein.

Dafür steht beispielsweise Jake Angeli, seit der Erstürmung des Kapitols möglicherweise das weltweit bekannteste Gesicht von »QAnon«. Eine Fellmütze mit Hörnern auf dem Kopf, freier Oberkörper, sodass Tattoos wie ein großer Thorshammer zu sehen sind, in den Händen ein Speer und ein Megafon, so ist er auf Fotos abgelichtet. Er selbst bezeichnet sich als »QAnon-Schamane« und behauptet: »Q sent me.« Germanische Mythologie, Schamanismus und ein antiautoritärer Habitus verbunden mit einem autoritären Charakter. In Angelis Social-Media-Profilen fand die FAZ ein Foto von ihm ohne Verkleidung beim Handschlag mit Trumps Anwalt Rudy Giuliani in Arizona. Selbst wenn Angeli Giuliani den Handschlag aufgenötigt haben sollte, zeigt das Foto, dass er die Nähe zur Entourage des QAnon-Idols suchte.

Der Sturm auf das Kapitol durch QAnon-Inspirierte, bei dem vier Trump-Anhänger:innen und ein Polizeibeamter starben und 56 Polizist:innen verletzt wurden, war nicht die erste militante Aktion aus diesem Milieu rechter Verschwörungsanhänger:innen. Noch bevor »Q« online in Erscheinung trat, zog Edgar Maddison Welch los. Am 4. Dezember 2016 fuhr er schwer bewaffnet von seinem Wohnort Salisbury in North Carolina nach Washington D. C. Er stürmte in die Pizzeria »Comet Ping Pong« und schoss um sich, weil er Kinder aus dem Keller befreien wollte, die dort, so glaubte er, von einem Kinderporno-Ring gefangen gehalten wurden. Im damaligen US-Wahlkampf war diese Verschwörungsfantasie unter dem Schlagwort »Pizzagate« allgegenwärtig. Ihr zufolge waren hochrangige Politiker:innen der Demokratischen Partei und nicht zuletzt Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton in den angeblichen Ring involviert.

Welch verletzte glücklicherweise niemanden. In der Bundesrepublik waren die Schüsse tödlich. Am 9. Oktober 2019 wollte Stephan B. am höchsten jüdischen Feiertag in der Synagoge von Halle möglichst viele Gläubige töten. Eine solide Holztür verhinderte, dass der Rechtsextreme sein Vorhaben in die Tat umsetzen konnte. Im Hass- und Mordwahn erschoss er aber zwei Menschen, auf die er zufällig getroffen war. Im Internet trieb Stephan B. sich auch auf Imageboards herum, auf denen auch »Q«-Accounts Beiträge veröffentlichen.

Auf solchen Imageboards verkehrte auch Tobias R. Generell finden sich in seinen Statements Motive von QAnon und »Pizzagate«. Tobias R. sah eine von staatlichen Akteuren getragene Kin-desmisshandlung und sprach von einer unsichtbaren Geheimgesellschaft von Teufelsanbetern, die kleine Kinder misshandelten. Trump war für ihn ein Kämpfer gegen diese Geheimgesellschaft. Am 19. Februar 2020 tötete der Rechtsextreme mit starkem Hang zu Verschwörungsnarrativen in Hanau zehn Menschen.

Die Verbindung von Rechtsradikalismus, Verschwörungstheorien und Protesten gegen die Pandemie-Maßnahmen versinnbildlichen Fahnen und Schilder mit zusammengesetzten Motiven, die bei den Demonstrationen zu sehen sind. In Berlin wehte am 29. August eine Reichsfahne mit Trump-Konterfei und QAnon-Logo, auch wurde ein Schild mit »Wir sind Q« und »WWG1WGA« gezeigt. Die Referenzen sind offensichtlich. Michael Ballweg sieht das aber ganz anders. In Berlin erklärte er in Bezug auf die »Q«-Parole »Where we go one, we go all«, er habe seine eigene Interpretation: »Wenn wir uns vereinen, dann entsteht eine Kraft, die unaufhaltbar ist.« Für ihn stehe »Q« für das englische Wort »question«, es beziehe sich also auf »eine Gruppe von Fragestellern, die uns zum Nachdenken, Recherchieren anregen. Weil Querdenken heißt für mich Eigenverantwortung, Selbstbestimmung, Liebe, Freiheit, Frieden und Wahrheit.«

Demokratischer Widerstand und Rubikon

»Eine offene Debatte« möchte Anselm Lenz führen – jenseits von links und rechts. Der Dramaturg und Journalist hat einen ähnlichen politischen Hintergrund wie Elsässer. Er gehört der linksliberalen Kunst- und Theater-Boheme an, ist in kapitalismuskritischen Projekten engagiert und publizierte in der jungen Welt und der taz. Am 28. März 2020 hat er – schon vor der Querdenken-Bewegung – in Berlin eine erste »Hygiene-Demonstration« organisiert. Außerdem ist er Mitgründer und Mitherausgeber der Wochenzeitung Demokratischer Widerstand, die von der Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand e.V. getragen und bei den Querdenken-Aktionen regelmäßig verteilt wird. Nach eigenen Angaben liegt die Auflage bei »mindestens 100 000 Exemplaren«.

In ihrer auf den 29. August 2020 datierten Ausgabe mobilisierte die Zeitung für die Demonstration am selben Tag. Die Redaktion mit Sitz in Berlin gab Verhaltenstipps, lieferte einen Stadtplan für die Demonstration und verkündete gleich auf der Titelseite farblich unterlegt: »Die Fake-Pandemie ist vorüber: Am heutigen Tag beginnt die Rückbindung unseres Politik- und Wirtschaftssystems an die Menschen. Die Deutschen verständigen sich neu auf Basis des Grundgesetzes.« Schon die Bezeichnung »Fake« deutet weitere Narrative an, die mit der Wortwahl in den Artikeln bekräftigt werden. Die Überschrift des Leitartikels auf der Titelseite etwa »1989–2020. Die friedliche Revolution wird vollendet« lässt sich so verstehen, dass das Aufbegehren der DDR-Bevölkerung für mehr Demokratie fortgeführt werden soll. Das impliziert jedoch, dass DDR und Bundesrepublik gleichermaßen diktatorische Regime seien. Tatsächlich ist »DDR 2.0« in dieser Bewegung eine gängige Verunglimpfung der Bundesrepublik.

Der Diktaturvergleich bezieht sich unter anderem darauf, dass hierzulande keine Meinungsfreiheit bestehe. Es sei die »political correctness« (pc) zusammen mit der im Internet herrschenden »Cancel Culture«, die offene Diskussionen unterbinde. Diesem Konstrukt einer totalitären Meinungsdiktatur lässt sich mit guten Gründen vorwerfen, selbst tendenziell totalitär zu sein. Denn wo eine Tabuisierung des Sagens oder Denkverbote beklagt werden, geht es eigentlich um Kritik am Gesagten. Die Denunziation von »pc« bedeutet daher meist den Versuch, sich gegen Kritik an den eigenen Positionen zu immunisieren. Eine Kritik, die Kritik delegitimiert.

Der namentlich nicht gekennzeichnete Leitartikel, der somit als Meinungsäußerung der Redaktion gelten muss, lässt keine Zweifel, wie er die Bundesrepublik beziehungsweise die Bundesregierung bewertet: »Das verfassungsbrüchige Corona-Notstandsregime ist ein faschistischer Griff zur Macht.« Die Akteur:innen dieses »faschistischen Griffs« werden benannt: »Internetkonzerne, Banken, Pharmalobby im Verbund mit vielen Regierungen, Parteien und korrumpierte Gewerkschaften.« Aus einer berechtigten Lobbyismus-Kritik wird eine »Superverschwörungstheorie«. So nennt es Michael Butter in »Nichts ist, wie es scheint«. Über Verschwörungstheorien (2020), wenn Ereignis- und Systemverschwörungen zu einem Konglomerat verschmelzen.

Solche Theorien wurden durch die Korruptionsaffären um den CDU-Bundestagsabgeordneten Nikolas Löbel und den CSU-Bundestagsabgeordneten Georg Nüßlein im März 2021 befeuert. Lö-bel soll mit seiner Firma eine Provision von etwa 250 000 Euro erhalten haben, weil sie Verträge zwischen einem Lieferanten und zwei Privatunternehmen vermittelte. Er räumte eine Beteiligung an umstrittenen Geschäften mit Corona-Schutzmasken ein, verließ Partei und Fraktion und kündigte an, sein Bundestagsmandat niederzulegen. Nüßlein geriet ebenfalls wegen Geschäften mit Masken in die Kritik. Die Münchener Generalstaatsanwaltschaft ermittelt gegen ihn wegen des Anfangsverdachts der Bestechlichkeit und der Bestechung von Mandatsträgern. Das Amt des stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden hat er niedergelegt, die Partei verlassen und erklärt, nicht mehr für den Bundestag zu kandidieren. Sein Mandat wolle er aber bis zum Ende der Legislaturperiode behalten, da er erwarte, dass der Anfangsverdacht widerlegt werde, schrieb die Süddeutsche Zeitung am 8. März 2021. Der politische Schaden darf als immens betrachtet werden. Möglicherweise korrupte Politiker:innen lassen das Vertrauen in das politische System sinken und die Anfälligkeit für Verschwörungsfantasien steigen.

Anselm Lenz als führender Kopf hinter Demokratischer Widerstand kritisiert jedoch nicht nur Kapitalismus und Lobbymacht, er greift auch die linken Parteien scharf an. In einem Gespräch mit Jürgen Elsässer, das die Compact Spezial am 23. November 2020 veröffentlichte, führte er aus, die SPD versage schon seit 106 Jahren (also seit der Bewilligung der Kredite für den Ersten Weltkrieg), dass aber in der Pandemie-Krise Linke und Grüne ebenso versagen würden, sei nicht abzusehen gewesen. Gemeint ist offenbar, dass beide Parteien keine Fundamentalopposition gegen die Pan-demie-Politik der Bundesregierung betreiben. Er selbst scheint ebenso wenig wie führende Querdenker:innen ein Gesprächsangebot von einem Magazin mit verschwörungstheoretischen und fremdenfeindlichen Motiven für problematisch zu halten. Grenzen des Tolerierbaren werden überschritten.

Lenz sorgt etwas anderes. »Ich habe schlichtweg kein Interesse an dieser Form einer neofeudalistischen Klasse und ihrer Liebesdiener, die sich da in urbanen Räumen ranwanzen und wirklich sämtliche zivilisatorischen Errungenschaften über Bord werfen«, sagte er mit Blick auf die Grünen und Die Linke. Eine Aussage, die stark an die von Elsässer erinnert, wonach Die Linke sich zu wenig um die »Proleten auf Harz IV« kümmere. Interviewer und Interviewter scheinen sich denn auch im Gespräch prächtig zu verstehen. Der Text ist eine gekürzte Fassung des Gesprächs, das für Compact TV am 23. November 2020 aufgezeichnet wurde.

Zu den Linken im Allgemeinen und den Grünen im Besonderen stellt Lenz fest: »Es sind schlichtweg keine Linken mehr, insbesondere die Rich Kids bei den Bündnisgrünen, die ich inzwischen tatsächlich als halbfaschistische, präfaschistische Partei bezeichnen würde.« Robert Habeck, einer der Parteivorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen, sei der »hilflose Versuch, Führer-Imitation zu machen«. Auch hier also sind die »Faschisten« aufseiten der politischen Gegner zu finden, sind die Begriffe »links« und »rechts« in Unordnung geraten beziehungsweise obsolet geworden. Lenz schwebt daher vor, »Stimmen von links und rechts« aufzuarbeiten, »um zu einer Klärung zu kommen«. Selbstverständlich seien sie »gegen Rechtsextremismus und Rassismus«, doch durch entsprechende Vorwürfe werde ein »Punching Ball installiert, im Grunde ein Feindbild konstruiert«, das »sich so in der Welt nicht wiederfindet«. So fragt er rhetorisch: »Sind Rechte gerade dabei, antisemitische, judenfeindliche Pogrome auszulösen?« Und antwortet: »Das ist schlicht nicht der Fall. Im Gegenteil.«

Nein, Pogrome wie in der Geschichte erleben jüdischen Menschen tatsächlich in der Gegenwart nicht. Lenz’ Aussagen blenden jedoch aus, wie gefährlich es für Jüd:innen in Deutschland derzeit ist. Der versuchte Anschlag auf die Synagoge in Halle ist ein Indiz für den gestiegenen Antisemitismus in der Bundesrepublik. Im Februar 2021 antwortete die Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Bundestagsfraktion Die Linke, dass im Jahr 2020 »bislang 2275 judenfeindliche Straftaten registriert« worden seien – der höchste Wert seit 2001. Zuvor hatte die Polizei solche Straftaten innerhalb der Kategorie »Politisch Motivierte Kriminalität« nicht extra erfasst. Für 2020 meldete die Polizei insgesamt 23 080 Straftaten von rechts – der zweithöchste Wert seit 2001. Die Zahlen dürften noch steigen, denn polizeiliche Nachmeldungen sind die Regel.

Angesichts von Lenz’ verbaler Distanzierung vom Rechtsradikalismus bei gleichzeitiger Verharmlosung der von rechts ausgehenden Gefahren kann es nicht überraschen, dass Ellen Kositza Ende November 2020 im Demokratischen Widerstand, Nummer 26, einen Beitrag mit dem Titel »Ich bin rechts« veröffentlichen darf. Kositza ist eine der wenigen Frauen in den neurechten Kreisen um das Institut für Staatspolitik (IfS) und den Antaios Verlag, die publiziert. Im Artikel betont sie, sich am »ehesten als ›non-konfor-mistisch‹ zu bezeichnen«, das »Etikett« rechts habe sie sich »nicht ausgesucht«. Ein einfacher Versuch, das politische Angebot im querdenkenden Milieu zu nutzen, um ebenfalls lediglich als quere Intellektuelle zu erscheinen.

Ihre Vita erzählt sie sonst ganz anders. Auf dem Portal se-zession.net, das zum neurechten Netzwerk des IfS gehört, führte sie 2019 rückblickend zum Wendejahr 1989 aus: »Ich war eine jener seltenen Blüten, die ›abseits von Bierhallen-Chauvinisten, rechtsextremen Kadern und kurzhaarigen Gewalttätern das Undenkbare wagten: Rechts zu sein‹.« In dem von Götz Kubitschek und ihr selbst herausgegebenen Gesprächsband Tristesse Droite erzählte sie 2015, dass sie mit 17 Jahren schon für die neurechte Junge Freiheit geschrieben habe und dass der Mythos des 20. Jahrhunderts des führenden NSDAP-Ideologen Alfred Rosenberg eines der ersten rechten Bücher gewesen sei, die sie gelesen habe. Dass beim »Musikreiten« – an dem sie der »Einklang von Befehl und

Gehorsam« besonders begeisterte – eine neue Trainerin »Fehler sanft tolerierte«, habe sie enttäuscht. »Für mich war das, rückblickend, einer der frühesten Scheitel- oder Erkenntnispunkte. Was rechts ist, daß rechts richtig ist.« Hört sich wenig nach einer Etikettierung durch Fremde an.

In der folgenden Ausgabe von Demokratischer Widerstand durfte auch Benedikt Kaiser ausführen: »Ich bin rechts«. Der Lektor beim Verlag Antaios propagierte mal wieder einen »solidarischen Patriotismus«. Das heißt, unter Berücksichtigung von Karl Marx möchte er die Rechte ermutigen, stärker die soziale Frage aufzugreifen. Lenz und er scheinen hier nicht weit auseinander-zuliegen. Ebenso wenig bei der Kritik an das linke Spektrum. »Aus engagierten Klassenkämpfern wurde die postmoderne Sprachpolizei, aus gelebter Solidarität mit den Schwachen der Fetisch des politisch korrekten Unterdrückens«, schrieb Kaiser. Er greift damit einen Vorwurf auf, den auch linke Kritiker von Identitätspolitik und politischer Korrektheit gern erheben: dass der Hauptwiderspruch von Kapital und Arbeit zugunsten von »Nebenwidersprüchen« aus dem Blick gerate. Auf diese Weise werde die postmoderne Linke zu einer Art nützlichem Idioten des Klassenfeindes, oder wie Kaiser selbst es ausdrückt: Sie gebe »mit ihrem ›Diskurs‹ von totaler Emanzipation und ›offener Gesellschaft‹ den Kapitalgruppen ein freundliches Gesicht«.

Die »Kapitalgruppen« konkretisierte Kaiser in dem Artikel nicht. Musste er auch nicht. Wer den Demokratischen Widerstand regelmäßig liest, weiß, wer gemeint ist. So war im selben Jahr bereits in Heft Nummer 5 ein Artikel unter der Überschrift »Neofeudale Experimente?« erschienen, in dessen Unterzeile es hieß: »Wenn die demokratische Öffentlichkeit lahmgelegt ist, dann können Superreiche und ihre Netzwerke nach feudaler Manier schalten und walten.« Autor war Hermann Ploppa, ein Redaktionsmitglied. Der Politikwissenschaftler und Publizist hat mehrere Bücher und Artikel über die Eliten der USA veröffentlicht. Die Macher hinter den Kulissen – Wie transatlantische Netzwerke heimlich die Demokratie unterwandern (2015) soll sogar Bestsellerrang erreicht haben. In seinem Artikel hält er den »Stiftungen der Superreichen« aus den USA sowie der internationalen Pharmaindustrie vor, schon seit dem 19. Jahrhundert mit Eugenik- und Impfprogrammen sowie medizinischen Experimenten »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« zu begehen. Mit dabei gewesen seien stets »die allbekannten Akteure aus den USA«, nämlich »mal mehr, mal weniger: die Bill-&-Melinda-Gates-Stiftung; die Rocke-feller-Stiftung; unzählige weitere ›philanthropische‹ Stiftungen von Superreichen«.

Ploppa schreibt auch für Rubikon. Das online erscheinende »Magazin für die kritische Masse« will nicht bloß »Kritik vortragen«, es möchte auch »tatsächliche Veränderungen herbeiführen«, »Alternativen benennen«. Gegründet wurde es 2017 von Jens Wernicke, es versteht sich selbst als gesellschaftskritisch, basisdemokratisch und antimilitaristisch. Einige Beiträge zu den Folgen des neoliberalen Sozial- und Demokratieabbaus oder zur gescheiterten Interventionspolitik des Westens im Nahen Osten könnten auch im Freitag, konkret oder neuen deutschland stehen, schrieb Michael Bittner am 21. Januar 2021 im neuen deutschland. Allerdings ergänzte er: »(…) das sind nicht die Texte, die dem ›Ru-bikon‹ seinen eigentümlichen Charakter verleihen.« In den dort publizierten Beiträgen wird denn auch betont, dass unsere Demokratie eine scheinbare sei, die wahre Macht bei den Eliten in Ökonomie und Politik liege oder dass die Medien uns manipulierten. Bei dem Portal Übermedien fiel Matthias Holland-Letzt bereits am 25. Juni 2020 auf: »Der Tenor vieler Beiträge: gegen die USA, gegen Israel, für Russland, gegen Waffenexporte, gegen Angela Merkel.«

Seit Beginn der Pandemie ist »›Rubikon‹ vor allem ein Organ, in dem ›Corona-Skeptiker‹ gegen die vermeintliche ›Virus-Hyste-rie‹ anschreiben«, stellte Bittner fest. Dabei seien die Fragen zu den Maßnahmen, deren sozialer Ausgewogenheit oder demokratischer Legitimität mehr als legitim. Sie dienten hier aber »nur als Köder, um Menschen in die Wahnerzählung von der ›Erfindung einer Epidemie‹ zu locken«. Ploppa donnerte auch in einem Artikel mit der Überschrift »Spritzen für Milliarden«, der am 28. November 2020 in dem Online-Magazin erschien, »dass das Virus nur für ganz wenige Personen gefährlich sein kann. Und fast überall werden die Menschen (…) schrittweise an eine Übergriffigkeit auf ihren Körper herangeführt. Die erste kleine Dosis bestand in der zeitlich begrenzten Freiheitsberaubung mit dem ersten Lock-down. Dann wurde der Lockdown gelockert. Im Gegenzug kam uns die körperliche Übergriffigkeit näher durch die Maskenpflicht. Als nächstes noch dichter an unserem Körper dann die PCR-Tests. Diese Tests sind in den meisten Fällen durchaus schmerzhaft – und medizinisch absolut sinnlos. Ein korruptes Riesengeschäft und ein Dressurakt zugleich.« In diesen Erzählungen, so Bittner, haben sich die »Eliten der ganzen Welt« mit »willfährigen Ärzten, Wissenschaftlern und Journalisten zu einem ›totalitären Umge-staltungsprojekt‹ verschworen«.

Die Redaktion von Demokratischer Widerstand hängt ähnlichen Vorstellungen an. Warum sie die Zeitung herausgibt, begründet sie in der Ausgabe vom 16. Mai 2020 folgendermaßen: »Die Regierung projiziert ihre eigene Panik wegen des Zusammenbruches des Finanzmarktkapitalismus auf uns, die anderen Menschen, die in deren System nie eine grundlegende Wahl gehabt haben, wie dieses eingerichtet wird.« Diese Annahme kann jedes Narrativ von Mächtigen und Mächten, die global im Hintergrund agieren, grundieren.

Reichsbürger:innen und Querdenker:innen

Ein politisches System, dessen Legitimität fraglich ist, ein Elitenbündnis, das im Verborgenen die Geschicke der Welt lenkt, eine Pandemie, die eigentlich ein gewalttätiges Unterwerfungs- und Ausbeutungsmanöver ist – mit diesen Grundannahmen ist das Querdenken-Milieu anschlussfähig in viele Richtungen. Am 15. November 2020 trafen sich in der »Hacienda Mexicana« im thüringischen Saalfeld Michael Ballweg und Peter Fitzek samt ihrer jeweiligen Entourage. Wenig deutet in der Stadt auf ein »Reich« hin, gar auf ein »deutsches Königreich«. Ein Hinweis am Eingang des Geländes der »Hacienda« verkündet Gästen jedoch, dass sie angeblich eine Landesgrenze überschreiten: »Zutritt nur für Staatsangehörige und Zugehörige des Königreiches Deutschland. Mit dem Betreten der Räumlichkeiten sind Sie temporärer Staatsangehöriger des Königreiches Deutschland«. Zu diesem Gebilde gehöre das Restaurant seit 2019, erklärte dessen Betreiber unlängst. Das »Königreich« hatte Peter Fitzek sieben Jahre zuvor auf dem Anwesen des ehemaligen Krankenhauses in Wittenberg in Sachsen-Anhalt ausgerufen und sich selbst zum König küren lassen.

Die selbsternannte »königliche Hoheit Peter der Erste« beschäftigt mit Fantasieausweisen und -versicherungen, eigener Währung und Bank immer wieder die Justiz. Er ist einer der bekanntesten Selbstverwalter aus dem Reichsbürger:innenspektrum. Diese Szene zweifelt die Rechtmäßigkeit des Grundgesetzes an, glaubt, dass der Zweite Weltkrieg erst noch durch einen Friedensvertrag beendet werden müsse, die Bundesrepublik ein Konstrukt der Alliierten oder eine »GmbH« wäre oder frühere deutsche Reichsformen noch weiter bestehen würden.

Von diesem Spektrum hatte sich Michael Ballweg als Initiator von Querdenken offiziell immer distanziert – bis zu dieser als »Arbeitstreffen« deklarierten Zusammenkunft am Volkstrauertag 2020. Eingeladen hatte Ballweg ausgewählte Mitstreiter:innen mit dem Hinweis, dass diese Einladung vertraulich behandelt werden müsse. »REDET NICHT in eurem Umfeld über dieses Treffen und über unsere neuen Ideen«, zitierte die FAZ am 26. November 2020 aus Ballwegs E-Mail. Das Treffen sei geboten, um sich »nach neuen Möglichkeiten und anderen Strategien um(zu)sehen«. Ein »Lichtblick« sei aber schon gefunden, schrieb Ballweg weiter, ließ jedoch unerwähnt, dass Fitzek anwesend sein würde. An die 80 Reichs-bürger:innen und Corona-Rebell:innen kamen schließlich zu der Audienz zusammen. Sie endete jedoch vorzeitig, nachdem die Polizei eingeschritten war. Die Beamt:innen hatten einen Hinweis bekommen, dass bei der Veranstaltung die Corona-Auflagen nicht eingehalten würden.

Nach dem geplatzten Treffen sagte Fitzek, das Ziel sei gewesen, »nächste Arbeitsschritte zu organisieren« für eine »neue menschliche Form des Zusammenlebens«. Die Reichsbürger:innen leugnen ebenso wie die Corona-Rebell:innen-Szene die Gefährlichkeit des SARS-CoV-2-Virus und lehnen ebenfalls alle staatlichen Maßnahmen ab, wahrscheinlich waren das die Gründe, warum beide aufeinander zugingen. Im Gespräch mit der Ostthüringer Zeitung vom 16. November 2020 relativierte Peter Fitzek die Gefahr durch die Pandemie und hob stattdessen die Eigenverantwortung der Menschen hervor: »Jeder ist für sein Körper-Milieu selbst verantwortlich.«

Einen Tag nach dem Einschreiten der Polizei postete Hermann Ploppa auf Facebook: »Leute, morgen wird die Mainstream-Presse Vernichtendes über unsere Demokratiebewegung berichten. Die führenden Personen von Querdenken haben sich (…) mit dem ›König von Deutschland‹, Peter Fitzek, getroffen.« Einige dieser Führungspersönlichkeiten sollen die Versammlung, so referiert Ploppa wen auch immer, nach einem langen Vortrag von Fitzek »empört verlassen haben. Jedoch sind sie in eine Falle getappt: das Haus von Fitzek war von gigantischen Polizeieinheiten umstellt. Das Ganze wurde gefilmt und wird dann zeitnah (…) in den Mainstream-Medien als Bombe platzen.« Und er fragt: »Dummheit oder Perfidie?« Schon die Wortwahl »Falle«, aber auch »Per-fidie« suggerieren eine Intrige, um die Querdenken-Bewegung bloßzustellen. Wer dahinterstecken soll, lässt er offen, aber für seine Follower:innen dürfte klar sein, dass es sich nur um die üblichen Verdächtigen handeln kann. Jedenfalls hält Ploppa eine deutliche Distanzierung zu dem »Reichsbürger und vom Königreich Deutschland« für dringend geboten. Die gewünschte Reaktion erfolgte – und erfolgte nicht.

Zwei Tage nach dem Treffen veröffentlichte Querdenken 711 eine Pressemitteilung. »Die Ideologie der Reichsbürger deckt sich nicht mit den Motiven der Querdenken-Initiative«, heißt es darin. Gleichzeitig wird behauptet, Fitzek werde »fälschlicherweise der Reichsbürgerszene zugerechnet«. Für Querdenken sei »unerheblich«, ob »jemand durch Dritte als Reichsbürger bezeichnet« werde. Da überrascht es nicht, dass man sich über »Demonstrations-Formate« und »Schwächen von zinsbasierten Geldsystemen« und »Alternativen zur Schulmedizin« ausgetauscht habe. Eine Distanzierung scheint Querdenken also nicht geboten. Warum auch? Schließlich wiederholt Querdenken 711 in der Mitteilung die alte Forderung der Reichsbürger:innen: »die Umsetzung von Artikel 146 des Grundgesetzes und einen Volksentscheid«. In dem Artikel heißt es, das Grundgesetz verliere »seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist«. Ballweg selbst griff bei einer Kundgebung in Stuttgart das Reichs-bürger:innen-Thema »Friedensvertrag« auf und fragte, wie denn da die Rechtslage sei. Die Nähe zu den Reichsbürger:innen ist umstritten. Das Treffen wurde kritisiert. Die Annahme der vermeintlichen Fremdbestimmung scheint virulent.

Emotionale Gemeinschaften

Am »Tag der Freiheit« in Berlin zitierte Thorsten Schulte erst die bekannten Zeilen aus dem Klassiker Der kleine Prinz des französischen Schriftstellers Antoine de Saint-Exupéry: »Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche bleibt für das Auge unsichtbar«, um dann zu betonen: »Wenn wir mit dem Herzen sehen, dann werden wir all die Täuschungen im Hier und Jetzt und das ganze Ausmaß der Fremdbestimmung erkennen können.«

Erkennen und Erfahren gelten in der Querdenken-Szene und Corona-Leugnungsbewegung als Wege, um in der Pandemie Halt und eine eigene Haltung zu finden. Eine Suche, die von berechtigten Sorgen motiviert sein mag, aber von der Wirklichkeit in den Wahn führen kann. Was in diesem Milieu für Fakten gehalten wird, beruht in der Regel auf verkürzten Analysen. Auf den Straßen und in den sozialen Medien hat es sich zu einer emotionalen Gemeinschaft zusammengefunden. Bei den Demonstrationen lässt sich eine Entwicklung von einer »Festgemeinschaft« über eine »Leidensgemeinschaft« hin zu einer »Widerstandsgemeinschaft« beobachten, haben Oliver Nachtwey, Robert Schäfer und Nadine Frei festgestellt. Das Love-Peace-Happening erstarrte zur Hate-Community.

Die Bewegung ist kein gesellschaftliches Randphänomen. Die drei Soziolog:innen sehen in ihr den »Ausdruck einer fundamentalen Legitimationskrise der modernen Gesellschaft«. In dem Milieu, aus dem die Proteste hervorgegangen sind und das sie trägt, hat das »Projekt der Moderne« seine »normative Anziehungskraft eingebüßt«. Dessen zentrale Versprechen »Aufstieg durch Leistung, Freiheit durch Demokratie, Gleichheit durch Rechtssicherheit, Wahrheit durch Wissenschaft, steigende Lebenserwartungen durch die Errungenschaften der modernen Schulmedizin« werden hier als nicht eingelöst angesehen. Schon 1980 mahnte Jürgen Habermas, die »Moderne« sei ein »unvollendetes Projekt«. Gut 40 Jahre später ist dieses Projekt für die Querdenkenden- und Corona-Leugnenden schlicht gescheitert. »Die Menschheitsgeschichte als Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit (…) hat seine Glaubwürdigkeit verloren.«

Die Moderne habe sich, schreiben Nachtwey, Schäfer und Frei, auch dadurch legitimiert, dass Kritik ermöglicht worden sei. »Genau dieses Element« sei aus Sicht der Besorgten und Bewegten verloren gegangen. Die Entfremdung von der industriellen und durchrationalisierten Hypermoderne spiegele sich »in der Skepsis gegenüber ihren Institutionen« wie Parteien, Parlamenten oder Presse. Einzig die Gerichte und das Justizsystem besäßen noch »eine schmale Vertrauensbasis«.

So vielfältig und differenziert die Bewegung wirkt, so auffallend undifferenziert ist sie bei näherem Hinsehen. Gesellschaftliche Tendenzen, soziale Dynamiken oder ökonomische Prozesse lösen sich in Verschwörungsnarrativen auf. Mit der Skepsis gegenüber den vorherrschenden Darstellungen in Medien und Politik geht eine alte Spiritualität einher. Ganzheitliche Denkweisen und spirituelle Vorstellungen sind en vogue und virulent. Die con-spirituality forciert »die Zerstörung der Vernunft«. Die »Stellungnahme pro oder contra Vernunft entscheidet zugleich über das Wesen einer Philosophie als Philosophie«, hat Georg Lukács 1952 geschrieben. Er reflektierte die »ideologischen Vorläufer« des Nationalsozialismus und warnte, dass die Option einer »aggressiven reaktionären Ideologie in jeder philosophischen Regung des Irrationalismus sachlich enthalten ist« – bis zu einer »faschistischen«. Die Aggressivität ist in der Bewegung nach einem Jahr Pandemie gestiegen. Die Positionen werden radikaler, die Aktionen rabiater.