Verklärungen und Verharmlosungen. Impfkritik und Alternativmedizin

Der Aufkleber am Eingang einer Hamburger Schule fällt auf. Knapp 30 Zentimeter ist er lang, etwa fünf Zentimeter hoch und in den Farben rot und weiß gehalten. Auch wenn er wie bei einer Guerillamarketing-Aktion angebracht wurde, bewirbt er kein Produkt. Ein Projekt möchte auf sich aufmerksam machen. »Wann ist deine rote Linie überschritten?«, steht auf dem Aufkleber. Eine Frage, die aus vielen politischen Spektren kommen könnte. Die Ergänzung auf einer bewusst frei gelassenen weißen Stelle grenzt die Auswahl jedoch ein. »Kinder müßen (sic!) atmen« steht dort mit Kugelschreiber geschrieben.

Die kleine Aktion in der Hansestadt ist eine von vielen aus der Querdenken-Bewegung und Corona-Leugnungsbewegung im Bundesgebiet. In S-Bahnen liegen Flyer aus: »Finden Sie es richtig, dass die Regierung wegen der Pandemie viele unserer Grundrechte außer Kraft setzt, Geschäfte schließt und unserer Wirtschaft einen Lockdown verordnet? (…) dass Schulen und Kitas geschlossen werden, (…) dass eine Maskenpflicht besteht?« An Klettergerüsten auf Spielplätzen kleben runde Aufkleber: »Impfzwang? Nein, danke!« Zur Bekräftigung ist eine Spritze mit einem roten Kreuz durchgestrichen. Auf Toiletten im ICE prangen viereckige Sticker mit dem Satz »Gib Gates keine Chance«. Slogan und Layout sind an einen anderen Protestaufkleber angelehnt: »Gebt Nazis keine Chance«.

Solche Aktionsformen legen nahe, dass dahinter Menschen stehen, die über Erfahrungen in der alternativen oder linken Protestkultur verfügen. Tatsächlich verwischen politische Grenzen – sofern man klischierte Vorstellungen davon hat – nicht allein bei den Großdemonstrationen und Kundgebungen, sondern auch bei der Selbstdarstellung von Aktiven.

Sucht man im Internet nach »Wann ist deine rote Linie überschritten?«, gelangt man schnell auf Instagram zu dem Initiator der Aktion, der sich »Jens« nennt. Das »Du« im Profil wirkt gleich nett, offen, ohne Hierarchie; auf Fotos präsentiert er sich als sportlich, attraktiv und weltoffen. Zur Person gibt er an: »Hamburg, aktiv in Natur und Politik, Querdenker, kreativ positiv, Bare-footrunning, Yoga and Fitness«. Gepostete Aufnahmen deuten an, dass er zu einer Hamburger Gruppe gehört, die an den größeren Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen in Berlin und Leipzig teilgenommen hat. Bei den Aktionen dort, aber auch in Hamburg, Flensburg, Wiesbaden, Konstanz oder Stuttgart finden sich viele wie »Jens«, sportlich, alternativ und spirituell. Und viele wie »Julia«, die im alternativen Schick, fein und wetterfest, am Rande einer Kundgebung in Hannover versichert: »Wegen meinen Kindern bin ich hier. Die Masken verstören sie. Oma und Opa können sie auch nicht mehr sehen.«

Auf einem Foto posiert »Jens« auch mit einem der Szene-Promis aus Hamburg: Heiko Schöning von den Ärzten für Aufklärung (ÄfA). Die Selbstbezeichnung ist ein Euphemismus. Denn diese Ärzte verklären mit Verschwörungsnarrativen mehr, als sie aufklären. Seit Jahren warnen sie nachdrücklich mit gewagten Informationen vor Impfungen. Zu ihrem Netzwerk gehören Olav Müller-Liebenau, Thomas Ly, Mark Fiddike oder Jutta Störmer – gefragte Redner:innen bei den Protesten gegen die staatlichen Maßnahmen. Auf einem Flyer der ÄfA heißt es, man sei »eine Organisation von ca. 700 Ärzten aus Deutschland«. Die Website verantwortet offiziell Walter Weber. Der Hamburger Arzt meint: »Gesundheit ist die Harmonie von Körper und Seele, wir sind im inneren Einklang. Krankheit beginnt mit einem Konflikt.« In einem Video der ÄfA vom 5. August 2020 auf YouTube behauptet er, dass die mögliche Impfung gegen Covid-19 »in einem höchstwahrscheinlichen Maße eine neuartige Impfung« sei, »also nicht, dass man gegen abgeschwächte Erreger impft, sondern es ist eine gentechnische Manipulation«. Und weiter: »Wir werden dabei gentechnisch manipuliert.«

Im Januar 2021 haben über 2000 Personen eine Art Selbsterklärung der ÄfA per Namens-, Berufs- und Ortsangabe unterstützt. Sie beinhaltet fünf Aussagen, die äußerst allgemein sind: »Wir Ärzte helfen Menschen, die unter den ›Corona‹-Maßnahmen leiden. Wir Ärzte klären die Hintergründe auf. Wir Ärzte fordern Belege für die Verhältnismäßigkeit und Wirksamkeit der verhängten Maßnahmen. Wir Ärzte setzen uns für den Erhalt der Demokratie und der Grundrechte ein. Wir Ärzte kümmern uns insbesondere um den Schutz von Kindern.« All das könnten wohl auch Menschen unterschreiben, die Masken und Impfungen befürworten. Wer möchte nicht wissen, welche Folgen Lockdowns haben, wie Kinder geschützt werden können oder wie die Kita- und Schulschließungen begründet werden?

Doch im Subtext klingt schon eine Skepsis gegen die sogenannte Schulmedizin, die Politik und die Medien an. Auffallend: Sie betonen nicht, dass sie den von Corona Betroffenen helfen wollen, sondern denjenigen, die von den Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie betroffen sind. Was insinuiert, die Maßnahmen zur Bekämpfung der Krankheit seien schlimmer als die Krankheit selbst. Für diese Bekämpfung beanspruchen die ÄfA, selbst über das relevante Wissen zu verfügen und die wahren Hintergründe zu kennen. Die über 2000 Personen, die diesen Anspruch unterstützen, kommen aus der Mitte der Gesellschaft. Wenig überraschend stellen Ärzt:innen die größte Gruppe, 348 Personen, davon 171 Männer und 177 Frauen. Und viele Heilpraktiker:innen, über 30 Männer und 27 Frauen. Unter dem Kürzel HP für Heilpraktik findet die Suchmaschine auf der Website weitere 250 Personen. Viele auf der Liste haben andere medizinische, pädagogische oder therapeutische Berufe: Hebamme und Krankenschwester, Lehrerin und Erzieherin, Psychologe oder Shiatsu-Praktiker.

Bei welchen Maßnahmen die ÄfA »Verhältnismäßigkeit und Wirksamkeit« nicht gegeben sehen, machen sie auf ihrer Website klar. Unter »Masken« wird gleich erklärt, die Datenlage spreche nicht für »ein Tragen von Mund-Nasen-Bedeckungen. Dieses gilt in besonderem Maße in Bezug auf Kinder!« Im Folgenden führen die ÄfA diverse Studien auf, die belegen sollen, dass Masken für den Infektionsschutz wenig oder gar nicht relevant sind, nicht einmal im OP-Saal. Bei fast allen ihren Positionen rekurrieren sie auf wissenschaftliche Arbeiten und Annahmen. Die Vielzahl soll wohl als Beleg für die eigene Meinung dienen, die Aussagen der jeweiligen Arbeiten sind jedoch zumindest strittig. Dahinter steckt ein Muster: Die »pure Häufung von vermeintlichen Fakten« tritt tendenziell an die »Stelle des besseren Arguments«, warnt Nicola Gess in Halbwahrheiten – Zur Manipulation von Wirklichkeit (2021).

Das Netzwerk begnügt sich aber nicht mit Argumenten, die mehr oder weniger wissenschaftlich belegbar sind. In den baden-württembergischen Städten Rottweil und Schramberg sowie deren Umgebung wurden Flugblätter mit dem Titel »Nur Sklaven tragen Masken!« verteilt, auf denen die Internetadresse der ÄfA angegeben ist. Die Maske sei ein »politisch motiviertes Symbol der Demütigung und Unterwerfung«, ist darauf zu lesen und das Bild eines geknebelten Sklaven zu sehen. Die Neue Rottweiler Zeitung fragte am 7. November 2020 bei Thomas Ly nach. Der Infek-tiologe und Tropenmediziner erklärte, dass die »Interpretation zu den Masken in Bezug auf Sklaven (…) zulässig« sei, »jedoch nicht die einzig zulässige«. Und dann wieder ganz im wissenschaftlichen Jargon: »Gesunde Menschen kollektiv mit unsinnigen Maßnahmen zu nötigen, welche zudem wissenschaftlich belegt physische und psychische Belastungen darstellen, können und dürfen wir als evidenzbasiert Verantwortung übernehmende Ärzte nicht tolerieren.«

Seit Monaten verbreitet das Netzwerk auch über die sozialen Medien seine Botschaft »Masken schützen nicht vor dem Virus«. In einem seiner Telegram-Kanäle, getragen von »Corona Ausschüsse – Ärzte für Aufklärung«, geht es jedoch noch deutlich weiter: Unter Berufung auf einen Doktor Sam Bailey wird behauptet, dass »es keine klinische(n) Studien« gebe, »die beweisen, dass ein Virus in irgendeiner Weise krankheitsauslösend ist«. Die »Wissenschaftler sprechen selbst von einem Konsens und nicht von einem Beweis«. Mehr noch: »Wissenschaftliche Nachweismethoden wurden abgeändert, dass deren Einhaltung zu keinem Zeitpunkt einem Nachweis gleichkommt.« Und »zufälligerweise fällt der Name Christian Drosten auch da als primäre Person auf«. In diversen Posts wird Drostens Tätigkeit als Leiter des Instituts für Virologie an der Berliner Charité erwähnt und angefeindet, er als »Fakten-Leugner« bezeichnet.

Von der Kritik gehen die ÄfA zu einem Verschwörungsnarrativ über: Die Fakten sind keine Fakten, Nachweismethoden wurden manipuliert und handelnde Personen haben schon in anderen Zusammenhängen eine fragwürdige Rolle gespielt. Der Tenor: Irgendwer treibt irgendetwas gegen uns. Mit dem NDR-Podcast »Coronavirus-Update« ist Drosten über Fachkreise hinaus bekannt geworden und wurde auch von der Bundesregierung zurate gezogen. Am 22. März 2020 stellte er in der FAZ jedoch klar, dass das Robert Koch-Institut (RKI) die Hauptrolle bei der Beratung der Bundesregierung spiele und er bloß einer von vielen Wissenschaftlern gewesen sei, die gehört wurden. Und am 16. April 2020 bekräftigte er in einem Podcast, dass er schon seit Wochen nicht mehr in die Politikberatung einbezogen sei.

Diese Erklärungen verhinderten jedoch nicht, dass er zu einer der Hassfiguren der Querdenker:innen- und Corona-Leugner:in-nen-Bewegung avancierte. Auf Demonstrationen wurden Schilder mit seinem Konterfei in Gefängniskleidung neben solchen mit den Konterfeis von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) hochgehalten, beide ebenfalls in Gefängniskleidung. Aufschrift jeweils: »Schuldig«. Verschwörungserzählungen brauchen Verschwörer:innen, die für ein Phänomen verantwortlich gemacht werden, hier sind es die Eliten in Politik und Wissenschaft. »Die Tendenz, die eigenen Eliten als Verschwörer zu sehen, weist bereits auf die große Nähe von Verschwörungstheorien und Populismus hin«, schreibt Michael Butter, Professor für amerikanische Literatur- und Kulturgeschichte an der Universität Tübingen, in »Nichts ist, wie es scheint« – Über Verschwörungstheorien (2018).

Gruppierungen, die der staatlichen Pandemie-Politik ablehnend gegenüberstehen, wie die Ärzte für Aufklärung oder auch die Anwälte für Aufklärung, bleiben bei ihrer Deutung aber nicht im nationalen Rahmen. Sie sehen globale Zusammenhänge. Am 28. Januar 2021 verbreiteten die ÄfA via Telegram, die »›Partei von Davos‹ (Steve Bannon) um den Great-Reset-Strategen und WEF-Chef Klaus Schwab« arbeite an einem »globalen Covid-Pass«. Im schweizerischen Davos finden sich alljährlich die Größen der internationalen Wirtschaft und Politik zum Weltwirtschaftsforum (World Economic Forum, WEF) zusammen. Der Ausdruck »Partei von Davos«, als dessen Urheber im Zitat der amerikanische Rechtspopulist und ehemalige Stratege des abgewählten US-Präsidenten Donald Trump ausgewiesen wird, suggeriert, dass es sich dabei um eine Gruppe handelt, die weltweit bestimmte Ziele durchzusetzen versucht und auch über die nötigen Machtmittel dazu verfügt.

Klaus Schwab, dem Gründer des Weltwirtschaftsforums, wird schon lange vorgehalten, einen »großen Neustart« anzustreben. Mit den globalen Finanzeliten und den Führern der Welt arbeite er an einem totalen Niedergang von Staaten und Wirtschaften, um durch einen Neubeginn die globale politische und ökonomische Kontrolle zu erlangen. In diesem Verschwörungsnarrativ erscheint die Pandemie als Teil dieses Elitenplans. Erzählt wird entweder, dass diese Eliten Wissenschaftler beauftragt hätten, Covid-19 zu entwickeln und freizusetzen, oder dass sie durch Medienmanipulation die Gefahr des Virus gezielt übertrieben. Zum »Great-Reset« gehöre auch die Agenda 2030 der Vereinten Nationen, die 2016 viele Länder unterzeichnet haben. Die erklärten Ziele der Agenda: »Armut beenden«, »Ernährung sichern«, »Bildung für alle«, »Gleichstellung der Geschlechter«, »nachhaltiges Wirtschaftswachstum und menschenwürdige Arbeit« tragen die Anhänger:innen des Verschwörungsnarrativs also nicht mit.

Eine kritische Debatte über das Weltwirtschaftsforum ist sicher angebracht. In der Zeit vom 21. September 2020 distanzierte sich Schwab vorsichtig von der lange Zeit vorherrschenden ökonomischen Doktrin: »Landläufig wird unter Neoliberalismus ein ungeregelter, ungehemmter Kapitalismus verstanden. Und gerade die Länder, die diese Strategie am stärksten vorangetrieben haben – beispielsweise die USA und Großbritannien –, werden von Corona mit am härtesten getroffen.« Die Pandemie habe einmal mehr gezeigt: »Der Neoliberalismus in dieser Form hat ausgedient.« Daraus zieht er den Schluss, »dass wir den Kapitalismus neu definieren müssen. Wir dürfen nicht nur das Finanzkapital berücksichtigen, sondern auch das Sozialkapital, das Naturkapital und das menschliche Kapital.« Dass der Kapitalismus mit seiner Logik des permanenten Wachstums selbst das Problem sein könnte, denkt er aber nicht. »Ich bin davon überzeugt, dass die unternehmerische Kraft jedes Einzelnen die Triebfeder für echten Fortschritt ist – und nicht der Staat.«

Das Bekenntnis zum Kapitalismus und zum unternehmerischen Ich könnte hinterfragt werden. Das ist aber nicht die Kritik, die aus dem Milieu der ÄfA geübt wird. Als Folge der Agenda 2030 wird vielmehr kritisiert, dass die Energiewende angeblich zu einem unbezahlbaren Strompreis führe, der »Genderwahnsinn« etabliert, der Verbrennungsmotor abgeschafft werde, Flug- und Individualverkehr sowie Fleischkonsum eingeschränkt würden. Die Nationalstaaten würden so aufgelöst, Scheindemokratien aufgebaut, Migrant:innen könnten weiter ungebremst einwandern. Maskenpflicht und Impfungen werden hier zu Bestandteilen der ganz große Verschwörung einer »weltweiten Elite« und von »internationalen Globalisten«.

In »Nichts ist, wie es scheint« schlägt Michael Butter eine Unterscheidung von »Ereignis- und Systemverschwörungstheorien« vor. Die Ereignisverschwörung drehe sich um ein »eingrenzbares Ereignis«, die Systemverschwörung um eine »bestimmte Gruppe«, die mehrere Ereignisse verantworte. Hinzu kommt eine dritte Form: »Superverschwörungstheorien schließlich sind Konglomerate aus Ereignis- und Systemverschwörung.« Fällt in diese Kategorie, was die Ärzte für Aufklärung verbreiten? In dem Telegram-Post vom 28. Januar 2021 heißt es weiter: »Die Vision der Globalisten: Reise- und Bewegungsfreiheit für Geimpfte. ›Kerkerhaft‹ für Ungeimpfte. Und natürlich sind auch die üblichen Verdächtigen wieder mit dabei: Bill Gates und der Rockefel-ler-Moloch.« Quelle für diese Annahme ist ein Online-Artikel von Compact – Magazin für Souveränität vom Vortag. Der Titel des Artikels in dem rechten verschwörungsnarrativen Magazin lässt bereits keine Zweifel: »Rockefeller, Bill Gates und Davos: Wie die Eliten an einem weltweiten Impfpass arbeiten«.

Die Bill-&-Melinda-Gates-Stiftung, die von dem Microsoft-Gründer und seiner Ehefrau ins Leben gerufen wurde, gilt als die größte private Stiftung der Welt. Da sie unter anderem Impfkampagnen unterstützt, ist sie zur Zielscheibe von Organisationen wie den ÄfA geworden. Diese Kritik übertönt die vielen Ansatzpunkte für legitime Kritik an der Stiftung wie beim Weltwirtschaftsforum. Bei Kundgebungen von Querdenken 40 in Hamburg greift jedenfalls Heiko Schöning von den ÄfA immer wieder die Stiftung an. Schöning war auch schon bei KenFM zu Gast, dem Portal des Verschwörungsideologen Ken Jebsen. In seinen Hamburger Reden behauptete er zu wissen, dass die Pandemie vor allem einem Netz von Pharmaindustrie, Impfprojekten, Großkapital und Politik nutze. Der Impfmäzen als einer der Drahtzieher einer großen Weltverschwörung – eine Auffassung, die in weiten Teilen dieses Milieus geteilt wird.

Die Familie Rockefeller wiederum wird wegen ihres Vermögens, das laut dem Wirtschaftsmagazin Forbes 2020 auf 8,4 Milliarden Dollar geschätzt wird, und der ihr unterstellten Macht immer wieder mit allen möglichen Verschwörungen in Verbindung gebracht. Entsprechende Anfeindungen haben eine lange Tradition und gehen oft mit der Insinuation einher, die Familie sei jüdisch. »Rothschilds« und »Rockefellers« wurden und werden in der rechtsextremen Szene als Synonym für »die reichen Juden« gebraucht. Dass der Firmengründer John D. Rockefeller (1839–1937) kein Jude, sondern Baptist war, stört da nicht weiter. Die Ärzte für Aufklärung dürften ebenso wie das Compact-Magazin bestreiten, bewusst mit diesen Konnotationen zu spielen.

Verschwörungsfantasien schrecken in der Bundesrepublik offensichtlich nicht alle wegen der Pandemie Besorgten ab. Der Telegram-Kanal von »Corona Ausschüsse – Ärzte für Aufklärung« hat im März 2021 fast 13 000 Abonnenten, der Kanal der Anwälte für Aufklärung sogar 23 749. Die Anwälte nutzen ihn allerdings nicht so intensiv wie die Ärzte, stellen weniger online. Die ÄfA senden Tag und Nacht Push-Nachrichten, fast im Minutentakt. Liken und Verlinken – auch mal Michael Wendler. Der Sänger wusste um 22:51 Uhr des 28. Januars: »Die Strategie wird sichtbar und der Nebel lüftet sich weiter! Falkt (sic!) 1. Der Lockdown endet nicht am 14. Februar 2021 (Noch immer ist der Mittelstand nicht pleite). Fakt 2. Die komplette Impfagenda wird neu organisiert. (Durch zahlreiche Nebenwirkungen und Tote nach der Impfung versucht man Ruhe in die Sache zu bringen (…) Fakt 3. Der Widerstand wächst.« Dass am 29. Januar 2021 noch keine Daten zu Sterberaten und Nebenwirkungen nach einer Impfung gegen Corona vorlagen, hinderte die selbsterklärten Aufklärer:innen unter den Ärzten nicht, diese Aussagen weiterzuverbreiten.

Eine noch größere digitale Reichweite hat der eigene Tele-gram-Kanal des Gründers der Anwälte für Aufklärung, Markus Haintz, der auch »Querdenken 731« in Ulm mitgegründet hat. Ihm folgen 108 367 Abonnent:innen, Stand 30. Januar 2021. Über das Medium warnte er unlängst vor einer »Impfpflicht«. Die Ablehnung von Masken und Impfungen vereint das gesamte Milieu. Die Sorge vieler Menschen im Januar 2021, ob schnell genug ausreichend Impfdosen produziert und die Impfmaßnahmen zügig realisiert werden könnten, werden hier nicht geteilt. Stattdessen schürt man andere Ängste: Auf dem Flyer »Zwang zur Impfung droht« erklären die Gründer der ÄfA, Walter Weber und Professor Dr. Stefan Hockertz, Immunologe und Toxikologe, sie rechneten »mit 80 000 Toten und 4 Millionen Impfgeschädigten« durch die »Zwangsimpfung«.

Auf der Rückseite des Flyers wird wieder einmal die Existenz der Pandemie in Zweifel gezogen. In zwei Spalten, die mit »Echte Pandemie« und »Fake Pandemie« überschrieben sind, werden Aussagen gegeneinandergestellt: »Jeder kennt schwer Erkrankte aus seiner direkten Familie« (»Echte Pandemie«) versus »Krankheitsfälle sind meist nur aus den Medienberichten bekannt« (»Fake Pandemie«), »Es gibt sehr viele Todesfälle« versus »Unveränderte Sterblichkeit im Jahresvergleich«, oder »Politiker und Medien tun alles, um die Menschen zu beruhigen« versus »Politiker und Medien tun alles, um Angst zu verbreiten, die Menschen einzuschüchtern und die Gesellschaft zu spalten«.

Bio-Boheme und neue Spiritualität

Eine radikale Ignoranz geht mit einem radikalen Egoismus einher, die Prinzipien der Solidargemeinschaft werden bewusst oder unbewusst ignoriert. Der große Zuspruch für die Kanäle der Ärzte und Anwälte für Aufklärung sowie ähnlicher Gruppen legt nahe, dass solche Haltungen im gesamten Milieu der Querdenker:innen- und Corona-Leugner:innen-Bewegung geteilt werden. Dabei sind die Grenzen zwischen Impfskeptischen, Impfgegner:innen und Impfverweiger:innen fließend, wie Beate Frenkel 2020 in Pillen, Heiler, Globuli – Das Geschäft mit der Alternativmedizin schreibt, »zwischen denen, die Nutzen und Risiken von Impfungen hinterfragen, und denen, die sich Argumenten und Fakten verweigern«. Erst seien es einzelne Personen gewesen, längst sei jedoch eine Szene entstanden, die laut in der Öffentlichkeit wahrzunehmen sei.

Als Pressure-Group sorge sie gerade bei Eltern für Verunsicherungen, bestätigen Ärzte Frenkel, die als Redakteurin beim ZDF-Magazin »Frontal 21« arbeitet. »Die Eltern kommen deutlich kritischer zu uns, anders als vor zehn Jahren«, berichtet ihr der Berliner Kinderarzt Jakob Maske. Diese Veränderung sollte nicht allein negativ bewertet werden. Aufklären, Selbstinformieren – bitte, warum nicht. Der Arzt stört sich auch nicht an informierten Eltern. Problematisch sei die Flut an virtuellen Falschinformationen, so Maske, der auch Leiter des Verbandes der Berliner Kinder-und Jugendärzte ist. Die neue Klientel, mit der er es zu tun hat, beschreibt er als jung, Netz-affin und mit hohen Ansprüchen. Für die eigenen Kinder dürfe es nur das Beste sein. Alles Etablierte kritisch zu hinterfragen – auch »die etablierte Medizin« –, gehöre zum Habitus. Frenkel fasst es so zusammen: »Wenn der Arzt ein Medikament verschreibt, heißt das noch lange nicht, dass es eingenommen wird. Wenn er dringend zu einer Impfung rät, ist das vielleicht trotzdem falsch.« Die »›Generation Google‹« informiere sich lieber noch woanders. Die impfkritische Haltung beruht hier also auf einer kritischen Einstellung gegenüber der Schulmedizin.

Die Klientel, mit der Maske und viele andere Ärzt:innen es zu tun haben, wird bisweilen als »Bio-Boheme« oder »Bionade-Bourgeoisie« bezeichnet. Sie ist aus einem kulturell-politischen Prozess hervorgegangen, der vor gut 50 Jahren begann. Im damaligen linksalternativen Milieu der Bundesrepublik führten mehrere Motive nicht bloß zu einem kritischen Staatsverständnis, sie lösten auch eine Selbstsuche aus. Das Ich bekam eine neue Relevanz. »›Selbstverwirklichung, Authentizität, Autonomie, Echtheit des Gefühls und Ganzheitlichkeit der Erfahrung‹« waren die Leitideen, schreibt Sven Reichardt in Authentizität und Gemeinschaft – Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren (2014). Darin manifestierte sich »eine Abkehr von materiellen Werten und eine Hinwendung zu einer ganzheitlichen und naturverbundenen Befindlichkeitskultur, die sich mit dem Kult der Betroffenheit und dem ständigen Kreisen um das eigene Feeling verband«.

Die »linke Psychobewegung« sieht Reichardt, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Konstanz, auch als eine Reaktion auf die »intellektuelle Kälte« und »affektlose wissenschaftliche Auseinandersetzung« in linken Student:innen- und Theoriegruppen jener Zeit. Dem habe sie »das Bedürfnis nach wärmender Solidarität, nach sensibler Kommunikation und sanfter Emotionali-tät« entgegengestellt. »Gegen die selbstgerechte autoritäre Härte mancher Studentenführer waren diese Linksalternativen nun auf der Suche nach Anlehnung, nach sanften, möglichst herrschaftsfreien Kommunikationsstilen.« Aus einer berechtigten Kritik am Autoritarismus in der 68er-Bewegung und an einem radikalen Intellektualismus wurde eine fundamentale Intellektualitäts- und Theoriefeindlichkeit. Ein Irrationalismus kam auf, der letztlich zu Wissenschaftsfeindlichkeit führen konnte – und auch zur Abwehr medizinischer Erkenntnisse.

Dieser Prozess rief schon in den 1970er Jahren harte Konflikte hervor. Die »seichte Ideologie des happiness« und das »kleine Glück des Streichelns« seien »die Jagd nach dem kleinen Glück«, wetterten Teile der 68er-Student:innenbewegung. Statt Revolution der gesellschaftlichen Verhältnisse, Rückzug auf das eigene Ich. Dem selbstsuchenden Teil des linksalternativen Milieus hielten sie Reichardt zufolge vor, was Theodor W. Adorno zum »Psychologismus« angemerkt hatte: Es sei ein Dilemma, psychologisch erklären zu wollen, »was gar nicht dem Seelenleben einzelner Menschen entspringe«. Man setze sich mit den Symptomen, nicht mit den gesellschaftlichen Ursachen der Probleme auseinander. Die Kritisierten konterten immer wieder, dass die Student:innen-bewegung »intellektualistisch, emotionsfeindlich und autoritär« sei. »Im ›Beschlussverfahren des demokratischen Sozialismus‹ (…) sei die ›persönliche Emanzipation‹ nicht vorgesehen«, gibt Reichardt die Haltung wieder. »Das klassische linke Denken, das lediglich die Eigentums-, Produktions- und Arbeitsverhältnisse berücksichtige, greife zu kurz«, ein »ganzheitlicher Politikbegriff« müsse gedacht und gelebt werden. Der Mensch sei »nun einmal mehr als nur die Charaktermaske der gesellschaftlichen Verhältnisse«.

Im Kontext dieser Sinnsuche des linksalternativen Milieus kam es zu einem Psychoboom, verschiedenste Therapieformen und Gruppendynamiken wurden genutzt: Gestalttherapie und Sensitivitätstraining, Urschreitherapie und Transaktionsanalyse, Bioenergetik und Meditation, Yoga und Tai-Chi. Das Bedürfnis nach einem ausgeglichenen Ich und einer liebenden Gemeinschaft ließ zudem eine neue Spiritualität entstehen: Magier, Druiden, Weise Frauen, Schamanen und Hexen erlebten eine Renaissance. Magisches, Okkultes und Esoterisches wurden akzeptiert. Insbesondere östliche Religionen in der Tradition des Buddhismus und Hinduismus erfuhren eine größere gesellschaftliche Beachtung und beeinflussten den »Zeitgeist«, aber auch »Europas eigene Religionen« Heidentum und Naturreligionen.

Diese neue Spiritualität war nicht alleine »auf radikale Gruppen wie die Krishna-Leute, die Mun-Sekte oder Baghwan-Rajneesh-Jünger beschränkt«, schreibt Reichardt. Meist war sie eher diffus, verknüpfte lose religiöse, magische und okkulte Elemente miteinander. Immer häufiger dienten spirituelle oder esoterische Weisheiten dazu, eine individuelle Lebensform und -kultur zu finden, oder sie wurden zur Lösung gesellschaftlicher, ökologischer und politischer Probleme herangezogen. Eine gewisse Beliebigkeit herrschte vor, deutet Hansjörg Hemmiger in Die Rückkehr der Zauberer (1987) an. Der individuelle Griff der Gurus, aber auch der Suchenden selbst in die Regale des spirituellen Supermarktes führte zu der gegenwärtigen Diversität. Begriffe wie positiv denken, Rebirthing, Evolutionssprung, Ganzheitlichkeit, Sensitivtraining, Paradigmasprung, Lichtbringer, Goldenes Zeitalter, Ying und Yang, Lotusblütenmeditation, Transzendentale Meditation, Atlantis, Demeter und Walpurgis gehören längst zu unserer Alltagssprache.

Auf dem bundesdeutschen Buchmarkt garantieren Publikationen zu diesem Themenkomplex seit Jahren ökonomischen Gewinn. Auf Nachfragen Anfang 2021 erklärte das Börsenblatt, dass die Warengruppe »Psychologie, Esoterik, Spiritualität, Anthropo-sophie« im Jahr 2019 einen Gesamtumsatzanteil von 8,7 Prozent erzielte. In den Segmenten Taschenbuch und Audiobook lag die Sparte sogar bei 11,1 und 12,1 Prozent. Bei der Warengruppe »Ratgeber« macht »Spiritualität« einen Umsatzanteil von 10,7 Prozent aus. Esoterische und okkulte Inhalte finden sich jedoch nicht allein in Sach- und Ratgeberbüchern, sondern auch in Romanen, Märchen, Fabeln, Comics bis hin zu Krimis.

Dieser gesellschaftliche Wandel ist auch auf die Krisen zu seiner Entstehungszeit zurückzuführen: In den 1970ern endete der lange Wirtschaftsboom der Nachkriegszeit, die Debatte um die Nachrüstung führte die Gefahr eines Atomkriegs wieder vor Augen, die zerstörerischen Auswirkungen des Raubtierkapitalismus auf Mensch und Natur wurden zunehmend gesehen, Großtechnologien gerieten in die Kritik. An mehr und mehr alten Citroën 2CV, kurz Enten, dem Kultauto der alternativen Szene, klebte der gelbe runde Sticker mit der roten Sonne und dem Slogan »Atomkraft? Nein, danke«. In Wohngemeinschaften hing immer häufiger das Plakat mit dem stilisierten Konterfei eines amerikanischen Ureinwohners und der Mahnung: »Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr feststellen, daß man Geld nicht essen kann!« Angeblich ging sie auf eine Weissagung der Cree zurück. Die Band Cochise, benannt nach einem Chiricahua-Apachen-Häuptling, griff sie im Song »Rauchzeichen« auf und erweiterte sie um Umweltkatastrophen, Krieg und Folter.

Zusammen mit anderen Bands lieferte Cochise den Soundtrack für die damalige Stimmung, in der Endzeit- und Aufbruchsstimmung eng beieinanderlagen. Industrialisierung und Urbanisierung, Wirtschaftswachstum und Konsum waren in dieser zweiten Lebensreformbewegung nicht mehr mit Glücksversprechen für die Einzelnen verbunden. Wie der evangelische Theologe Michael Mildenberger Reichardt zufolge seinerzeit betonte, hatten die neu erwachten spirituellen Sehnsüchte auch mit den »betonierten Einbahnstraßen der Gesellschaft« zu tun, »auf denen man der vorprogrammierten Langeweile und Sinnlosigkeit« einer »verwalteten Welt« entgegenfahre. Andere zeitgenössische Deutungen, die Reichardt erwähnt, sahen die Ursachen in der »neuen Unübersichtlichkeit« (Jürgen Habermas), zu der es in einer »Gesellschaft pluraler Wissenssysteme« komme, beziehungsweise in dem »Sinnvakuum«, das sich »zwischen den Bereichen des spezialisierten Wissens in den alltagsweltlichen Leerräumen auftue«.

Sehnsucht nach Leben, nach Authentizität und Sensibilität, nach Naturverbundenheit und Spirituellem dürften viele Menschen kennen. Nicht wenige werden Unbehagen dabei empfinden, wie normal es geworden ist, beim alltäglichen Weg in den Bio-Laden Rentner:innen Flaschen aus Mülltonnen fischen zu sehen, oder wie routiniert wir auf den News-Portalen zur Kenntnis nehmen, dass es Kriege und Klimakatastrophen gibt, Geflüchtete im Mittelmeer ertrinken, Lockdowns Menschen um ihre wirtschaftliche Existenz bringen.

Doch wenn die »neuen Propheten« glauben machen möchten, dass nur die »Entzauberung der Welt« (Max Weber), die Aufklärung, die Logik, die Ratio und der Egalitarismus alle gesellschaftlichen Krisen und Probleme verursacht haben, können ökonomische Machtverhältnisse, soziale Prozesse, historische Entwicklungen und klimatische Veränderungen verkannt und gar verklärt werden. In all den Bemühungen um eine Wiederverzauberung der Welt, um psychologische Selbstreflexion und spirituelle Selbstfin-dung in den 1970er und 1980er Jahren lässt sich eine antimoderne Bewegung sehen. Horst-Eberhard Richter (1923–2011), eine Ga-lionsfigur der Friedensbewegung in den 1980er Jahren, betonte, der Mensch wolle mit einem »auf die Wissenschaft gestützten Herrschaftswillen (…) die Macht über die Gefahren (…) erringen, deren Verhütung oder Überwindung einst durch göttlichen Beistand erhofft wurde«. Im Schwanken zwischen »Ohnmachtsangst und Allmachtswahn« entgleite der »wissenschaftlich-technischen Revolution die ethische Kontrolle«, gibt Reichardt den linken Psychoanalytiker und Familientherapeuten wieder. Mehr noch, dürfte ergänzt werden, die gesellschaftliche Akzeptanz jener Revolution schwand. Gerade in den »jüngeren, gebildeten Altersgruppen« habe damals ein »Wertewandel von materiellen zu postmateriellen Einstellungen« begonnen. Glück und Lebenszufriedenheit seien nicht mehr alleine mit »beruflichem Erfolg und Wohlstand« verbunden gewesen, schreibt Reichardt.

Heute findet sich diese wissenschafts- und technikskeptische Haltung auch in der Querdenken-Bewegung und Corona-Leug-nungsbewegung wieder. Manche von denen, die damals auf der Straße waren, dürften jetzt wieder auf der Straße sein. Dabei schloss und schließt ein antimaterieller Habitus nicht aus, dass sich die eigenen materiellen Verhältnisse durchaus auf einem höheren Niveau bewegen. Wurde die Bewegung seinerzeit vor allem von Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus der Mittelschicht getragen, so kommt heute die Abwehr von Masken und Impfungen ebenfalls aus der Mitte der Gesellschaft. »Die zentralen Akteure der Proteste gegen die Corona-Maßnahmen an der Elbe sind Selbstständige, Ärzte, Heilpraktiker, mittlere Angestellte und andere Angehörige akademischer Berufe«, sagt Felix Krebs vom Hamburger Bündnis gegen Rechts.

Keine lokale Besonderheit. Beate Frenkel stellte fest, dass es »Regionen in Deutschland« gebe, »wo die Impfquoten besonders niedrig« seien. »Meist sind es Gegenden mit hohem Haushaltseinkommen, geringer Arbeitslosenquote und geringer gesundheitlicher Belastung.« Viele Untersuchungen bestätigten, dass »wohlhabende Eltern« gegenüber Impfungen skeptischer eingestellt seien. In den Regionen seien zudem »impfkritische Ärzte« ansässig. Im bayrischen Kreis Murnau sei deren Quote auffallend hoch. »›Hier gehört es oft zum guten Ton, nicht impffreundlich zu beraten‹«, gibt Frenkel den Kinderarzt Dr. Oliver Michael wieder. Mediziner:innen, die Impfungen befürworten, müssten sich ständig mit impfkritischen Positionen auseinandersetzen.

Fake News über Impfungen

Das wäre allein kein Grund zur Klage, Aufklärung sollte schließlich zur Therapie gehören – auch wenn die Beratungszeit wegen der Kostenregelungen eng begrenzt ist. Doch die Aufklärung muss bei diesem Thema ständig Fake News widerlegen, und die Fakten selbst bewegen wenig. »Nicht jeder Impfgegner« sei allerdings auch ein »Verschwörungstheoretiker«, wirft Michael Butter ein. »Nur wer glaubt, dass die fatalen Konsequenzen des Impfens vor der Bevölkerung verborgen oder diese gar durch Impfung manipuliert oder gefügig gemacht werden soll, sollte so bezeichnet werden«, schreibt er.

Die Ärzte für Aufklärung befeuern auf ihrer Website nicht allein die Impfskepsis, sondern immer wieder auch Verschwö-rungsnarrative. Mit den Fakten nehmen sie es dabei nicht ganz so genau, wie Alice Echtermann für »Correctiv – Recherchen für die Gesellschaft« gezeigt hat. Auf der Website behaupten die ÄfA, Bill Gates werde verklagt, da es im Zusammenhang mit Impfungen gegen Humane Papillomviren (HPV) zu »an die 50 Todesfällen« unter geimpften Mädchen gekommen sei. Die Mädchen seien auch nicht über mögliche Folgen der Impfung aufgeklärt worden. Das Virus bringt ein erhöhte Krebsrisiko mit sich, insbesondere für Gebärmutterhalskrebs, und wird in den meisten Fällen bei Sexualkontakten übertragen.

»Die Behauptung, Bill Gates werde verklagt, ist teilweise falsch. Die Angabe von 50 Todesfällen ist falsch«, hebt Echtermann am 9. Juni 2020 hervor. Richtig sei, dass es in Indien Kritik an der Durchführung einer Studie vor zehn Jahren gab. Bis April 2010 wurden dort im Rahmen der Studie an zwei Orten 23 500 Mädchen von der Organisation »Path« gegen HPV geimpft. Dies war Teil eines globalen Projekts für HPV-Impfungen, das auch von der Bill-&-Melinda-Gates-Stiftung unterstützt wurde. Aufgrund von Medienberichten über mögliche Nebenwirkungen stoppte die indische Regierung die Studie 2010 vorsorglich.

Ein Jahr später legte ein Untersuchungskomitee einen Bericht vor, der nicht mehr online ist. Echtermann weist aber auf einen zweiten Bericht des indischen Parlaments von 2013 hin, auf den sich auch die ÄfA als Quelle berufen. Darin werden jedoch sieben Todesfällen angegeben und nicht 50. Schon 2011 war die Untersuchung zu dem Schluss gekommen, dass sich keine Verbindung zwischen den Todesfällen und der Impfung nachweisen lasse. Drei der Mädchen seien innerhalb von 30 Tagen nach der letzten Impfdosis verstorben, vier erst nach 45 und 97 Tagen. Bei den ersten drei Fällen sei ein Fieber unbekannter Ursache aufgetreten, das auch mit Malaria oder einem Schlangenbiss in Verbindung stehen könne. Bei zwei anderen Mädchen sei Gift im Magen nachgewiesen worden, eines sei ertrunken und eines nach einer Krankheit von nur wenigen Stunden gestorben, so Echtermann.

Im zweiten Untersuchungsbericht wurde die Durchführung der Studie gleichwohl scharf kritisiert: zu wenig Kontrolle, zu wenig Aufklärung der Mädchen und Eltern. Vor dem indischen Supreme Court läuft ein Rechtsstreit gegen »Path« und den indischen Staat. Bill Gates, der die Studie mit finanziert hat, ist allerdings nicht angeklagt.

Auf die Dimension der Virusinfektionen und ihre Folgen gehen die Ärzte für Aufklärung wenig ein. »In Deutschland sind nach Schätzungen ungefähr sechs Millionen Frauen mit Humanen Pa-pillomviren infiziert«, heißt es bei frauenaerzte-im-netz.de. Das Portal verantwortet der Bundesverband der Frauenärzte e.V. Pro Jahr entwickelten mehrere Hunderttausend Frauen hierzulande eine Vorstufe des Gebärmutterhalskrebses, etwa 5000 erkranken an Gebärmutterhalskrebs. Wenn die Krankheit früh genug erkannt ist, liegen die Heilungschancen bei fast 100 Prozent – dennoch sterben jedes Jahr über 1600 Frauen daran. Seit 2007 wird in Deutschland die HPV-Impfung für Mädchen zwischen neun und vierzehn Jahren empfohlen, seit 2018 auch für Jungen.

Die Darstellung der ÄfA und anderer zu Impfungen haben zu einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber dieser medizinischen Maßnahme geführt. Eine der von besorgten Eltern und Alleinerziehenden verstärkt infrage gestellten Impfungen ist die Drei-fach-Impfung gegen Mumps, Masern und Röteln. In den sozialen Netzwerken kann von Gerücht zu Gerücht gesurft werden. Auf dem Telegram-Kanal »Impfen-nein-danke.de« wird Anfang Februar 2021 nicht nur gegen die »Pandemielüge von nationaler Tragweite«, sondern auch grundsätzlich gegen die »Impfung gesunder Säuglinge« gewettert. Passenderweise werden auf der Website Impfen-nein-danke.de gleich Kinder aus der gesamten Welt gezeigt, die durch Impfungen angeblich schwere Schädigungen erlitten haben. Doch Masern seien keine »harmlose Kinderkrankheit«, sondern eine schwerwiegende Erkrankung, die häufig zum Tode führe, so Frenkel. Das Ansteckungsrisiko sei hoch, hebt sie hervor, und zieht einen Vergleich: »Für SARS-CoV-2 schätzen verschiedene Forschungsteams, dass jeder Infizierte das Virus im Durchschnitt an zwei bis drei andere Menschen weitergibt.« Ein an Masern Erkrankter stecke jedoch »im Schnitt zwölf bis 18 Menschen an«.

Wenn Gerüchte und Fake News bei Eltern dennoch so häufig auf fruchtbaren Boden fallen, dann wohl auch deshalb, weil der Krankheitsverlauf und das mögliche Dahinsiechen bei einer Maserninfektion nicht mehr miterlebt werden. Krankheit, Behinderung und Tod sind in unserem Alltag kaum präsent. Die Betroffenen sind meistens ausgelagert in Krankenhäuser, Behinderteneinrichtungen und Hospize. Das soll kein Vorwurf an die Angehörigen sein, der berufliche Alltag und die Wohnsituation sind nur zwei Gründe, warum eine Betreuung und Begleitung oft nicht möglich ist. Fest steht jedenfalls: Das Nichtsehen der Krankheitsfolgen scheint zum Nichtwahrhabenwollen zu führen.

Aus dem Grund wagte es Oxana Giesbrecht, in die Öffentlichkeit zu gehen. Die Mutter berichtete in der Wochenzeitung Die Zeit am 28. April 2019 von ihrem Sohn Micha; Frenkel griff die Geschichte auf. Mit sechs Monaten steckt Micha sich bei einem Kinderarztbesuch mit Masern an. Er scheint die Krankheit gut überstanden zu haben. Fünfeinhalb Jahre später tauchen jedoch Anzeichen einer Gehirnentzündung auf. Subakute sklerosierende Panenzephalitis (SSPE) lautet die Diagnose, eine Folgeerkrankung der Masern. Binnen fünf Wochen nach der Diagnose kann Micha nur noch zwei, drei Worte sagen, innerhalb eines Monats kann er nicht mehr sprechen und laufen. An Weihnachten haben die Eltern ein apathisches und gelähmtes Kind. Die Mutter schilderte den langen Leidensweg, mit furchtbaren Schmerzen und vielen Medikamenten. Im Alter von 14 Jahren stirbt Micha.

Es sei schmerzhaft gewesen zu sehen, wie ihr Sohn alles verlernte. »Wie dieser quicklebendige Junge zu einem Nichts wurde.« Mit ihrem Mann habe sie lange nicht über diese Zeit reden können. Frenkel ergänzt, der Kinderarzt, in dessen Praxis sich Micha ansteckte, habe nicht wissen können, dass ein elfjähriger Patient die Masern hatte. Ein Mädchen, das sich in der Praxis ebenfalls angesteckt hatte, erhielt mit acht Jahren die Diagnose SSPE, mit 13 Jahren ist sie verstorben.

Nach Angaben des Robert Koch-Instituts ist die SSPE zwar »eine sehr seltene Spätkomplikation«. Doch wird das Risiko, dass es dazu kommt, bei Kindern, die im Alter von unter fünf Jahren an Masern erkrankt sind, auf 30 bis 60 von 100 000 Fällen geschätzt, bei Kindern, die im ersten Lebensjahr erkrankt sind, sogar auf rund 170 von 100 000 Masernfällen. Die Krankheit beginnt mit psychischen und intellektuellen Veränderungen und entwickelt einen fortschreitenden Verlauf mit neurologischen Störungen und Ausfällen bis zum Verlust aller zerebralen Funktionen. Die Prognose ist infaust, also ungünstig, unglücklich.

Zum Arsenal der Angst bei den Impfskeptischen gehört die vermeintliche Folgeerscheinung Autismus. 1998 hatten Andrew Wakefield und Kollegen in der medizinischen Fachzeitung The Lancet eine Studie vorgelegt, in der sie einen Zusammenhang zwischen der Masern-Mumps-Röteln-Impfung (MMR) und Autismus behaupteten. Grundlage der Studie waren zwölf Kinder, die in einem Londoner Hospital wegen Darmerkrankungen und Entwicklungsstörungen behandelt worden waren. Die Eltern von acht Kindern wollten einen zeitlichen Zusammenhang zwischen Impfung und Symptomen beobachtet haben. »Es gab keinerlei Statistik darüber, ob ein Kausalzusammenhang (…) überhaupt gegeben war. Dazu war die Studie zu klein«, schreibt Frenkel. Die Folgen waren fatal: In Großbritannien fiel die Impfrate von 92 auf unter 80 Prozent. »Die Briten erlebten die schlimmsten Masern-und Mumps-Epidemien in zwei Jahrzehnten«, berichtet Frenkel. 2005 erkrankten 43 000 Kinder an Mumps.

Den Betroffenen half nicht mehr, dass die Studie sich später als Fälschung herausstellte. Ein impfkritischer Anwalt hatte sie finanziert, die Studienteilnehmer:innen waren aus einer Anti-Impf-Gruppe rekrutiert worden, und Wakefield hatte die Krankengeschichten manipuliert, fasst Frenkel zusammen. Dass Wakefield 2010 seine Approbation verlor und die Studie selbst zurückzog, schaffte die Fake Facts nicht aus der Welt. Ebenso wenig die umfangreiche Studie eines Teams um den dänischen Wissenschaftler Anders Hvild, die 2019 feststellte, dass es keinen Zusammenhang zwischen der MMR-Impfung und Autismus gibt. Dafür waren die Lebenswege von mehr als 650 000 Kinder seit 1999 verfolgt worden. Dennoch stellt die falsche Tatsachenbehauptung bis heute »die Grundlage für sehr viele Verschwörungserzählungen dar«, betonen Katharina Nocun und Pia Lamberty in Fake Facts – Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen (2020). So erinnert Michael Butter daran, dass Donald Trump in seinem Vorwahlkampf und Wahlkampf 2015 und 2016 eine »Vielzahl von Verschwörungstheorien« aufgriff, wie: »Impfung verursache Autismus«.

Dieser Phalanx an Kritik hat auch in Deutschland Konsequenzen. Im August 2020 legte das Robert Koch-Institut ein epidemiologisches Bulletin zum Impfstatus von Kindern und Jugendlichen vor. Es bestätigt, wie weit verbreitet die skeptische Haltung unter Eltern ist. »Die Analysen zeigten«, so das RKI: »Die Impfungen beginnen später als empfohlen, und die Impfserien werden nicht zeitgerecht abgeschlossen. Dadurch werden nationale und internationale Impfziele hinsichtlich der Impfquoten bei keiner Impfung erreicht. Zudem gibt es bei der Inanspruchnahme aller Impfungen große regionale Unterschiede.«

Die Folgen einer zu geringen Impfdichte beziehungsweise einer fehlenden Herdenimmunität lassen sich im impfkritischen Milieu beobachten, zu dem auch manche Waldorfschulen zählen. 2019 lösten Masernerkrankungen an der Waldorfschule in Erfurt eine Debatte aus; das Gesundheitsamt hatte dort bereits 2015 wegen Masernerkrankungen einschreiten müssen. 2018 stand die Waldorfschule in Freiburg wegen eines Masernausbruchs unter Quarantäne. 2013 musste die Waldorfschule in Erftstadt wegen Masern den Unterricht aussetzen. 2010 wurden dem Gesundheitsamt 71 Masernerkrankungen an der Waldorfschule Essen gemeldet, vier Erkrankte mussten stationär behandelt werden. Ein strukturelles Problem? Das Landesgesundheitsamt Baden-Württemberg legte bei der Nationalen Impfkonferenz 2019 eine Studie zum Impfstatus in Waldorf-Kindertageseinrichtungen vor. Demnach waren von 5106 Kindern aus anthroposophischen Einrichtungen etwa »jedes dritte 4- bis 5-jährige Kind (…) nicht gegen Masern geimpft«.

Bund und Länder hatten eigentlich gehofft, die Masern bereits 2015 ausgerottet zu haben, schreibt Frenkel. Davon kann jedoch keine Rede sein – erst wenn 95 Prozent der Bevölkerung geimpft sind oder die Krankheit durchgemacht haben, kann sich der Erreger nicht mehr ausbreiten. Stattdessen steigt die Zahl der Masernerkrankungen. In der Europäischen Region der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organisation, WHO) wurden zwischen August 2018 und Juli 2019 über 120 000 Masernfälle gemeldet. Dies ist seit über einem Jahrzehnt der höchste in einem Zeitraum von 12 Monaten in der Region verzeichnete Wert. In diesem Zeitraum wurden in 48 der 53 Mitgliedstaaten in der Region Masernfälle gemeldet, fasst die WHO zusammen und fordert, »den Masern keine Chance« zu geben.

Kein Mediziner bestreitet, dass Arzneimittel und Impfstoffe Nebenwirkungen haben können, mitunter sogar schwere. Ebenso wenig verschweigen das Robert Koch-Institut und das Paul-Ehr-lich-Institut (PEI), dass in »einigen Impfstoffen (…) Formaldehyd, Aluminium, Phenol oder Quecksilber enthalten« sind – »allerdings in äußerst geringen Konzentrationen (weit unterhalb toxikologischer Grenzwerte)«, wie die beiden Institute in ihren »Antworten (…) zu den 20 häufigsten Einwänden gegen das Impfen« von 2016 sogleich klarstellen. Das PEI ist als Bundesinstitut für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel eine Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit. Die beiden Institute erklären auch die Funktion der genannten Substanzen, sie »dienen beispielsweise dazu, um Impfviren abzutöten (Formaldehyd), die Immunantwort zu verstärken (Aluminiumhydroxid) oder den Impfstoff haltbar zu machen (Phenol)«.

Am 1. März 2020 trat das neue Masernschutzgesetz in Kraft – trotz Protesten aus dem impfkritischen Milieu. Es sieht vor, dass alle Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr beim Eintritt in den Kindergarten oder die Schule die von der Ständigen Impfkommission empfohlenen Masern-Impfungen vorweisen müssen. Auch bei der Betreuung durch eine Kindertagespflegeperson muss in der Regel ein Nachweis erfolgen. Gleiches gilt für Personen, die in Gemeinschaftseinrichtungen oder medizinischen Einrichtungen tätig sind, wie Erzieher:innen, Lehrer:innen, Tagespflegeper-sonen und medizinisches Personal. Asylbewerber:innen und Geflüchtete müssen den Impfschutz vier Wochen nach Aufnahme in eine Gemeinschaftsunterkunft vorweisen.

Also alles gut? In den sozialen Medien tauschen sich Impfgeg-ner:innen aus, wie sie die Impfung oder den Nachweis durch den Impfpass umgehen können – alles zum vermeintlichen Schutz und Wohl des eigenen Kindes. Dass sie dadurch andere Kinder gefährden – auch jene, die aus medizinischen Gründen tatsächlich nicht geimpft werden können, etwa krankheitsbedingt oder wegen einer angeborenen Abwehrschwäche –, kümmert sie nicht weiter. Und welches Leid beispielsweise die Kinderlähmung verursacht hat, bevor sie durch eine Massenimpfung gegen Polioviren eingedämmt wurde, scheint ebenfalls ausgeblendet zu werden. »Wer weiß heute noch, dass es in den 1950er Jahren in Deutschland zwei Polio-Epidemien gab (…)?«, fragt Frenkel. Fast 10 000 Menschen, vor allem Kinder und Jugendliche, erkrankten und starben. Wer überlebte, war häufig an Armen oder Beinen gelähmt. »›Schluckimpfung ist süß, Kinderlähmung ist grausam‹ – die Kinder dieser Zeit sind mit dem Slogan aufgewachsen«, schreibt Frenkel.

Dass die Menschen den Impfstoff, als er endlich da war, verweigern, hätte man sich damals aus vielen Gründen nicht vorstellen können. Sicher auch deshalb, weil ein berechtigtes kritisches Verhältnis zur Medizin noch nicht so verbreitet war. Die »Götter in Weiß« waren noch die Götter. Nicht weniger wichtig war jedoch, dass die Folgen der Erkrankung noch im Alltag sichtbar waren. So steckt in der Ablehnung von Impfungen auch Geschichtsvergessenheit. Vergessen werden nicht nur die Opfer von Infektionskrankheiten, vergessen werden auch die Traditionslinien der Impfgegnerschaft selbst.

Impfskeptische Traditionen und völkische Implikationen

Die Geschichte der Schutzimpfung beginnt im Jahr 1796 mit einem Experiment für eine Pockenschutzimpfung, heißt es auf der Website der Deutschen Apotheker Zeitung. Eine erste gesicherte Dokumentation von Pockenimpfungen findet sich in dem Werk Douzhen xinfa des chinesischen Arztes Wan Quan (1499–1582). Dabei wurde gemahlener Pockenschorf in die Nase der Impflinge geblasen. Im 18. Jahrhundert gelangte das medizinische Wissen aus dem Fernen und Nahen Osten langsam nach Europa. Der griechische Arzt Emanuele Timoni (1717–1780), der in Konstantinopel praktizierte, berichtete von der Methode der Inokulation oder Variolation: Gesunde Kinder wurden mit einer milden Form der Pocken infiziert, indem man sie mit Kindern zusammenbrachte, die an mildem Pockenverlauf litten oder ihnen deren Pustelinhalt aufbrachte.

1796 entwickelte der englische Arzt Edward Jenner (17491823) dann eine neue Methode: die Vakzination, die Impfung mit Kuhpocken-Viren, die weniger Risiken birgt, da Kuhpocken für Menschen ungefährlich sind. In den Jahren wurden nun weitere Impfstoffe wie gegen Milzbrand, Tollwut und Diphtherie entwickelt. Mit der Entwicklung wuchs aber auch die Kritik.

Einer der ersten Skeptiker: Immanuel Kant. Der Philosoph war aber kein absoluter Impfgegner, wie es ihm das impfkritische Milieu zuschreibt, das sich gern mal auf ihn beruft. Er zweifelte allerdings die Legitimität der seinerzeit aktuellen Pockenimpfungen verschiedentlich an. In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten fragte er 1797, ob die »Pockeninoculation erlaubt« sei, denn wer sich gegen Pocken impfen lasse, gefährde freiwillig sein Leben, die Selbsttötung aber sei ethisch verboten. An anderer Stelle sah er in Pocken ebenso wie in Kriegen Mittel zur Verhinderung der Überbevölkerung. Impfungen bedeuteten für ihn deshalb, das Wirken der Vorsehung mit den »heroischen Mittel der Ärzte« zu behindern. Später sah Kant Impfkampagnen jedoch durchaus als ethisch legitim an, sich impfen zu lassen ebenfalls.

Erste Organisationen der Impfgegnerschaft bilden sich im Zuge der Debatte um das 1874 beschlossene Reichsimpfgesetz. Wichtige Protagonist:innen waren der Ingenieur Hugo Wegener, Hauptschriftführer des 1881 gegründeten Monatsblatts Der Impfgegner und Mitherausgeber der Zeitschrift Die Impffrage, und der Arzt und Naturheilkundler Eugen Bilfinger (1846–1923), der bereits in den 1870er Jahren als Amtsarzt in Schwäbisch Hall einen Impfgegner-Verein ins Leben gerufen hatte. 1908 gründete er mit Kollegen in Eisenach den überregionalen Verein impfgegnerischer Ärzte. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg veranstalteten Impfgegner:innen bereits mehrtägige Kongresse.

Bilfinger genoss als Arzt und Befürworter der Schwitztherapie einen guten Ruf, der weit zu hören war. Er veröffentlichte viele Schriften für eine gesunde Lebensführung und gegen einen staatlichen Impfzwang. In seiner Schriftensammlung Eine ernste Volksgefahr. Aus meinem 30jährigen Kampfe gegen die höchst bedenkliche Impfzwangs-Einrichtung von 1909 begründete er seine Ablehnung im Abschnitt »Die Wahrheit in der Impfzwangsfrage« unter anderem damit, dass mit der »Kuhpockenimpfung« ein »tierisches Gift« in die »Säftemasse eines gesunden Organismus« überführt werde, die Folge sei »eine gewisse Blutvergiftung«. Schon dieser Fakt widerspreche der »angeblichen Unschädlichkeit«.

Darüber hinaus verwies er immer wieder auf tödliche Folgen von Impfungen. In Lübeck, berichtete er, seien vom 18. Januar bis zum 6. April 1881 48 Personen, die gegen Pocken geimpft worden waren, erkrankt, von denen sieben den Pocken erlagen, schreibt er in »Die Wahrheit in der Impfzwangfrage«, einem Vortrag von 1876. Diese Fälle dürften nicht zu bestreiten sein, Impfstoff und -methode waren wahrscheinlich noch wenig ausgereift, die Hygiene bei der Verabreichung war oft noch mangelhaft, sodass es zu Infektionen kommen konnte. Über den genauen Krankheitsverlauf und den Tod schreibt Bilfinger hier aber nichts Näheres. Ihm ging es darum, die Erfolge der Impfungen zu entwerten.

Bilfinger bestritt jedoch nicht die Existenz von Seuchen wie den Blattern oder den Pocken, nur hatte er ganz andere Vorstellungen, wie sie zu bekämpfen seien. Ganz Naturheilkundler, führte er bereits in der Vorrede zu seiner Schriftensammlung aus: Die »hygienische Wahrheit gipfelt in dem Satze: Nicht Impfungen, sondern nur gesunde Lebensbedingungen und gesunde Lebensgewohnheiten verschaffen und erhalten uns die Gesundheit. Die Natur hat immer Recht.« Und ganz programmatisch: Die »Natur« solle nicht gemeistert werden, sondern man habe von ihr zu lernen und »ihre Gesetzte zu verstehen«. Dieser »biologischhygienische Standpunkt« sei bisher »freilich erst von wenigen begriffen« worden.

In »Die Wahrheit in der Impfzwangsfrage« schlägt er sodann auch »Sozialreformen« vor. Statt das Geld für eine »systematische Vergiftung der Volkes« zu verschwenden, sollten »allgemein gesundheitswirtschaftliche Maßregeln« umgesetzt werden: »Man errichte Volks- und Luftbäder, sorge für gesunde Wohnungen und gewöhne die Menschen an Reinlichkeit und regelmäßige Lüftung ihrer Wohnungen.« Kurz: bauliche Maßnahmen und gesundheitliche Aufklärung. Dagegen lässt sich kaum etwas sagen, gegen die Suggestion, durch entsprechende Strategien werde Impfen überflüssig, allerdings sehr wohl.

Wie aber erklärte Bilfinger es sich, dass die Mehrheit seiner ärztlichen Standeskollegen auf das Impfen setzte, das er selbst für so schädlich hielt? Heutigen Argumenten aus alternativmedizinischen Kreisen ähnlich, führte er dies auf materielle Interessen zurück: Ärzte seien durch »ihre Stellung« darauf angewiesen, »von den Krankheiten zu leben«. So wenig wie »Wirte eifrige Mäßigkeitsapostel« seien, so wenig erstrebten Ärzte »mit voller Kraft die Ausrottung der Krankheiten«.

Um seine Berufskollegen für Einnahmeausfälle durch die angestrebte Abschaffung von Impfungen zu kompensieren und ihre Aktivitäten zugleich auf in seinen Augen sinnvollere Bereiche zu lenken, legte er einen »Vorschlag zur Güte in Sachen der Impfung« vor, der ursprünglich 1907 im Impfgegner erschienen war. Darin konstatierte er einen »Niedergang unseres deutschen Volkstums«, für den »Sexualismus und Alkoholismus« verantwortlich seien. Dagegen müsse man vorgehen. Bilfinger ging es um Eugenik: Sexualität sollte staatlicherseits reglementiert, bestimmte Gruppen an der Fortpflanzung gehindert werden: »sexuelle Verbrecher und Lustmörder, qualifizierte Notzuchtverbrecher und ähnlich gemeingefährliche Subjekte«. Deren Kastration, die »fast schmerzfrei vollzogen« werden könne, sieht er offenbar als sinnvolles Betätigungsfeld für Ärzt:innen. Die Medizin sollte sich, das scheint seine Auffassung gewesen zu sein, nicht nur dem einzelnen kranken Menschen widmen, sondern dem ganzen Volkskörper.

In der »Petition des Vereins impfgegnerischer Ärzte an Reichskanzler, Bundesrat und Reichstag« von 1909 findet Bilfinger auch Schuldige für die Pockenerkrankung: »Die Pocken stammen, wie so viele andere Volksseuchen ursprünglich aus dem dichtbevölkerten und infolgedessen vielfach an Unreinheiten aller Art leidenden Orient.« Die Impffrage ist für ihn grundsätzlich eine »Kulturfrage«. Das Impfen sei ein »nationales Unglück«, werde »die deutsche Volks- und Wehrkraft schwer schädigen«, das sogenannte Volkstum gefährden.

Bei Bilfinger taucht neben »Offizielle Medizin« oder »Staatsmedizin« auch »Schulmedizin« als negative Markierung auf. Der Begriff war 1876 von dem Arzt und Homöopathen Franz Fischer eingeworfen worden – »um evidenzbasierte Methoden zu diskreditieren«, wie Katharina Nocum und Pia Lamberty in Fake Facts betonen. Seit den 1880ern fand er größere Verbreitung. Der Begriff verweist aber nicht nur auf den Kulturkampf zwischen unterschiedlichen ärztlichen Selbstkonzepten, sondern er hat auch eine Konnotation, die in Bilfingers Textsammlung ebenfalls aufblitzt: Im zeitgenössischen Diskurs wird die »Schulmedizin« als »jüdischen Medizin« angefeindet.

Bilfinger befürwortet in »Ein Vorschlag zur Güte in Sachen der Impfung« zwar die »hygienische Beschneidung«, wie sie bei Juden und Muslimen traditionell praktiziert werde, und empfiehlt sie Impfärzten als alternative Betätigung; auch findet sich in dem Band mit seinen Aufsätzen und Reden keine explizite antisemitische Äußerung. Doch unter den zwölf impfkritischen Schriften, die Bilfinger am Ende empfiehlt, findet sich ein Werk eines damals deutschlandweit bekannten Impfgegners, Tierrechtlers, Veganers – und Antisemiten: Paul Försters Pocken und Schutzimpfung nebst Bericht über den Kongress der Impfgegner i.J. 1899.

Schon 1881 hatte Eugen Dühring (1833–1921) in der Kampfschrift Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage. Mit einer weltgeschichtlichen Antwort nicht nur eine antisemitische Rassenlehre dargelegt, sondern auch ausgeführt, dass das Impfen ein Aberglaube von jüdischen Ärzten sei, die sich persönlich bereichern wollten. Dühring, der als einer der Vordenker des Nationalsozialismus gilt, brandmarkte die Juden als von Natur aus unvermeidbare Feinde aller »Kulturvölker«.

Lässt sich bei Dühring noch einwenden, dass er nicht aus impfkritischen Netzwerken kam, kann davon bei Paul Förster (1844–1925) keine Rede sein: Der Publizist und Politiker hatte den Ersten Vorsitz des Deutschen Bundes der Impfgegner inne. Darüber hinaus war er in diversen lebensreformerischen Vereinen aktiv, im Deutschen Vegetarierbund, dem Deutschen Lehrertierschutzverein, wo er ebenso Vorsitzender war, und dem Internationalen Verein zur Bekämpfung der wissenschaftlichen Tierfolter, dessen Zweiten Vorsitzenden er stellte. Jahrelang leitete er auch die von Ernst von Weber gegründete Zeitschrift Thier- und Menschenfreund, in der auch Bilfinger veröffentlichte.

Förster verfolgte jedoch weitere Aktivitäten, die im Milieu der Impfkritiker:innen kaum unbemerkt geblieben sein können. Er engagierte sich öffentlich in verschiedenste Organisation, die damals von nationalkonservativ über antisemitisch bis völkisch ausgerichtet waren: im Jungdeutschen Bunde, dem Deutschen Volksbund, dem Alldeutschen Verband, der Deutschsozialen Partei (DSRP), dem Deutschenbund, dem Deutschen Antisemitismusbund, der Antisemitischen Vereinigung, dem Bund der Landwirte (BdL), der Mittelstandsvereinigung und der Deutschensozialen Reformpartei (DSRP). Für die DSRP saß er von 1893 bis 1898 im Reichstag, wo er 1896 die Abschaffung der Impfpflicht beantragte.

Für Förster bestand kein Widerspruch zwischen seinem gesundheits- und tierrechtspolitischen Engagement und seinen Aktivitäten in völkisch-nationalistischen und antisemitischen Parteien und Verbänden. All das griff in seinem völkischen Denkkosmos ineinander. Eine von dessen zentralen Annahmen lautete, die moderne Welt von Industrialisierung und Urbanisierung sei eine »jüdische Welt«, da sie auf Ratio und Logos basiert. In Försters politischen und akademischen Schriften erscheinen Humanismus, Rationalismus, Universalismus und Egalitarismus immer wieder als »fremde Formen«, die dem deutschen Wesen nicht entsprächen. In Tierschutz in Gegenwart und Zukunft machte er diese Formen 1898 dafür verantwortlich, dass dem »Menschen mit all seinem Wissen und Können die Unmittelbarkeit des Gefühls und der Einklang mit der Natur« verloren gegangen sei. Letztlich hätten sie den »künstlichen Menschen unserer Zeit, für den es nur noch eine verstandesmäßige ›praktische‹ Auffassung der Welt gibt«, hervorgebracht, da »alles Ursprüngliche des Naturtriebes abgelehrt« worden sei.

Auch das Christentum ist für Förster schon lange kontaminiert. Ihm zufolge sind die Differenzen zwischen der christlichen und der jüdischen Religion irgendwann verschwunden, und zwar, als »die Lehre (des) jungen lebens- und hoffnungsfrohen (…) Jesus« durch die »düsteren und bösen Ahnungen« des »Sohnes Davids« beeinflusst wurde. So habe das Enge und Tote Einzug in die christliche Kirche gehalten und das Weite und Lebendige aus der Lehre verdrängt. Erst mit den jüdischen Einflüssen und Verfälschungen sei das Christentum zum »Juden-Christentum« verkommen, das die Harmonie von Mensch, Natur und Göttlichem zerstöre.

Der »moderne Mensch« und die moderne Welt entsprängen dem Universalismus und Anthropozentrismus dieser neuen, aus »altjüdischen, christlichen (…) Vorstellungen und Vorschriften zusammen geflickten ›Religion‹«, ihrer Trennung von Mensch, Natur und Göttlichem, ihrer Hervorhebung des Allgemeinen über das Besondere und ihrem vermeintlichen Anspruch auf Weltherrschaft. Der Anthropozentrismus impliziere einen »unnatürlichen ›Humanismus‹« und »Individualismus«, der das »Ich« über das »Wir« hebe. Das Volk und der Volksgeist wird gegen den Universalismus in Stellung gebracht. Dieser evoziere »Toleranz«, »Liberalismus« und »Materialismus«, der den »Volksgeist« unter den »Geist der Zeit« stelle, behauptet Förster in Deutsche Bildung, Deutscher Glaube, Deutsche Erziehung.

Was haben diese Ausführungen mit Impfkritik zu tun? Sehr viel. Zunächst einmal ist Förster zufolge die »ganze Natur und (…) Tierwelt« den Menschen zum »Schutz anvertraut«. Schutz heiße jedoch nicht Herrschaft. Der Mensch dürfe die »Ehrfurcht« vor der »Schöpfungskraft« nicht verlieren, er solle sich auch nicht »über die Natur schwingen«, mahnt Förster in Tierschutz in Gegenwart und Zukunft und Die Vivisektion, die wissenschaftliche Tierfolter (1913). Mehr noch, in »Die Vivisektion vom naturwissenschaftlichen, medizinischen und sittlichen Standpunkt aus beurteilt« schreibt er 1896, dass der Mensch in den »Kampf ums Dasein« gestellt sei, er müsse sich der Natur fügen, denn »die Natur will es«. Von dieser Grundposition aus greift Förster Impfmethoden, Tierversuche und Fleischverzehr an. In der Lebensreformbewegung sah er die Möglichkeit eines Aufbaus für das »deutsche Blut« und der Erweckung des »deutsches Geistes«. Und er hoffte, dass der »Vegetarismus« später »dem jüdischen Treiben gefährlich« werde – als »volkserneuernde Macht«.

Ein solch völkischer Kosmos aus der damaligen Mitte der Gesellschaft kommt einem antisemitischen Superverschwörungs-narrativ gleich. Ob es im impfkritisch-lebensreformerischen Milieu eine lange Tradition der Verschwörungsmentalität gibt und Förster beispielhaft dafür steht, darüber muss zumindest diskutiert werden. In der Weimarer Republik waren die Impfgegner in verschiedenen Vereinen organisiert. Dem »Deutschen Reichsverband zur Bekämpfung der Impfung« gehörten etwa 300 000 Mitglieder an. Die Angst vor dem Impfen vereinte damals bereits »Lebensreformer und Sozialmediziner, wie Naturheilkundler, Kulturkritiker oder Fortschrittspessimisten, die ›der‹ Schulmedizin, ›dem‹ Ärztestand, sowie der staatlichen Gesundheitspolitik den Kampf ansagten«, berichtete Malte Thießen 2013 in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte. Unter dem Titel »Vom immunisierten Volkskörper zum ›präventiven Selbst‹« erinnerte der Historiker auch daran, dass negative Folgen von Impfungen damals noch wesentlich häufiger waren, so 1930 in Lübeck: »77 Kinder starben nach der Einführung eines Tuberkulose-Impfstoffes, mehr als hundert Kinder erlitten darüber hinaus schwere Gesundheitsschäden.« Dieser tragische Verlauf befeuerte die Kritik an Impfstoffen – obwohl bekannt wurde, dass die falsche Lagerung ursächlich war.

Homöopathie und Alternativmedizin

Die Grenzen von der Hinwendung zur Impfkritik und alternativen Heilmethoden sind damals wie heute fließend. Die Kritik, die der Gründervater der Anthroposophie Rudolf Steiner 1917 von einem ganzheitlichen Standpunkt aus am Impfen übte, hallt bis in die Gegenwart nach: »Die Seele wird man abschaffen durch ein Arzneimittel. Man wird aus einer ›gesunden Anschauung‹ heraus einen Impfstoff finden, durch den der Organismus so bearbeitet wird in möglichst früher Jugend, möglichst gleich bei der Geburt, dass dieser menschliche Leib nicht zu dem Gedanken kommt: Es gibt eine Seele und einen Geist.« Und »die Nachfolger der heutigen Materialisten werden den Impfstoff suchen, der den Körper ›gesund‹ macht, das heißt so macht, dass dieser Körper durch seine Konstitution nicht mehr von solch albernen Dingen redet wie von Seele und Geist, sondern ›gesund‹ redet (…). Den materialistischen Medizinern wird man es übergeben, die Seelen auszutreiben aus der Menschheit.« Letztlich richteten sich Impfungen gegen die menschliche Anlage zur Spiritualität.

Im anthroposophischen Spektrum wird denn auch gegenwärtig anhaltend über Impfen diskutiert. Die Medizinische Sektion am Goetheanum und die Internationale Vereinigung Anthroposophischer Ärztegesellschaften haben am 15. April 2019 zwar eindeutig erklärt, sie verträten keine Anti-Impf-Haltung und unterstützten keine Anti-Impf-Bewegungen. Die »anthroposophi-sche Medizin würdigt ausdrücklich den Beitrag von Impfungen zur weltweiten Gesundheit und unterstützt sie als wichtige Maßnahme zur Vermeidung lebensbedrohlicher Erkrankungen«. Sie sei »für eine integrative, individuelle Impfentscheidung«. Allein die Betonung der »individuellen Entscheidung« scheint in dem Milieu sehr oft dazu zu führen, sich nicht impfen zu lassen.

Dass Impfkritik und Alternativmedizin häufig zusammengehen, liegt im wahrsten Sinne des Wortes in der Natur der Sache. Mit dem Begriff »Alternativmedizin« werden unterschiedliche Methoden und Praxen bezeichnet, die nicht evidenzbasiert sind. Zu diesen nicht auf den Wirkungsprinzipien der Naturwissenschaft aufbauenden Heilmethoden werden unter anderen energetische Heilungen, magnetische Strahlungseindämmung oder elektromagnetische Abschirmungen und chemikalische Vermischungen verstanden. In diesem Kontext weist Nora Feline Pösl in Von Homöopathie und Handauflegen zur Hassideologie? 2020 darauf hin, dass der oft verwendete Begriff »Naturheilkunde« die überwiegende Zahl der Praktiken begrifflich nicht erfasst. Der Bund Deutscher Heilpraktiker (BDH) schreibt auf der von ihm betriebenen Website unter »Zehn Fakten zum Heilpraktikerberuf«, der Beruf kombiniere »bewährte Traditionen alter Heilverfahren mit den Errungenschaften und Erkenntnissen der modernen Wissenschaften«.

Die wohl verbreitetste alternative Heilmethode ist Pösl zufolge die Homöopathie. Das theoretische Konzept geht auf Samuel Hahnemann (1755–1843) zurück und besteht darin, »Ähnliches mit Ähnlichem« zu bekämpfen – das Simile-Prinzip. Einen ersten Aufsatz zu diesem Prinzip veröffentlichte er 1796 unter dem Titel »Versuch über ein neues Princip zur Auffindung der Heilkräfte der Arzneysubstanzen, nebst einigen Blicken auf die bisherigen«. Dessen angenommene Wirkweise erklärte er darin so: »Jedes wirksame Arzneimittel erregt im menschlichen Körper eine Art von eigner Krankheit, eine desto eigenthümlichere, ausgezeichnetere und heftigere Krankheit, je wirksamer die Arznei ist. Man ahme der Natur nach, welche zuweilen eine chronische Krankheit durch eine andre hinzukommende heilt, und wende in der zu heilenden (vorzüglich chronischen) Krankheit dasjenige Arzneimittel an, welches eine andre, möglichst ähnliche, künstliche Krankheit zu erregen im Stande ist, und jene wird geheilt werden; Simila simi-libus.«

Das Simile-Prinzip besteht also in der Annahme, dass eine Substanz, welche bei gesunden Menschen bestimmte Symptome auslösen würde, bei kranken Menschen gegen ebendiese Symptome helfen könne. Diese Substanz sollte weit über die Nach-weisbarkeitsgrenzen hinaus verdünnt werden und dann durch besondere Schütteltechnik »potenziert« werden. 1810 veröffentlichte Hahnemann sein Werk Organon der rationellen Heilkunde (später: Organon der Heilkunst), das »noch heute als das grundlegende Werk zur Homöopathie« gilt, wie es auf der Website homoeopathie-entdecken.de des Bundesverbandes der Arzneimittel-Hersteller heißt. Nach Erscheinen des Werks hielt Hahnemann Vorlesungen an der Leipziger Universität.

Seine Heilkunde fand immer größeren Zuspruch. Jahrhunderte später, 2021, wächst das Milieu immer noch oder wieder, der Markt für homöopathische Mittel bleibt stabil – trotz Schwankungen. Laut der Website heilpraktiker-fakten.de sind in der Bundesrepublik 2021 rund 47 000 Heilpraktiker:innen tätig. Die Zahl ist gestiegen, 2018 waren es an die 46 000. Hochgerechnet haben sie jährlich rund 46 Millionen Patient:innenkontakte, wie aus einer Umfrage des BDH hervorgeht. Das bedeutet: Jeden Tag gehen deutschlandweit mehr als 128 000 Personen zu Heilpraktiker:in-nen. Eine weitere Umfrage des BDH ergab, dass 68 Prozent der Befragten eine Vollerwerbspraxis und 32 Prozent eine Teilerwerbspraxis führen; 79 Prozent sind weiblich, 21 Prozent männlich und 0,13 Prozent divers.

Der Umsatz mit pflanzlichen und homöopathischen Arzneimitteln in deutschen Apotheken in den Jahren 2017 bis 2019 belief sich, laut Statis März 2021, bei rezeptfreien pflanzlichen Arzneimitteln in deutschen Apotheken auf rund 986 Millionen Euro. Betrachtet man allein homöopathische Arzneimittel, so werde damit jährlich »in Deutschland ein Umsatz von 670 Millionen Euro gemacht«, berichtete der NDR im März 2020. Früher wurden davon in Deutschland sogar von Jahr zu Jahr mehr gekauft, doch dieser Trend ist offenbar gestoppt, schreibt MedWatch am 28. August 2020. Schon 2019 seien wie im ersten Halbjahr 2020 weniger Packungen homöopathischer Mittel verkauft worden als im Vorjahreszeitraum. »Gingen im ersten Halbjahr 2019 noch gut 28 Millionen Packungen über die Apothekentische, so sank die Zahl der von Januar bis Juli 2020 verkauften Homöopathika um rund 10 Prozent auf nun 25,5 Millionen«, schreibt das Portal mit Bezug auf das Marktforschungsunternehmen IQVIA, das sich auf den Pharmabereich spezialisiert hat. Mit 87,5 Prozent seien etwas mehr Packungen von Patienten ohne Verschreibung in der Apotheke gekauft worden. Die Zahl der auf ärztliches Rezept abgegebenen homöopathischen Mittel sank noch deutlicher, so MedWatch.

Der Markt mit den Mitten und Methoden ist dennoch lukrativ. Viel Kritik an der ökonomischen Praktiken der Pharmaindustrie ist aus dem Milieu zu hören, was mehr als berechtigt ist, weniger jedoch über die Preise bei der Alternativmedizin: Reiki, 90 Minuten Chakra-Heilung, kann in Süddeutschland 70 Euro kosten, Fünf-Elemente-Kurs in Norddeutschland pro Person zwei Tage 325 Euro.

Wer vertraut der Homöopathie? Am 12. März 2020 veröffentlichte die Pharmazeutische Zeitschrift eine Forsa-Umfrage, nach der über zwei Drittel aller Anwender:innen homöopathischer Mittel Frauen sind – ein überdurchschnittlich hoher Wert. Mit vier Prozent Unterschied folgten Akademiker:innen (62 Prozent). Weiter auffallend: Unter den Nutzern homöopathischer Arzneimittel leben 59 Prozent in einem Haushalt mit einem monatlichen Nettoeinkommen von mehr als 3000 Euro. Diese Daten deuten auf eine materiell bessergestellte und gebildete Klientel hin.

Bedeutet Bildung auch, dass besonderer Wert auf wissenschaftliche Beweise gelegt wird? Die Akzeptanz alternativer Heilmethoden scheint mehr auf vermeintlicher Erfahrung und gelebtem Glauben zu beruhen. Die Ärztin Natalie Grams nennt in Homöopathie neu gedacht – was Patienten wirklich hilft (2015) unter anderem zwei Motive, warum Menschen sich der Homöopathie zuwenden: die »›ganzheitliche‹ Herangehensweise« und dass »Gefühle, Geist und Seele mitbehandelt« würden. Sie hält allerdings die Bezeichnung »Alternativmedizin« für problematisch, da so ausgedrückt werde, dass diese Medizin helfen würde. Grams ist eine der bekanntesten Kritikerinnen dieser Behandlungen. Vor Jahren wollte die frühere Homöopathin mit eigener Praxis in einer Publikation die wissenschaftliche Evidenz für diese Methoden darlegen. Sie scheiterte. Die Studien und Daten brachten keine wissenschaftliche Sicherheit.

In Homöopathie neu gedacht hält sie allerdings fest, dass es »die Homöopathie« nicht gebe, deshalb sei es »schwierig, die Methode insgesamt zu beurteilen«. Doch die »Theorie der homöopathischen Arzneimittelprüfung ist wissenschaftlich nicht haltbar« und »zu verwerfen« schreibt Grams, heute Kommunikationsmanagerin der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP). Aus dem Milieu der Alternativmedizin wird unter dem Motto »Vom Saulus zum Paulus« gegen sie gehetzt. Im Interview mit Pösl berichte sie von Veranstaltungen unter Polizeischutz und E-Mails mit Morddrohungen.

»Gesundheit erfahren« ist das Motto der Deutschen Homöopathie-Union DHU-Arzneimittel GmbH & Co. KG. Auf seiner Website erklärt das Unternehmen, das nach eigenen Angaben »Deutschlands größter Hersteller für homöopathische Einzelmittel und Schüssler-Salze« ist, den Namen und die Zusammensetzung der bekanntesten Darreichungsform von homöopathischen Mitteln: »Globuli ist die Mehrzahl von Globulus, lateinisch für Kügelchen. Die kleinen weißen Streukügelchen, die zunächst aus Saccharose (Zucker) bestehen, werden bei der Weiterverarbeitung zum Arzneimittel mit dem homöopathisch potenzierten Wirkstoff oder Wirkkomplex imprägniert (= benetzt)«; »grundsätzlich werden im gesamten Herstellungsprozess von homöopathisch aufbereiteten Globuli sehr viele verschiedene Wirkstoffe eingesetzt«. Die Mehrheit der Ausgangsstoffe seien pflanzlich, es gebe aber »auch mineralische und tierische Ausgangsstoffe«.

»Potenzierung« bezeichnet in der Homöopathie die starke Verdünnung des Wirkstoffs. So bedeutet zum Beispiel die häufig verwendete Potenzierung D-6, dass ein Teil des Grundstoffes auf eine Million Teile des Verdünnungsmittels verteilt wurde. Wegen dieser starken Verdünnung ist im späteren Arzneimittel kein einziges Molekül des Grundstoffes mehr nachweisbar. Dass die Mittel dennoch wirken sollen, wird in der Homöopathie damit erklärt, dass die Moleküle des Grundstoffs im »Gedächtnis« der Wassermoleküle weiter wirksam seien. Allerdings konnte bislang weder wissenschaftlich nachgewiesen werden, dass Wassermoleküle so etwas wie ein Gedächtnis besitzen, noch die generelle Wirksamkeit der Homöopathie.

Dass eine vergleichende statistische Analyse von mehr als 100 Studien ergab, dass homöopathische Mittel nur einen Placeboeffekt haben, stört auch zahlreiche Krankenkassen nicht. Sie zahlen für homöopathische Behandlungen und Arzneimittel – weil ihre Versicherten es wünschen. Die Kundenbindung scheint die Kosten wert zu sein.

Die Grünen und die Alternativmedizin

Welche gesellschaftspolitische Sprengkraft homöopathische Mittel bergen, zeigte sich bei Bündnis 90/Die Grünen. Vor dem digitalen Bundesparteitag am 22. November 2020 gab es einen massiven Streit über die Homöopathie, der sich fast ein Jahr lang hinzog. Auslöser war der Antrag »Echter Patient*innenschutz: Bevor-teilung der Homöopathie beenden!« für die Bundesdelegiertenkonferenz im November 2019. Darin hieß es, die Partei solle »für eine wissenschaftlich fundierte, faktenbasierte und solidarisch finanzierte medizinische Versorgung für alle« eintreten. Überdies wurde festgestellt: »Die Finanzierung von nachweislich nicht über den Placeboeffekt hinaus wirksamen Behandlungsmethoden ist mit diesem Grundsatz unvereinbar.«

Die Bundesführung der Partei um Annalena Baerbock und Robert Habeck erkannte, dass der Antrag viele Parteimitglieder in ihrem Selbstbild und -verständnis trifft. Dramatischer ausgedrückt: Er stellte den Wesenskern der Partei infrage. Dürfte doch kein anderes parteipolitisches Projekt in der Bundesrepublik so sehr von der zweiten Lebensreformbewegung beeinflusst worden sein wie die Grünen. Alternative Lebensformen schlossen alternative Medizin mit ein. Lieber Salbeitee aus dem Garten statt Hustensaft aus der Apotheke. In dieser zweiten Lebensreformbewegung tauchten auch rechts-ökologischen Gedanken neu auf.

Am 12. und 13. Januar 1980 konstituierten sich die Grünen in Karlsruhe als Partei. Die Mitglieder kamen aus der Ökologie- und Antiatomkraftbewegung, aus Friedens-, Frauen- und K-Gruppen, aber auch aus wertkonservativen und rechtsextremen Zusammenhängen. In einzelnen Vorläuferstrukturen der Partei waren weit rechts stehende Umweltschützer führend beteiligt. So hatte sich etwa die nationalistische Aktionsgruppe Unabhängiger Deutscher (AUD) oder die Solidaristenbewegung Ende der 1970er Jahre bei der Grünen Liste Umweltschutz in Hamburg, Hessen, Schleswig-Holstein und Niedersachsen eingebracht. Auf einem Koordinationstreffen Anfang 1978 in Darmstadt machte sich die heute als Holocaustleugnerin bekannte Ursula Haverbeck für eine Zusammenarbeit von Marxisten und Wertkonservativen stark. In diesem Kreis bewegte sich auch Joseph Beuys (1921–1986). Der renommierte Künstler kandidierte auch für die AUD.

Zwei Jahre später wirkte die wertkonservative Grüne Aktion Zukunft (GAZ) aktiv bei der Gründung der Grünen mit. Die Bundesversammlung am 22. und 23. März 1980 in Saarbrücken wählte Petra Kelly, Norbert Mann und August Haußleiter zu Parteisprechern. Im Juni musste Haußleiter, der führend bei der AUD mitgewirkt hatte, das Amt räumen. Ein ehemaliger AUD-Vorstand hielt ihm vor, 1965 mit der NPD über ein Wahlbündnis verhandelt zu haben.

Eine Aufnahme von der Dortmunder Bundesversammlung der Grünen im Juni 1980 visualisiert, aus welch heterogenen Bewegungen sich die Mitgliedschaft zusammensetzte: Otto Schily, damals als Anwalt der Terrorgruppe Rote Armee Fraktion (RAF) bekannt, steht in der Veranstaltungshalle. Vor ihm sitzt Herbert Gruhl (1921–1993), ehemaliger CDU-Bundestagsabgeordneter sowie früherer Vorsitzender des Bundes für Umwelt und Naturschutz (BUND) und Gründer der GAZ. Neben Schily steht Rudolf Bahro (1935–1997), DDR-Dissident, der mit seinem Buch Die Alternative 1977 zu einem der führenden Kritiker des SED-Staates wurde, im Gefängnis saß und dann in die Bundesrepublik abgeschoben wurde. Er ist im Gespräch mit dem Öko-Landwirt Bal-dur Springmann (1912–2003) aus Schleswig-Holstein. Springmann war Autor des Buches Bauer mit Leib und Seele sowie Herausgeber der Zeitschrift Die Saat. Bis heute halten extrem-rechte Projekte für Natur-, Tier-, Heimat- und Volkschutz den Grünen vor, Gruhl, Springmann und Co. aus der Partei gedrängt zu haben. In diesem Spektrum sind Gruhl und Springmann die »Gründungsväter« der ökologischen Bewegung in der Nachkriegszeit.

Gruhl dachte aber schon Umweltschutz und Einwanderung in einem besonderen Zusammenhang. In seinem Besteller Ein Planet wird geplündert schrieb er 1975, dass die Einwanderungspolitik der »europäischen Völker« eine »sagenhafte Dummheit« sei. 1992 warnte er in seinem Buch Himmelfahrt ins Nichts davor, dass »viele Kulturen in einem Raum zusammengemixt werden«. Denn der Wert des Gemisches sinke »mit zunehmender Durchmischung«. Als ihm daraufhin in einer RTL-Plus-Show am 14. April 1992 vorgehalten wurde, ob das nicht auf die These vom »unwerten Leben« hinauslaufe, entgegnete er: »Das ist ein Gesetz der Entropie, das wir besonders in der Ökologie haben, und dieses Gesetz gilt auch für menschliche Kulturen.«

Baldur Springmann machte keinen Hehl daraus, was er von der Demokratie in der Bundesrepublik hielt. Im Ostpreußenblatt schrieb er 2001: »Selten hat der eigentliche Machthaber unseres heutigen, sonst ziemlich gut getarnten autoritären Systems so unverhüllt sein wahres Gesicht gezeigt wie (…) mit dem von den Obergutmenschen ausgerufenen und von allen, allen braven Gutmenschen tapfer angetretenen Kreuzzug gegen ›Rechts‹«. In dem Artikel, in dem er auch für die extrem rechte Deutsche Aufbau-Organisation wirbt, schreibt er weiter: »Unsere (…) Chance ist es, daß wir dem weitgehend unterschwelligen, manchmal auch offen zutage getragenen, finsteren Haß vieler ›Grüner‹ und sonstiger Adepten der Frankfurter Schule gegen alles Deutsche das eh und je Stärkere, Schönere, Strahlendere entgegenstellen können: die Liebe, unsere Vaterlandsliebe.«

Und Bahro? Der Philosoph und Sozialökonom teilte mit Gruhl und Springmann nicht deren Bemühungen, rechts von den Grünen eine neue Öko-Partei aufzubauen. Ihn sorgte auf der Bundesversammlung der Grünen im Dezember 1984 allerdings die vermeintliche Wiederholung eines historischen Fehlers. In seiner »Hamburger Rede« warnte er, dass es in der Weimarer Republik ebenfalls eine breite Bewegung gegeben habe, die mit den bestehenden Verhältnissen mehr als unzufrieden war. Den Nationalsozialist:innen sei es damals gelungen, diese systemkritische Bewegung aufzunehmen, während die Linke mit dem »im Gewand völkischer Mythologie daherkommenden Widerstand gegen die entfremdete kapitalistische Entwicklung« nichts habe anfangen können.

Bahro wollte also eine antikapitalistische Bewegung entdeckt haben, deren völkische Züge eine Zusammenarbeit nicht ausschließen sollte. Dies umso mehr, als die planetare Krise in seinen Augen offenbar einen besonderen Handlungsdruck erzeugte. In der Rede, die auszugsweise in seinem Buch Logik der Rettung von 1987 erschien, zeigte sich Bahro überzeugt, dass die »Große Maschine« des Industriekapitalismus nicht reformierbar sei: »Der Mensch lebt nicht, um zu produzieren. Oder, daß er es vielmehr doch tut, ist gerade die Ursache seines Untergangs.« Um die »Apokalypse« zu verhindern, sei eine »Volkserhebung« notwendig. Das gebiete jedoch, dass die »ökologischen Kreise« nicht »das Erwachen im Volke sogleich als ›völkisch‹« denunzierten. Vielmehr müsse man das Links-Rechts-Schema überwinden, um aus der Minderheitenposition herauszukommen, meinte er. Das bedeute allerdings auch, dass »der vergangenheitsfixierte feige Antifaschismus« abgelegt werden und auch das Nationale bedient werden müsse. In einem Interview mit der jungen Welt im Herbst 1990 spitzte er seine Position weiter zu: »Eigentlich ruft es in der Volkstiefe nach einem grünen Adolf. Und die Linke hat davor nur Angst, anstatt zu begreifen, daß ein grüner Adolf ein völlig anderer Adolf wäre als der bekannte.« Bahro verließ die Grünen 1985, brachte sich aber weiter im linksalternative Milieu ein.

Glaubt man Erik Lehnert, Geschäftsführer des neurechten Instituts für Staatspolitik, war Bahro ein »großer Jünger-Leser«. Ernst Jünger gehörte zum Spektrum der »Konservativen Revolution«, die vor und nach dem Ersten Weltkrieg zutiefst rechte Positionen von antiliberal über antiparlamentarisch und antifeministisch bis antiegalitaristisch propagierte. Lehnert, dessen Mutter mit Bahro liiert war, berichtet im Gesprächsband Tristesse Droite, 2015 im neurechten Verlag Antaios erschienen, dass Bahros Assistenten ihm die neurechte Wochenzeitung Junge Freiheit gebracht hätten.

Bei den Grünen und im linksalternativen Milieu scheint Bahro heute kaum noch ein Name zu sein. In der Querdenken-Szene und Corona-Leugnungsbewegung ist es allerdings eine gängige Losung, neue Wege zu gehen statt weiter die ausgetretenen Pfade von links und rechts zu beschreiten. Und hier erinnert man sich durchaus noch an Bahro. In der Compact Spezial mit dem Titel »Die Querdenker – Liebe und Revolution« wird er als einer »der Vordenker« präsentiert. »Ein ewig Suchender« sei er gewesen, meint Sven Reuth in dem Sonderheft des rechten verschwörungsideologischen Magazins. Der Philosoph habe schon Anfang der 1980er Jahre »längst für sich den Schluss gezogen«, »dass die Menschheit nur noch mit einer umfassenden Selbstveränderung vor der Öko-Apokalypse zu retten sei«. Den Grünen habe Bahro bescheinigt, so Reuth, »nur ›Putzarbeiten auf der Titanic‹ auszuführen«.

Auch wenn Bündnis 90/Die Grünen heute von den Positionen Bahros, Gruhls und Springmanns weit entfernt sind: Im gegenwärtigen Diskurs über die Alternativmedizin in der grün-alternativen Bewegung werden jedoch antimoderne Reflexe und wissenschaftsfeindliche Positionen, wie sie schon in der ersten Lebensreformbewegung virulent waren, reproduziert und forciert. Als Sedimente sind diese im kollektiven Gedächtnis der linksalternativen Bewegung vorhanden, auch wenn sie nicht konkret erinnert werden.

Die Basis der Grünen bewegte die Parteispitze 2019 dazu, eine Kommission zur Positionsbestimmung in Sachen Homöopathie einzusetzen. Sie scheiterte, bevor sie die Arbeit aufnahm. Der Grund: Informationen aus einem internen Vorgespräch wurden an Medien durchgestochen. »Die Debatte um die ›Homöopathie‹ war von Anfang an durch einen aggressiven und teilweise polemischen Ton beschwert«, argumentierte der Bundesvorstand laut der taz. Till Steffen, Abgeordneter der Grünen in der Hamburger Bürgerschaft, wies bei der digitalen Veranstaltung »Corona Talk: Das Virus und Verschwörungsmythen« am 21. Januar 2021 darauf hin, dass die Akzeptanz wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Partei stark vom Thema abhänge. Gerade die jüngeren Mitglieder hätten massiv kritisiert, dass man sich bei der Diskussion über den Klimaschutz stark auf wissenschaftliche Fakten berufe, bei der Alternativmedizin jedoch nicht.

Keine subjektive Wahrnehmung. Die Grüne Jugend positionierte sich auf ihren Bundeskongress im April 2019 eindeutig: »Gesundheit statt Globuli!« ist ihr Beschluss gegen die Homöopathie überschrieben. Für ältere Parteimitglieder war er sicher ein Affront. Die Grüne Jugend greift darin nicht alleine die fehlende wissenschaftliche Evidenz für die Wirksamkeit der Methode auf. Die aktuelle Vergütungspraxis für homöopathische Behandlungen überdecke zudem die Schieflagen im Gesundheitssystem: »Homöopathische Behandlungen werden auch deshalb gerne in Anspruch genommen, da sich entsprechend tätige Ärzt*innen häufig mehr Zeit für einzelne Patient*innen nehmen können als wissenschaftlich orientierte Ärzt*innen.« Statt »viel Geld für Homöopathie auszugeben«, schlägt der Jugendverband vor, »sollten sich die Krankenkassen für die Förderung der sprechenden Medizin im Rahmen der Vergütungsstruktur einsetzen«.

Die Grüne Jugend hält zudem »vielen Homöopathiker*innen« eine »Diskreditierung von ›Schulmedizin‹« vor: »Einzelpersonen und der gesamten Pharmaindustrie wird unterstellt, dass sie die Wirkung von Globuli vor der Öffentlichkeit verbergen, um weiterhin Profite mit ›Schulmedizin‹ zu machen.« Das sei »einerseits grotesk, da homöopathische Mittel und Behandlungen häufig teurer sind als wirksame Medizin (…) Andererseits hat die Homöopathie hier große Schnittpunkte mit Esoterik, Anthroposophie und anderen pseudowissenschaftlichen oder kultischen Bewegungen. Darüber hinaus nutzen einige Homöopathie-Befürworter*innen antisemitische Argumentationsmuster.«

Kein Wunder, dass der Bundesvorstand der Grünen versuchte, diese Diskussion zu kanalisieren. Verschwörungsanhänger:innen in den eigenen Reihen, gar Antisemit:innen – das passt so gar nicht zum Selbstverständnis dieser linken Partei. Beim digitalen Bundeskongress vom 22. November 2020 fanden die Grünen aber einen Kompromiss. Sie gingen auf Distanz zur Homöopathie – ein bisschen jedenfalls. Im Grundsatzprogramm heißt es nun: »Leistungen, die medizinisch sinnvoll und gerechtfertigt sind und deren Wirksamkeit wissenschaftlich erwiesen ist, müssen von der Solidargemeinschaft übernommen werden«; »die Forschung zur Wirksamkeit zum Beispiel von Naturheilverfahren soll unterstützt werden«. Die Position der Partei zu den Kosten der Alternativmedizin erklärte der Bundesvorsitzende Robert Habeck so: »Krankenkassen können das bezahlen über einen Wahl-Tarif, wo diejenigen, die homöopathische Medikamente bezahlt haben wollen, über einen Sondertarif sich dafür auch versichern.« So gäbe es ein »Solidarsystem innerhalb der Homöopathie-Medikamenten-Liebhaber«, ohne dass die Allgemeinheit dafür zahlen müsse.

Das alternative Selbst und der Abschied vom rationalen Denken

Für Natalie Grams bleibt die Homöopathie ein möglicher »Einstieg zum Ausstieg aus dem kritischen Denken, aus dem rationalen Denken«. Mit dem Glauben komme auch eine Nähe zu Verschwörungs-narrativen, sagt sie zu Nora Feline Pösl in Von Homöopathie und Handauflegen zur Hassideologie? Pösl belegt in ihrer Studie durch die Auswertung von Social-Media-Kanälen, dass »die Themen Homöopathie und Alternativmedizin« eine »hohe Aufmerksamkeit im digitalen Raum erfahren«, die den »aktuellen politischen Diskurs polarisieren«. Bei dem berechtigen Informationsinteresse zum Coronavirus oder Impfen besteht die große Chance, bei verschwö-rungsnarrativen Optionen zu landen. Durch Netzwerkeffekte könnten Filterblasen entstehen, »in denen Verschwörungstheorien und rechte Ideologien als legitimes Wissen gelten«, warnt sie.

Der Effekt lässt sich auch bei den Ärzten für Aufklärung beobachten. Kaum verfolgt man deren Telegram-Kanal, der ÄfA, wird man gefühlt im Minutentakt mit Kurznachrichten bombardiert. Einer Nachricht über angebliche Zwangsimpfungen folgt ein Hinweis auf vermeintliche Verschwörungen, ein Meme oder Clip und, und, und. Solche Dauer-Fake-Informationen können zu politischen Radikalisierungen führen. Algorithmen forcieren diesen Prozess offensichtlich. »Wenn Personen sich mit Alternativmedizin beschäftigen und alternativen Heilmethoden«, hat Pösl festgestellt, dann dürfe »es langfristig wahrscheinlicher sein, dass sie durch algorithmische Empfehlungen in Communities geraten, bei denen ein geschlossenes esoterisch-verschwörungstheoretisches Weltbild und eine grundsätzliche Wissenschaftsfeindlichkeit vorliegt«. Sie verweist auf Erkenntnisse einer Forschungsgruppe um Manoel H. Ribeiro von 2019, nach denen »durch eine Personalisierung der Ergebnisse, die automatisch über die angeklickten Inhalte verläuft, (–) immer weitere Videos in diesem Themenfeld empfohlen oder sogar automatisch wiedergegeben« werden.

Die bereits vorgestellte Studie von Jonas H. Rees und Pia Lamberty in dem von Andreas Zick, Beate Küpper und Wilhelm Berghan 2019 herausgegebenen Sammelband Verlorene Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2018/19 belegt, wie weit verbreitet eine Verschwörungsmentalität in Deutschland derzeit ist.

Die Auswirkung dieser Weltwahrnehmung komme allerdings nicht allein im Politischen zum Tragen, sie greife auch im Privaten. Rees und Lamberty sind auf Korrelationen gestoßen, die die Beobachtung von Pösl bestätigen: Demnach konnten Studien zeigen, »dass Menschen mit ausgeprägter Verschwörungsmentalität konventionellen medizinischen Ansätzen misstrauischer gegenüberstehen und positivere Einstellungen gegenüber sogenannten alternativen Heilmethoden teilen«. Wer glaube, »dass die Mächtigen machen, was sie wollen, nutzt beispielsweise Homöopathie oder Nahrungsergänzungsmittel tendenziell öfter und verweigert eher Impfungen«.

Lässt sich eine ähnliche Korrelation zwischen Esoterik und Verschwörungsmentalität feststellen? Clara Schließler, Nele Hellweg und Oliver Decker haben das für den Sammelband Autoritäre Dynamiken. Alte Ressentiments – neue Radikalität (2020), herausgegeben von Oliver Decker und Elmar Brähler, untersucht. In ihrem Beitrag »Aberglaube, Esoterik und Verschwörungsmentalität in Zeiten der Pandemie« betonen sie, dass »keine einheitliche wissenschaftliche Definition von Aberglauben und Esoterik« vorliege. Auch innerhalb des entsprechenden Milieus sei man sich nicht einig, wer oder was dazugehöre. Die Studie offenbart jedoch, dass sowohl »abergläubische als auch esoterische Ansichten« in der Bevölkerung weit verbreitet sind: »13,9 Prozent der Befragten stimmen den Aussagen zum Glauben an Glücksbringer, Wahrsagerei, Wunderheiler und Astrologie zu«, und »52,4 Prozent sind der Ansicht, dass die gegenwärtigen Krisen ein neues Zeitalter« ankündigten. »52,2 Prozent bejahen das esoterische Motiv über eine Natur, die die Menschen mit den gegenwärtigen Krisen ermahne.« Und sie stellen weiter fest: »mehr als doppelt so viele Frauen (18,4 Prozent) wie Männer (8,8 Prozent)« seien »abergläubisch«.

Die Dimension der esoterischen Selbstausrichtung könnte durch die persönliche Selbstbehauptung virulenter sein. Im linksalternativen Milieu bildete sich ab den 1960er Jahren, schreibt Sven Reichardt in Authentizität und Gemeinschaft, eben auch ein »linksalternatives Selbst«, »besonders kritisch und selbstreflektiert«. Das Individuum sollte sein »Innerstes von den Panzerungen« befreien. Der Kanon der »bürgerlichen Werte wie Pflicht, Treue, Ehre, Gehorsamkeit und Vaterlandsliebe« wurde ersetzt durch einen Kanon, »der Gleichheit, Kreativität, Spontanität, Kollektivität« und Protest umfasste. »Die Geschichte des linksalternativen Milieus« füge sich letztlich »in die historische Periode der Freisetzung des ›postmodernen Selbst‹«, hebt Reichardt hervor, und aus der »›post-bürokratischen Subjektkultur‹« habe sich das »konsumptorische Kreativsubjekt« herausgebildet, »welches zum ›Unternehmer‹ seines Selbst« wurde. Die »Linksalternativen« seien »gut ausgebildete Wohlstandskinder« gewesen.

Aus diesem Milieu entwickelte sich früh eine »Identität in Form einer ›Politik der ersten Person‹«. Auf provokant-literarisch Weise hat Michel Houellebecq in Elementarteilchen 1998 der 68er-Bewegung eine egoistischen Selbstfindung vorgehalten. In der heutigen Bio-Boheme scheinen revoltierender Habitus und konsumistische Konformität kein gravierender Widerspruch mehr. Bei den Protesten der Querdenken-Szene und Corona-Leug-nungsbewegung ist aus der »ersten Person« offenbar hier und da ein »ich zuerst« geworden. Auf das im Grundgesetz verankerte Recht auf »körperliche Unversehrtheit« pocht man zwar für sich selbst, gesteht es anderen aber offenbar nicht zu. Wie sonst lassen sich die Verweigerung von Masken und die Demonstrationen ohne Abstand deuten?

In den Kreisen kursieren Adressen von Ärzten aus mehreren Bundesländern, die falsche Atteste zur Befreiung von der Maskenpflicht ausstellen. Von der Maskenpflicht darf sich regulär befreien lassen, wem das Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung wegen gesundheitlicher oder psychischer Einschränkungen nicht zuzumuten oder nicht möglich ist. Nach Informationen der Hamburger Ärztekammer kann diese Befreiung bei Asthma oder anderen schweren Lungen- oder Herzerkrankungen erfolgen. Staatsanwaltschaften haben wegen der unberechtigten Atteste Ermittlungen aufgenommen. Einer der Beschuldigten in Hamburg: der Gründer von ÄfA. Die illegale Intervention von Ärzten, die solche Atteste ausstellen, bringt Menschen, die wirklich keine Masken tragen können, in öffentlichen Misskredit. Die tiefe Herzensliebe der Querdenker:innen und Corona-Leugner:innen – verkündet in Reden, gemalt auf Plakaten – zieht keine weitreichende Nächstenliebe nach sich.