Verunsicherung und Versteinerungen. Ambivalenzen der Anthroposophie

Die Pressemitteilung der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland e.V. vom 18. September 2020 ist kurz und knapp. Spätestens nach der Demonstration der Querdenken-Bewegung in Berlin am 29. August 2020 hätten verschiedene Medien die »Tätigkeit der Anthroposophischen Gesellschaft in einen Kontext mit rechtsradikalen und rassistischen Gruppierungen gestellt«, erläutert Generalsekretär Michael Schmock für den Vorstand den Anlass des Schreibens. Die Pressemitteilung ist als »Klarstellung« überschrieben. »Als Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland distanzieren wir uns ausdrücklich und uneingeschränkt von jeglichen rechtsradikalen, rassistischen und antisemitischen Gruppierungen und deren Gedankengut«, erklärt der Vorstand mit Sitz in Stuttgart. Und betont, dass die anthroposophische Bewegung weltweit arbeite »und unabhängig von Nationalität sowie ethnischer Zugehörigkeit oder Geschlecht eine allgemeinmenschliche und soziale Ausrichtung praktiziert«.

Eine Aussage, die vieles auslässt. So kann die Pressemitteilung ebenso als Distanzierung von der Querdenken-Bewegung wie als Anklage gegen die Berichterstattung gedeutet werden. Von der Selbstreflexion, die in der Anthroposophie sonst so wichtig ist, ist hier wenig zu spüren. Ganz so, als wenn nicht sein soll, was nicht sein darf. Die anthroposophische Gemeinde selbst scheint allerdings kritischer zu sein als die Anthroposophische Gesellschaft. Hier läuft längst eine Debatte, die auch an frühere Diskussionen anknüpft.

Seit Beginn der Proteste gegen die Pandemie-Maßnahmen sind Rudolf-Steiner-Bewegte immer wieder mit auf der Straße. Bei einer Demonstration in Karlsruhe rief der Leiter der anthro-posophischen Karl Stockmeyer Schule am Karlsruher Parzival-Zentrum, Bernd Ruf, zur Revolution auf. Er bezeichnete die Maskenpflicht an Lehranstalten in einem Buchbeitrag als »kultusministerielle Skandalverordnung«. Der Beitrag mit dem Titel »Das Corona-Trauma und die therapeutischen Möglichkeiten der Notfallpädagogik« erschien im Dezember 2020 in dem von Michael Glöckler, Thomas Hardtmuth u. a. herausgegebenen Sammelband Corona und das Rätsel der Immunität. Darin greift Ruf die Behauptung des Arztes und Corona-Leugners Bodo Schiffmann auf, dass das Tragen von Masken zu Kopfschmerzen, Übelkeit, erhöhtem Puls, Herzstillstand, Krampfanfällen und Bewusstlosigkeit führen könne. Über die anthroposophischen Akanthos Akademie in Tübingen kann der Band bestellt und auch über andere anthroposophische Websites bezogen werden.

In Biberach klagte während einer Demonstration im Mai 2020 Wilfried Kessler, Fachlehrer für Eurythmie, Literatur und Theater an der Freien Waldorfschule Ulm, in seiner Rede: »Wer hätte gedacht, dass in dem Land der Dichter und Denker, in dem Friedrich Schiller die Worte ›Wie wohl einem bei Menschen ist, denen die Freiheit der Anderen heilig ist‹ gesprochen und Rudolf Steiner das tiefste Werk zur Freiheit geschrieben hat, die Menschen gedemütigt werden, einen Maulkorb zu tragen?!«. Er fuhr fort, es sei »mit dem Kunstgriff eines Virus, mit dem Kunstgriff der Todesangst ein die Menschen bestimmender, bedrohlicher Raum geschaffen worden, der (…) durch eine gewaltige Zensur, Hetz- und Diffamierungskampagnen der Regierung und der Hofmedien aufrecht erhalten wird, um jegliches eigenständige Denken, jegliches Aufdecken von Tatsachen auszumerzen«. Und er fragte rhetorisch: »Lernen wir den Impuls der Weißen Rose, das Opfer von Hans und Sophie Scholl nur als Oberflächenwissen oder verbinden wir uns existentiell damit und entwickeln Zivilcourage?!«

An der Freien Waldorfschule Freiburg-Wiehre wehrte sich nicht etwa eine einzelne Lehrperson gegen die verordneten Hygienemaßnahmen – es waren das Kollegium und große Teile der Elternschaft, die einzelne Maßnahmen nach Informationen der taz vom 4. Dezember 2020 ablehnten. Ein Vater, der aus Sorge vor Ärger an der Schule anonym bleiben wollte, berichtete, die Schule habe erklärt, dass sie sich um die Waldorfpädagogik sorge. »Die Pädagogik geht über alles, über jede Pandemiemaßnahme«, meinte der Vater.

Vor Ende der Sommerferien 2020 habe es aus der Elternschaft einen Aufruf zum Maskenboykott gegeben. Unter den Eltern sei viel gestritten worden. Die Schule verschickte mehrere Mails, die der taz vorlagen – und die Aussagen des Vaters bestätigen. Im Protokoll der Schulratssitzung von Anfang Oktober wird die Hygienebeauftragte der Schule zitiert. »Es gelte, einen Raum zu schaffen, in dem sich alle wohl fühlten: So gibt es chronisch Kranke oder auch Angehörige (…), die sich in der Schule weiter wohl und sicher fühlen sollen. Und es gibt Gesunde, die sich durch das Tragen von Masken in ihrer Freiheit eingeengt fühlen und Sorge um die Umsetzung der Waldorfpädagogik haben.«

An der Waldorfschule Markgräflerland im baden-württembergischen Müllheim beklagte die Schüler:innenmitverwaltung den Umgang mit Schutzmasken. In einem offenen Brief bemängelte sie, dass ein kleiner Teil des Lehrer:innenkollegiums der Waldorfschule sich »aus Überzeugung« seit Monaten weigere, Masken zu tragen, berichtete der Spiegel am 24. November 2020. Gespräche hätten nichts geändert. Als ein Schüler aus der zwölften Klasse ankündigt, sich an die örtliche Behörde zu wenden, sei er von einer Maske-verweigernden Lehrerin »in überheblichem, ironischem Tonfall« aufgefordert worden, das auch zu tun. Die Polizei rückte an, der Schüler bekam Ärger. Der Geschäftsführer und zwei Mitglieder des Verwaltungsrates drohten ihm wegen »Verrat und Vertrauensbruch« mit dem Schulausschluss.

Alles Einzelphänomene, ließe sich einwenden. In der Bundesrepublik bestehen 245 Waldorfschulen – weltweit mehr als 1100 Waldorf- oder Waldorf-inspirierte Schulen. Nach Angaben des Bundes der Freien Waldorfschulen (BdFWS) vom Januar 2021 besuchen in der Bundesrepublik 87 765 Schüler:innen die Schulen in privater Trägerschaft, 9000 Lehrkräfte unterrichten dort. Die Schulen haben sich zwar im BdFWS zusammengeschlossen, sie sind jedoch autonom, haben kollegiale Selbstverwaltungen und individuelle Konzepte. Die Folge: Allgemeingültige Aussagen lassen sich kaum treffen.

Eine Stellungnahme des BdFWS und zwei offene Briefe aus diesem Schulspektrum verweisen aber auf ein mögliches strukturelles Phänomen. Am 13. August 2020 veröffentlichte der Dachverband eine Pressemitteilung mit dem Titel: »›Kinder brauchen Bewegung und Begegnung‹ – Schutzmaßnahmen müssen altersgemäß und praktikabel sein«. Darin legte der Sprecher des BdFWS, Henning Kullak-Ublick, dar, dass in »dieser schwierigen Ausnahmesituation alles dafür« zu tun sei, »dass wir vor allem unsere pädagogische Phantasie aktivieren, um den Kindern ein Lernen zu ermöglichen, das sie als handelnde, fühlende und denkende Wesen ernst nimmt«. In dieser Krisensituation seien »offene und dynamische Lehrpläne« nötig, um »alle Möglichkeiten aus(zu)schöpfen, um eine gesunde und angstfreie Entwicklung der Kinder und Jugendlichen zu fördern«.

Der BdFWS unterstütze »ausdrücklich die Bemühungen zur Eindämmung der durch Sars-Covid-19 ausgelösten Pandemie«, betont Kullak-Ublick. Eine Maskenpflicht lehne er aber ebenso ab wie Distanzregeln, die pädagogisch kontraproduktiv seien. »Wir müssen den jungen Menschen emotionale, Willens- und Denkerfahrungen ermöglichen, die nicht von Angst geprägt sind, sondern die sie stärken, um in dieser immer komplexer werdenden Welt zurechtzukommen«, führt Kullak-Ublick als Begründung an und empfiehlt: »Wir brauchen daher nicht eine Reduktion, sondern eine Erweiterung unseres pädagogischen Instrumentariums.« Dies müsse die Leitidee für Bildungspolitik in einer Pandemie sein. Am 9. September 2020 wurde der Text um einen Passus ergänzt, wonach man die angesprochenen Maßnahmen nur für »Kinder im Grundschulalter« ablehne und im Übrigen »landesrechtliche Verordnungen« einzuhalten seien.

Niemand dürfte dem Appell widersprechen, sich Gedanken darüber zu machen, wie Bildung in Zeiten der Pandemie gestaltet werden kann. Auf Widerspruch stoßen sollte allerdings, dass in dem Text nicht auf das gesicherte Wissen über die Weiterverbreitung des SARS-CoV-2 eingegangen wird. Der Hauptübertragungsweg ist laut Robert Koch-Institut (RKI) die respiratorische Aufnahme virushaltiger Partikel, die beim Atmen, Husten, Sprechen, Singen und Niesen entstehen. »Je nach Partikelgröße bzw. den physikalischen Eigenschaften unterscheidet man zwischen den größeren Tröpfchen und kleineren Aerosolen, wobei der Übergang zwischen beiden Formen fließend ist«, gibt das Institut den weltweiten Forschungsstand wieder. »Während insbesondere größere Partikel schnell zu Boden sinken, können Aerosole auch über längere Zeit in der Luft schweben und sich in geschlossenen Räumen verteilen.« Aus diesem Grund empfiehlt das RKI »eine Mund-Nase-Bedeckung in der Öffentlichkeit« sowie einen Abstand von 1,5 Metern zu anderen Menschen.

Die Skepsis des Dachverbandes der Waldorfschulen gegenüber den Pandemie-Maßnahmen spiegelt sich in zwei offenen Briefen aus dem Waldorfspektrum. Am 26. August 2020 erreichte die Ministerin für Schule und Bildung in Nordrhein-Westfalen, Yvonne Gebauer (FDP), ein offener Brief von Lehrer:innen und Erzieher:innen an Walddorfschulen. Die Erstunterzeichnerinnen Antje Bek, Dozentin für Waldorfpädagogik und ehemalige Lehrerin an der Rudolf-Steiner-Schule Dortmund, und die Lehrerinnen Valerie Moser, Tamara Langenbrink und Annelie Schlabach von der Freien Waldorfschule Dinslaken legen darin dar, dass durch die Maßnahmen eine »gesunde Entwicklung der Kinder« gefährdet und das Motto der Waldorfschulen »Erziehung zur Freiheit« nicht zu gewährleisten sei. »Durch das Einhalten von Abständen und das Tragen von Masken werden unsere pädagogischen Handlungsmöglichkeiten massiv beschnitten«, schreiben sie, und »aufgrund des mit Masken vermummten Gesichtes« der Schülerinnen und Schüler könnten sie nicht erkennen, wie »es dem einzelnen« gehe.

Das Gleiche treffe für »die gegenseitige Wahrnehmung der Schüler« zu. Die Beziehung zum anderen werde »auf der emotionalen Ebene durch die Mund-Nase-Bedeckung massiv gestört und damit ein wesentliches Element der Erziehung und der Sozialentwicklung beschnitten«. Die Schule werde zu einer Gefahrenzone mit »massiven Ängsten«, auch durch den »permanenten Verdacht«, Mitschüler:innen, Freund:innen oder Lehrer:innen anzustecken. »Eine Lernatmosphäre, in der jeder das Gefühl hat, nicht ein- und ausatmen zu können, kann nicht im Sinne einer pädagogischen Überzeugung sein.« Mit Bezug auf den BdfWS werden die Distanzregeln zudem als »pädagogisch kontraproduktiv« bezeichnet. Das Datum des Briefes lässt offen, ob die später vom Verband vorgenommene Ergänzung »Kinder im Grundschulalter« mitgetragen wird. Den Brief unterzeichneten – nach Angaben der Initiatorinnen – 1069 Menschen »aus ganz Deutschland«. Bis zum 1. September 2020 – der letzten Aktualisierung im Internet – waren es 1299.

Der zweite Adressat eines offenen Briefs ist keine weitere staatliche Institution, sondern der BdfWS selbst. Aus Baden-Württemberg erhielt er am 2 September 2020 von Eltern und Leh-rer:innen aus Waldorfschulen ein Schreiben mit der Bitte, sich »öffentlich bezüglich der Maßnahmen der Kultusministerien« zu positionieren. Die Bitte legt nahe, dass die Pressemitteilung des Dachverbandes knapp drei Wochen zuvor als nicht deutlich genug wahrgenommen wurde. Deutet sich in den bisher zitierten offenen Briefen das anthroposophische Weltbild in seiner waldorf-pädagogischen Ausgestaltung nur an, wird in der internen Kritik ausgiebig Bezug darauf genommen. Die Erzieherin Maria Schober und die Waldorfpädagoginnen Lena Fischer, Aglaia Peters und Adelheid Dieterle führen an, das Ziel der »anthroposophischen Pädagogik« sei es, die »Schülerinnen und Schüler zu befähigen, mündige und sozial verantwortliche Gestalter:innen der Welt zu werden«. Aus diesem Anliegen sowie der Idee der »Förderung der emotionalen und seelischen Entwicklung jedes einzelnen Kindes« heraus unterrichteten sie an Waldorfschulen und ließen sie ihre Kinder diese besuchen.

Die staatlichen Verordnungen schränkten jedoch den Unterricht und das Leben an den Waldorfschulen ein, man fürchte, »den eigenen anthroposophischen Ansprüchen nicht mehr genügen« zu können. »Social distance statt spielendes Miteinander, verhüllte Mimik statt lebendiger Ausdruck von Emotion, Vorsicht und Angst, statt Vertrauen und Geborgenheit« – zunehmend sei »dies Realität in unseren Bildungseinrichtungen«. Zudem könnten »rhythmischer Unterricht, Singen, Rezitieren und gewisse künstlerische Tätigkeiten häufig nicht mehr stattfinden«. Dabei seien dies »Grundelemente der Waldorfpädagogik«.

Stattdessen werde den Schüler:innen »mittels der Pandemie-Maßnahmen ein kühles, rein naturwissenschaftlich-funktionales Verständnis des Menschen vermittelt, bei dem Körper und Seele nicht ganzheitlich« betrachtet würden. »Dies entspricht nicht dem anthroposophischen Menschenbild«, schreiben sie. Und sie zitieren aus Rudolf Steiners Vortrag »Vom Einheitsstaat zum dreigliedrigen Organismus« vom 6. Januar 1920: »›Es wird viel mehr als auf die Art, wie die Bazillen und Bakterien einziehen in unseren Organismus, darauf gesehen werden, wie stark wir von der Seele und vom Geiste geworden sind, um diesen Invasionen zu widerstehen.›« Der Brief erhielt ebenfalls breite Unterstützung. Bis zum Zusendungstag unterschrieben ihn »über 1000 Menschen« – wieder aus dem bundesweiten Spektrum der Anthroposophie.

»Geisteswissenschaft« und Praxis

Bemerkenswert ist, dass hier die Kritik an den Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung spirituell unterfüttert wird: Die Seele steht gegen die Naturwissenschaft, der Geist gegen das Funktionsdenken. In dem kurzen Rekurs auf Steiner wird zudem angedeutet, dass sich die »Invasion« von Bazillen und Bakterien seelisch und geistig beeinflussen lasse – Alternativmedizin versus Schulmedizin. Eine Überinterpretation?

Das Bestreben von Rudolf Steiner (1861–1925), dem Begründer der Anthroposophie, war es, den Menschen ihre geistige Dimension bewusst werden zu lassen. In über 350 veröffentlichten Werken, die meist auf Vorträgen beruhten, entfaltete Steiner, der bereits als Siebenjähriger eine erste Erfahrung mit Hellsichtigkeit gemacht haben will, seine esoterische »Menschenkunde«. Seine Einblicke »in die geistige Welt« bilden die Basis für eine besondere »Geisteswissenschaft«, die »Anthroposophie«, aus dem griechischen »anthropos« (Mensch) und »sophia« (Weisheit), so Adolf Baumann, der Standardwerke zur Anthroposophie vorgelegt hat wie ABC der Anthroposophie. Ein Wörterbuch für jedermann oder Wörterbuch der Anthroposophie – Grundlagen, Begriffe, Einblicke. Diese Geisteswissenschaft finde ihren Niederschlag in den verschiedensten Anwendungsbereichen: »Medizin (…). Heilmittelherstellung (…), Pädagogik, Theologie (…). Sozialwissenschaft (…), Landwirtschaftsweise (…) künstlerische Sparten wie Eurythmie, Dramatik (…), Sprachkunst (…), Baukunst und bildende Künste«. Dabei wird kein geringeres Anliegen verfolgt als die Veränderung des Menschen und der Welt und des Kosmos.

Aus dieser auf spirituellen Erkenntnissen beruhenden selbstbezeichneten Geisteswissenschaft heraus hielt Steiner der katholischen Kirche vor, den Menschen »entgegen der Bibel« als ein aus »Körper und Seele bestehendes Wesen« anzusehen, wobei der Seele lediglich einige geistige Eigenschaften zugebilligt würden. Dieses »verhängnisvolle kirchliche Dogma von der Dichotomie« ersetzte Steiner, so Baumann, »durch die Trichotomie«. Demnach ist der Mensch ein dreigliedriges Wesen mit Körper, Seele und Geist. In dieser Erweiterung liege eine von Steiners »großen Leistungen für ein neues Selbstverständnis des Menschen«, betont Baumann. Diese Annahme führt Steiner zu einer weiteren Annahme, dass der Mensch einen physischen Körper, einen »Ätherleib« (Geistgestalt), einen »Astralleib« (Seele) und das Ich-Be-wusstsein habe.

Das menschliche Dasein beginnt für Steiner nicht mit der Geburt und endet auch nicht mit dem Tod. Bereichert um die Erfahrung eines früheren Erdenlebens kehrt der Geist des Menschen aus dem Jenseits immer wieder auf die Erde zurück. Sowohl die Wiederverkörperung, die Reinkarnation, als auch das selbstgeschaffene Schicksal, das Karma, sind zentrale Elemente der Anthroposophie. So lassen sich körperliche Krankheiten und psychische Behinderungen ebenso wie soziale Benachteiligungen oder gesellschaftliche Ausgrenzung als Folge eines schlechten Karmas aus dem Vorleben interpretieren. Erst die Hinwendung zum Wissen von der Wiederverkörperung des Menschen ermöglicht Steiner zufolge die Erkenntnis, dass der Mensch durch geistige Schulung in sich höhere Organe ausbilden kann, die ihn dem »Geistigen im Weltall« nahebringen.

Die Anthroposophische Gesellschaft legt auf ihrer Website die Auffassung Steiners mit einem längeren Zitat dar: »Unter Anthroposophie verstehe ich eine wissenschaftliche Erforschung der geistigen Welt, welche die Einseitigkeiten einer blossen Naturerkenntnis ebenso wie diejenigen der gewöhnlichen Mystik durchschaut und die, bevor sie den Versuch macht, in die übersinnliche Welt einzudringen, in der erkennenden Seele erst die im gewöhnlichen Bewusstsein und in der gewöhnlichen Wissenschaft noch nicht tätigen Kräfte entwickelt, welche ein solches Eindringen ermöglichen.« Hinter der niederen materiellen Welt stehe also eine höhere göttlich-geistige Welt. Diese Welt im Jenseits scheint wichtiger als Diesseits, als die unvollkommene Welt auf Erden.

In dem Vortrag »Praktische Ausbildung des Denkens« führte Steiner am 18. Januar 1909 aus: »Der Glaube, daß die Welt durch Denken hervorgebracht worden ist und sich noch fortwährend so hervorbringt, der erst macht die eigentliche innere Denkpraxis fruchtbar«, und »es ist immer der Unglaube gegenüber dem Geistigen in der Welt, der selbst auf wissenschaftlichem Boden die schlimmste Unpraxis des Denkens hervorbringt«. Ein großer Teil der Literatur, »besonders auch der naturwissenschaftlichen, wird für den, der wirklich richtig zu denken vermag, durch solche krumme verkehrten Gedanken eine Quelle von Wirkungen bis zu physischem Schmerz, wenn er sich durch sie hindurchlesen muß«. Auf dieser esoterischen Basis ist jede wissenschaftsfeindliche Position formulierbar – sei es zum Forschungsstand beim Nasen-Masken-Schutz, sei es zu Distanzregelungen oder zum Impfen.

Mit diesem spirituellen Hintergrund geht aber auch ein autoritärer Habitus einher. Das ist ein Grundphänomen der Esoterik, da es immer auf der einen Seite Erkennende und Eingeweihte gibt und auf der anderen zu Erweckende und Erkenntnissuchende. Was die Nachprüfbarkeit seines Wissens angeht, so räumt Steiner als Erkennender in Die Geheimwissenschaft im Umriß (1910) ein: »Nun muß auch hier wieder gesagt werden, daß Forschungen auf dem übersinnlichen Gebiet des Daseins nur mit Hilfe des geistigen Wahrnehmens (…) angestellt werden können (…) Erforscht können die übersinnlichen Tatsachen nur durch die übersinnliche Wahrnehmung werden; sind sie aber erforscht und werden sie von der Wissenschaft des Übersinnlichen mitgeteilt, so können sie eingesehen werden durch das gewöhnliche Denken, wenn sie nur wirklich unbefangen sein will.« Kurz: Der Meister hat erkannt und verkündet, die Jünger folgen und verbreiten, die Suchenden hören zu und lernen.

Steiner wollte keinen bloßen Glauben an seine Aussagen, er erwartete allerdings, dass sie neutral, ohne Zustimmung oder Ablehnung, aufgenommen werden, glaubt Baumann zu wissen. In Theosophie. Einführung in übersinnliche Weltanschauung und Menschenbestimmung klingt Steiner weniger offen: »Schon der Einwand: ich kann auch irren, ist störender Unglaube. Er zeigt, dass der Mensch kein Vertrauen hat in die Kraft des Wahren.« In Credo – Der Einzelne und das All, vermutlich um 1888 verfasst, findet sich der Satz »Lasse die Wahrheit zum Leben werden; verliere Dich selbst, um Dich im Weltgeist wiederzufinden«, der sich sicher auch so lesen lässt: »Folge meinem Geist, gib dich meinem Weltbild hin.«

In Praktische Ausbildung des Denkens klingt eine missionarischen Intention durch, da durch die praktische Umsetzung der Steiner’schen Gedanken Akzeptanz für sie gewonnen werden soll, ohne dass die Praktizierenden immer alles verstehen müssten. »Es muß die Frucht der geisteswissenschaftlichen Bewegung sein, daß sie wirklich Praktiker ins Leben stellt. Es ist nicht so wichtig, daß der Mensch dieses oder jenes für wahr halten kann, sondern daß er es dahin bringe, die Dinge richtig zu überschauen. Viel wichtiger ist die Art und Weise, wie Anthroposophie eindringt in unsere Seele und uns anleitet zur Tätigkeit unserer Seele und unseren Blick erweitert, als daß wir bloß über die sinnlichen Dinge hinaus- und ins Geistige hineintheoretisieren«, so Steiner am 18. Januar 1909. Und er führte weiter aus: »Das ist eine wichtige Mission der anthroposophischen Bewegung, daß durch sie des Menschen Denken in Bewegung gebracht wird, so geschult wird, daß er denkt, daß der Geist hinter den Dingen steht. Wenn die an-throposophische Bewegung diese Gesinnung entfacht, dann wird sie eine Kultur begründen, aus der nie ein solches Denken hervorgehen wird, daß die Leute von innen den Wagen anschieben wollen. Das fließt ganz von selbst in die Seele hinein.«

Vor diesem Hintergrund können anthroposophische Projekte wie Demeter mit der biodynamischen Landwirtschaft, Weleda mit der ganzheitlichen Naturkosmetik und Arznei sowie die Waldorfschulen und -kindergärten als »etwas wahrhaft Praktisches« verstanden werden, nicht nur um selbst im Steiner’schen Sinne zu leben, sondern auch um den Steiner’schen Geist weiter zu verbreiten.

Die ersten organisatorischen Bemühungen startete Steiner schon 1902 als Generalsekretär der deutschen Sektion der Theo-sophischen Gesellschaft (TG), indem er einen eigenen Zirkel um sich aufbaute. Mit der TG, die sich auf die esoterischen Einsichten von Helena Petrovna Blavatsky (1831–1891) berief, brach er aber 1912/13. Denn Steiner sprach dem »Ich« eine stärkere Relevanz für einen spirituellen Entwicklungsweg zu als Blavatsky und bestritt, dass Jesus Christus nur ein hoch entwickelter Menschen neben anderen gewesen sei. Aus diesem ersten Zirkel entstand nach dem Verlassen der TG die Anthroposophische Gesellschaft, der Steiner nicht beitrat, die er aber beriet. Er habe seine Wirksamkeit nicht von einer irdischen Vereinigung abhängig machen wollen, schreibt Baumann. Wegen interner Querelen gründete sich die Gesellschaft 1923/24 neu; Steiner trat ihr jetzt bei und übernahm den Vorsitz. Etwa zu der Zeit war im schweizerischen Dornach bei Basel das erste Goetheanum eröffnet worden und bald darauf abgebrannt. Es wurde wieder aufgebaut und ist bis heute Sitz der Anthroposophie in der Schweiz.

Rudolf Steiner wurde der wichtigste Redner der Anthroposophie – bis zu seinem Lebensende hielt er mehr als 5000 Vorträge. Zum allmählichen Erfolg der Bewegung dürften allerdings die verschiedenen Projekte von der Pädagogik über die Heilkunde bis zur Landwirtschaft mehr beigetragen haben als die reine Lehre. Schon 1991 stellte Baumann fest, dass bis in die »achtziger Jahre hinein (…) sich fast nur die Anthroposophische Gesellschaft, in ihren Zweigen und Arbeitsgruppen mit Steiners Weltanschauung« beschäftigt habe. In diesem Zusammenhang verweist er neben anderen auf die Waldorfpädagogik und die biodynamische Landwirtschaftsmethode. Ein »breit gestreutes Wissen um die Anthroposophie« sei entstanden. Begriffe wie »›Reinkarnation‹, ›Karma‹, ›Meditation‹« gehörten inzwischen zum »alltäglichen Wort- und Vorstellungsschatz«, betont er. Und tatsächlich: Wer kennt heute nicht Kinder oder Jugendliche, die eine Waldorfschule besuchen? Wer hat nicht schon mal biologisch-dynamisch angebautes Gemüse oder Naturheilkundeprodukte von Weleda gekauft? Vorausgesetzt, es ist finanziell möglich.

Baumann klagt allerdings, in der Vorstellung »mancher Leute« werde Steiners Lehre lediglich »als eine Art Anti- oder Alternativbewegung« wahrgenommen. »Ihre Leistungen werden zwar anerkannt, gewöhnlich wird jedoch nicht danach gefragt, was für eine Denkweise dahintersteckt.« Die Einschätzung dürfte knapp 30 Jahre später weiter zutreffen. Helmut Zander, Professor für Religionsgeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität Fribourg in der Schweiz, geht in seinem Buch Die Anthroposophie: Rudolf Steiners Ideen zwischen Esoterik, Weleda, Demeter und Waldorfpädagogik (2019) sogar noch weiter: »Die Anthroposophie wäre heute weitgehend vergessen, wenn es ihre Praxisfelder nicht gäbe.«

Auch er konstatiert eine Uninformiertheit im Umgang mit den Hervorbringungen der Anthroposophie: »Sehr viele Menschen« benutzten anthroposophische Produkte, so Zander gegenüber dem Deutschlandfunk am 6. November 2019, wüssten »aber vielleicht nicht, dass Anthroposophie im Hintergrund steht. In der Regel hat man keine Ahnung davon, dass es nicht nur um Landwirtschaft oder Pädagogik geht, sondern um die Verbindung mit einer geistigen, einer spirituellen Dimension mit einer praktischen.« Zander, der als kritischer Anthroposophie-Experte gilt, findet das jedoch aus anderen Gründen problematisch als Baumann. So weist er darauf hin, dass weltanschaulicher Hintergrund und Praxis nicht zu trennen sind, insofern Ersterer konkrete Anforderungen an Letztere nach sich ziehe: »In der Pädagogik sollte der Lehrer wissen, welche Reinkarnationen seine Kinder hinter sich haben. In der Medizin sollte die Ärztin oder der Arzt die kosmischen Kräfte kennen, die etwa in Heilmitteln wirken. Und in der Landwirtschaft muss klar sein, dass die anthroposophische Möhre nicht nur deshalb wächst, weil kein Dünger und natürliche Stoffe im Boden sind, sondern weil sie teil hat an kosmischen Energien, die ihr Wachstum fördern und ihren Geschmack ausprägen.« Die Schulen, die Medizin, die Produkte, all dies ist in den spirituellen Kontext eingebettet, entspringt ihm. Der Hang der Anthroposophie zum Absolutheitsanspruch beruht auf Steiners Glauben an eine höhere Erkenntnis, die er erlangt zu haben meinte. Diese Dimensionen tauchen in der Debatte kaum auf.

Waldorfschulen und die Ordnung der Gesellschaft

Wie sehr die Anthroposophie Teil des Mainstreams geworden ist, zeigte sich, als die Waldorfschulen 2019 ihr 100-jähriges Jubiläum feierten. In den ARD-Tagesthemen vom 3. September gab es eine besondere Würdigung: Am Ende der Sendung stand die Moderatorin Caren Miosga vor einzelnen Bilder und erklärte, sie habe »unseren Namen« getanzt – den der Sendung. Ihre Verrenkungen entsprächen dem »ABC, so wie es die Waldorfpädagogik lehrt«. Es folgte der Bericht einer Reporterin, die selbst an so einer Schule gewesen war und die nicht allzu viele kritische Fragen stellte. PR zur besten Sendezeit, in einer der renommiertesten Nachrichtensendungen. PR für diese Schulform sind auch all die prominenten Absolvent:innen: Schauspieler:innen wie Karoline Herfurth, Wotan Wilke Möhring oder August Diehl, Unternehmen:innen wie Ferdinand Alexander Porsche, Manfred Bode oder Götz Werner, Politiker:innen wie Boris Erasmus Palmer oder die Köchin und Neu-Politikerin Sarah Wiener.

Mit einer Bitte begann die Geschichte einer eigenen anthroposophischen Schulform. Der schwäbische Unternehmer Emil Molt, Eigentümer der Zigarettenfabrik Waldorf-Astoria und Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft, wollte eine Schule gründen und bat Steiner, die Gestaltung, die pädagogische Leitung und die Entwicklung des Lehrplans zu übernehmen. Der Unternehmer erwarb ein Gebäude auf der Stuttgarter Uhlandshöhe. Am 7. September 1919 eröffnete dort die erste Waldorfschule – die »Mutterschule«.

Keinen Monat zuvor, am 11. August 1919, hatte Reichspräsident Friedrich Ebert (SPD) die Weimarer Reichsverfassung unterzeichnet. Gewaltenteilung, Gleichberechtigung von Mann und Frau, Trennung von Staat und Kirche, Wahlrecht für Frauen oder Schulpflicht waren für weite Teile der Eliten Verrat an Volk und Vaterland – und am Göttlichen und Spirituellen. Die Monarchie hatte sich für weite Teile des Landes selbst diskreditiert, doch die alten Eliten und die Bevölkerung schätzten die neuen demokratisch gewählten Autoritäten wenig. Zugleich wirkte der Erste Weltkrieg nach. In den Schützengräben hatten moderne Technik und Kriegsführung mit Giftgas und Flammenwerfer die Hoffnung erschüttert, Wissenschaft und Vernunft könnten zu einer humanistischen Welt führen. Alternative Ideen und esoterische Visionen blühten wieder auf. Neue Wege wurden gesucht – auch in der Pädagogik.

Schon im November 1918, als die Revolutionsbewegung die Monarchien im Reich und den Einzelstaaten stürzte, hatte Rudolf Steiner begonnen, in der Öffentlichkeit seine Idee zur Neugestaltung der Gesellschaft auf der ganzen Welt vorzutragen. Während des Krieges war er ein gefragter Referent gewesen. Vor einem konservativ-nationalistischen Publikum warnte er vor den Gefahren einer Niederlage für die »deutsche Nation«, machte aber auch Juden, Freimaurer und Theosophen für den Krieg verantwortlich. Der Streit mit der TG wirkte da wohl noch etwas nach.

Steiners Vorstellung von einer neuen Gesellschaftsordnung – die Dreigliederung des »sozialen Organismus« – bewegte nicht nur den Zigaretten-Unternehmer Molt. Die Grundidee: »Der soziale Organismus ist gegliedert wie der natürliche. Und wie der natürliche Organismus das Denken durch den Kopf und nicht durch die Lunge besorgen muss, so ist dem sozialen Organismus die Gliederung in Systeme notwendig, von denen keines die Aufgabe des anderen übernehmen kann, jedes aber unter Wahrung seiner Selbständigkeit mit den anderen zusammenwirken muss«, so Steiner 1919 laut der Website des Instituts für Soziale Dreigliederung. Die Metapher vom Staat als menschlicher Körper reicht bis in die Antike zurück. Eine Vorstellung, die auch die Idee einer natürliche Ordnung in sich birgt. In dieser Dreigliederung von Wirtschafts-, Rechts- und Geistesleben kann die Biologie als Leitmotiv im Sozialen verstanden werden.

In dem Aufsatz »Die Dreigliederung des sozialen Organismus, die Demokratie und der Sozialismus« führte Steiner 1919 weiter aus: »Aus den im bisherigen Geisteswesen, insbesondere im Erziehungs- und Schulwesen begründeten Richtungen ist das unsoziale, ja oft antisoziale Empfinden derjenigen entstanden, die gegenwärtig sich gerade als sozialistisch Denkende gebären. Das lebensfremde Geistesleben hat eine verkehrte Anschauung über das Geistesleben selbst hervorgerufen.«

Das lässt sich als grundsätzliche Ablehnung der Positionen von SPD und KPD verstehen sowie der Abwehr von sozialen Kämpfen, auch weil Steiner fortfährt: »Weite Kreise denken heute, die wahren Impulse des Menschenlebens liegen in den Wirtschaftsformen, auch das Geisteslebens sei bloß eine Art aus dem Wirtschaftsleben sich ergebender ›Überbau‹ (…) Zu einer solchen Anschauung bekennt sich mehr oder weniger unbewußt fast das gesamte, die gegenwärtigen Zeitforderungen tragende Proletariat.« Der Tag aber, an dem das »Proletariat von diesem Aberglauben« befreit werde, dieser Tag werde »die Morgenröte bringen, auf die so viele Menschen warten«.

Diese antimarxistischen Anspielungen und das Angebot, die soziale Frage nicht durch eine Veränderung der Macht- und Eigentumsverhältnisse, sondern durch eine Reform des Denkens zu lösen, könnten mit zur ökonomischen Förderung der anthropo-sophischen Bewegung durch kapitalstarke Personen geführt haben. Soziale Konflikte scheinen in geistigen Sphären zu schweben. Vielleicht ist diese Haltung dafür verantwortlich, dass bis heute in anthroposophisch angehauchten Unternehmen gewerkschaftliche Mitbestimmung und Tarifvereinbarungen für wenig relevant erachtet werden. »Alles fair, bis auf die Mitbestimmung« titelte die Zeit 2019 über eine anthroposophische Bio-Kette.

In dem Vortrag griff Steiner nicht zufällig auch das Erziehungsund Schulwesen an, sind seine pädagogische Konzepte doch in seine Vorstellungen von sozialer Ordnung eingebettet. Die Gründung der Schule betrachtete Steiner 1919 daher nicht als isoliertes Projekt, sondern als den Anfang einer ganzen Schulbewegung, die wie auch seine »gesamten sozialen Gestaltungspläne« die »nichtanthroposophische Bevölkerung ergreifen sollte«, schreibt Baumann. Noch 2021 weist der BdfWS auf seiner Website bei der Vorstellung der »Anthroposophie« auf die »soziale Dreigliederung« hin.

Der Beginn der Waldorfschule war ein Gespräch. Voller Stolz berichtete Molt, im Herbts 1918 habe ein Arbeiter ihm erzählt, dass dessen Sohn die Aufnahmeprüfung zum Gymnasium geschafft habe. Das brachte Molt auf die Idee, selbst eine Schule zu gründen. Am 23. April des folgenden Jahres lud er Steiner ein, vor den Arbeitern in seiner Fabrik einen Vortrag über Bildung zu halten. Fünf Monate später hatte Molt die Idee mit 2,25 Millionen Reichsmark Eigenkapital umgesetzt. Den Unternehmer sorgte die damalige Entwicklung im sozialistischen Russland ebenso wie die des wirtschaftsliberalen Westens. Mit Steiner suchte er einen dritten Weg – und fand ihn in dessen Esoterik. Dass die neue Schule Schüler:innen ein Bildungsangebot unabhängig von ihrer sozialen Herkunft macht, quasi wie eine Gesamtschule, ist kein Widerspruch.

In den Jahren 1906 und 1907 hatte Steiner bereits Vorträge über »die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft« gehalten. Die »Geisteswissenschaft« selbst – gemeint sind seine anthroposophischen Erkenntnisse – wird in Waldorfschulen allerdings bis heute nicht als Lehrfach unterrichtet. In Gegensätze in der Menschheitsentwicklung (1920) erklärte Steiner, wie diese »Wissenschaft« stattdessen zu vermitteln sei: »nicht indem man den Kindern Anthroposophie lehrt, das würde uns nicht einfallen, sondern indem man belebt den Unterricht durch das, was aus der Anthroposophie kommt, indem man Anthroposophie in den Unterrichtsstoff einfließen läßt«. So prägen die Lehren bis heute Lehrplan und Schulalltag.

Eine Reformschule zu sein war Anfang des 20. Jahrhunderts kein Alleinstellungsmerkmal. Verschiedenste reformpädagogische Vorstellungen kursierten und führten zu Schulgründungen. Sie alle hatten vier Ansätze gemeinsam: Die Erziehung sollte sich am Kind orientieren, die Bedeutung der Kunst wurde betont, die Erziehung sollte zu einer ganzheitlichen Menschenbildung führen, und das pädagogische Programm beruhte auf einer tief greifenden Kulturkritik.

In der Kritik an der Waldorfpädagogik heißt es daher häufig, ihr einziges besondere Merkmal seien die esoterischen Weisheiten ihres Gründers. Diese spiegeln sich etwa in dem Konzept wieder, nach dem jedes Kind eine Mischung von vier »Temperamenten« in sich trägt: Melancholiker, Phlegmatiker, Sanguiniker und Choleriker. Das folgt weitgehend der aus der Antike herrührenden »Säftelehre«. Den Temperamenten werden spezielle Eigenschaften fest zugeschrieben. Die Lehrenden an den Waldorfschulen sollen die Kinder gemäß ihrer Temperamente unterrichten. Ein phlegmatisches Kind soll keine Aufmerksamkeit geschenkt bekommen. Stattdessen wird empfohlen, seine Teilnahmslosigkeit anzuwenden, um das Kind zu spiegeln. Ein cholerisches Kind soll bei Wutausbrüchen zunächst ignoriert werden. Erst am nächsten Tag soll auf den Ausbruch eingegangen werden. Die Sitzordnung in der Klasse soll die Temperamente ebenso berücksichtigen: Sanguiniker sind neben Melancholiker zu setzen, sie könnten sich so in ihrem Lernen ergänzen.

Zudem ist Steiners Erkenntnis zu berücksichtigen, dass die Entwicklung der Kinder in Jahrsiebten verläuft. Demnach entwickeln Kinder ab dem Zahnwechsel erst einen »Ätherleib« und mit der Pubertät einen »Astralleib«. Gleichwertige Menschen scheinen Kinder nach dieser Vorstellung nicht zu sein, die Lehrkraft steht spirituell immer höher als sie. Dieser Eindruck drängt sich umso mehr auf, wenn man Steiners grundsätzliches Verständnis berücksichtigt, wonach »der Lernende (…) in jedem Augenblicke sich zu einem völlig leeren Gefäß machen können« muss, »in das die fremde Welt einfließt. Nur diejenigen Augenblicke sind solche der Erkenntnis, wo jedes Urteil, jede Kritik muß schweigen, die von uns ausgehen«, so Steiner in Theosophie. Wie frei ist da der Geist, das geistige Klima in der Schule, im Unterricht?

Diese Frage lässt sich nicht allgemein für Waldorfeinrichtungen beantworten. Zander hebt vielmehr die Pluralität der Waldorfbewegung hervor, merkt Ambros Waibel in der taz vom 20. November 2019 an. Es gebe völlig verschiedene Steiner-Interpretationen, die schon in einer einzigen Stadt wie Berlin zur unterschiedlichen praktischen Ausrichtung der Kitas und Schulen führen könnten – und zu beinharten Konflikten innerhalb der »Schulgemeinschaft«.

Obwohl also die grundsätzlichen Haltungen zu Steiner innerhalb der Waldorfbewegung weit auseinandergehen können, ist ihren Einrichtungen nach Zanders Auffassung aber etwas Elitäres immanent. Denn die Waldorfschulen seien zweifellos sogenannte Eliteschulen, gegründet aus dem Geiste des protestantischen Bildungsbürgertums, das in seiner asozialen Variante ohne Rücksicht auf Verluste das sogenannte Beste für den eigenen Spross will, fasst Waibel zusammen. In der schönsten Variante führt es aber auch dazu, das erwähnt Waibel ebenfalls, dass Waldorfschulen »mit höchstem Engagement Willkommensklassen für geflüchtete Kinder« einrichteten.

Das Elitäre kann durchaus mit autoritären Zügen einhergehen, die gar in Gewalt umschlagen können. Am 3. Dezember 2020 berichtete die Zeit, dass einige Lehrer:innen an der Freien Waldorfschule Weimar über fünfzehn Jahre Schüler:innen physisch und psychisch drangsaliert haben sollen. Schläge auf den Hinterkopf, Ohrfeigen und Kopfnüsse gehörten demnach lange Zeit zum Erziehungsrepertoire. In dem Monat, in dem der Artikel erschien, waren bei der Staatsanwaltschaft Erfurt drei Ermittlungsverfahren wegen vorsätzlicher Körperverletzung, Beleidigung und Misshandlung von Schutzbefohlenen anhängig. Ein Jahr zuvor hatten zunächst Schüler:innen und dann auch mehrere Eltern in einem offenen Brief an die Waldorfschule von »Übergriffigkeiten durch Lehrer und Lehrerinnen unserer Schule« berichtet und den Umgang der Schule mit dem Thema »körperliche und seelische Gewalt in der Erziehung« beklagt.

Damals sei auch das Bildungsministerium informiert worden, berichtete der MDR am 19. Dezember 2020. Die Mutter eines Schülers erzählte, dass eine »Lehrerin vor der ganzen Klasse« gesagt habe, »mein Sohn wäre ein komisches Kind und man solle besser nicht mit ihm befreundet sein«. Immer wieder sei ihr Sohn weinend aus der Schule gekommen, »wenn er bei dieser einen Lehrerin Unterricht« hatte. »Ich habe mehrfach versucht, das im Gespräch zu klären«, sagte die Mutter dem MDR. »Leider vergeblich.« Sie kündigte schließlich den Schulvertrag, auch wegen der »schweigenden Mehrheit«.

Inzwischen läuft eine Debatte in der Waldorfschule, die 1990 als erste Schule im Geiste Steiners in Thüringen gegründete wurde. Michael Hasenbeck vom Trägerverein Waldorfpädagogik Weimar e.V. erklärte gegenüber dem MDR, dass die Struktur der Schule problematisch sei: »Satzung und Schulordnung lassen es zu, dass die an der Schule angestellten Lehrenden u. a. die Schulleitung und fast jede Gremienarbeit dominieren.« Er sehe aber den »Willen«, die »›Wagenburgmentalität‹« zu überwinden.

Der BdfWS wiederum wies am 4. Dezember auf einen aktuellen Leitfaden »Gewaltprävention an Waldorfschulen« hin und erklärte: »Jedes Kind hat einen Anspruch auf Vertrauen und Sicherheit und auf besondere Fürsorge und Unterstützung – was sich so selbstverständlich anhört, wird nicht immer selbstverständlich umgesetzt.« Zugleich warnte der Dachverband vor der »Möglichkeit, dass in allen Einrichtungen, in denen Erwachsene mit Kindern arbeiten, die asymmetrischen Machtverhältnisse im schlimmsten Fall zu Machtmissbrauch führen können«. In »allen Einrichtungen«? Ja, auch bei freien und kirchlichen Schulen sowie in Sportvereinen und Jugendverbänden kommt es zu Missbräuchen, auch zu sexuellen Übergriffen. Der Hinweis in der Pressemitteilung wirkt dennoch etwas unpassend, da auf den just begonnenen Konflikt in Weimar nicht weiter eingegangen wird. Vielleicht ist der zeitliche Zusammenfall vom Bekanntwerden der Missbräuche am 3. Dezember und der Erstveröffentlichung des Leitfadens aber nur Zufall gewesen.

Anthroposophie und Nationalsozialismus

In der Anthroposophie sind kritische Diskussionen jedoch nicht alleine bei aktuellen Themen schwer zu führen, sondern auch, wenn es um die Geschichte der eigenen Bewegung geht. Im Nationalsozialismus versuchten führende Anthroposphen, die immanente deutsche Mythologie und Märchen im Steiner’schen Werk zu betonen.

War das eine Überzeugung, oder eine Schutzmaßnahme? Über die Intention darf und wird gestritten. Am 1. November 1935 wurde jedenfalls laut Verfügung der Preußischen Geheimen Staatspolizei »die im Gebiete des Deutschen Reiches bestehende Anthroposophische Gesellschaft (…) wegen ihres staatsfeindlichen und staatsgefährlichen Charakters« aufgelöst. Der Vorstand der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft wehrte sich dagegen mit einem Brief an Adolf Hitler, in dem auf Steiners arische Abstammung verwiesen und die Verbindung zu jüdischen Kreisen bestritten wurde.

Das Verbot störte einzelne nationalsozialistische Repräsentanten aber nicht, die biologisch-dynamische Landwirtschaft interessant zu finden. Zu ihnen gehörte auch der Reichsführer SS Heinrich Himmler, der in München Landwirtschaft studiert hatte. Die SS baute von 1939 bis 1945 landwirtschaftliche Versuchsgüter auf, wo sie auch die biologisch-dynamische Methode erprobte. Andererseits erschien 1939 auf dem Titelbild der Zeitschrift Demeter (Heft 5) eine Abbildung Hitlers, die mit einer Grußzeile zu dessen 50. Geburtstag versehen war. Der Septemberausgabe lag ein Flugblatt bei, in dem der Herausgeber Erhard Bartsch die biologisch-dynamischen Landwirte zur Unterstützung des »Führers« aufrief. Er bemühte sich offenbar sogar um eine Mitwirkung an den Besiedlungsplänen der SS für den »Lebensraum im Osten«.

Schon 1933 hatte sich Steiners Nachfolger als Erster Vorsitzender der Anthroposophischen Gesellschaft, Albert Steffen, an die Gauleitungen gewendet, weil er offenbar fürchtete, die neuen Machthaber könnten Steiner in einem ungünstigen Licht sehen: »Man will nicht nur Rudolf Steiner, den Kämpfer für das deutsche Wesen, sondern deutsche Treue selbst herabsetzen«, schrieb er. Steiners Sekretär Guenther Wachsmuth sagte dem dänischen Ex-trabladet 1933: »Ich äußere mich ungern über Politik. Aber es soll kein Geheimnis sein, daß wir mit Sympathie auf das schauen, was zur Zeit in Deutschland geschieht. Es muß Bewegung da sein und die mutige und tapfere Weise, wie die Führer des neuen Deutschlands sich der Probleme bemächtigen, kann meiner Meinung nach nur Bewunderung erzwingen.«

Im Februar 1934 zeichnete sich ab, dass die Waldorfschule in Stuttgart geschlossen werden würde. Der damalige Leiter der Waldorfschule in Hannover, René Maikowski, wandte sich direkt an Adolf Hitler. In seinem Schreiben legte er dar, es sei offenbar nicht bekannt, dass »das Lebenswerk« Steiners »aus den tiefsten Grundlagen und der innersten Kraft des deutschen Geistes erwachsen« sei. »In keiner Schule« würden so eingehend »das deutsche Märchen, die deutsche Mythologie und Heldensagen (…) behandelt«. Die Arbeit dieser Schulen sei gerade für den geistigen Wiederaufbau Deutschlands von Wichtigkeit. Sie hätten sich zuvor schon dem »materialistischen Zeitgeist« entgegengestellt. Gleichwohl habe er sich nicht »so sehr aus der Sorge um das Bestehen einiger Schulen« an den Führer gewandt »als vielmehr aus dem Bewußtsein der Verantwortung« für die Erhaltung der »deutschen Kultur«, für »deren Bestand unsere Helden des Weltkrieges und der deutschen Revolution ihr Leben ließen«, so Maikowski, der ab 1933 auch führend im Bund der deutschen Waldorfschulen tätig war, am 15. Februar 1934.

Taktieren, um Lehrkörper und Schülerschaft zu schützen, oder Positionierung in Steiners Geist? Jedenfalls lösten sich 1936 sechs Waldorfschulen auf, erst 1941 schlossen die letzten drei Schulen. Mit dem Abflug von Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß am 10. Mai des Jahres hatte die Anthroposophie einen Förderer innerhalb des Regimes verloren.

In der Anthroposophie ist das Verhalten ihrer führenden Köpfe in der damaligen Zeit umstritten. In den Flensburger Heften – Anthroposophie im Gespräch schrieb Arfst Wagner schon 1991: »In der Zeit des Nationalsozialismus fühlten sich viele zum Taktieren gezwungen und waren es wahrscheinlich auch. Sie hätte andere, zum Beispiel die Schüler der Waldorfschulen, gefährdet und behindert, wenn sie sich nicht um ein Fortwirken der Schulen bemüht hätten.« Das sei zu verstehen, »aber man muss auch fragen dürfen, wo das anthroposophische Engagement gewirkt hat. (…) Hätte ein echter geistiger Impuls nicht doch viel mehr verhindert?«.

Jens Heisterkamp merkte 2005 in dem anthroposophischen Magazin Info3 an, dass »nach der Anthroposophie in den Zeiten des Nationalsozialismus zu fragen (…) lange Zeit etwas Anrüchiges« gehabt habe, denn »wie ein ganzheitliches Verständnis des Menschen, das die Freiheit der Individualität in den Mittelpunkt stellt, sich zur Herrschaft der Gewalt und des Ungeistes stellt, schien sich von selbst zu verstehen«. So sei diese Frage nur von Kritiker:innen der Anthroposophie gestellt worden. Er selbst betont: »Wie sich die Dornacher Führung schon kurze Zeit nach der Machtergreifung, am 20. Mai 1933, mit einer ›Denkschrift‹ unmittelbar an die nationalsozialistische Führung wandte, um über Rudolf Steiner und seine Leistungen für das ›Deutschtum‹ ›aufzuklären‹, wirkt heute reichlich naiv und devot.« Mit dem Münchener Arzt, Anthroposophen und Nationalsozialisten, so Heisterkamp, Hanns Rascher gab es eine »Art ›Vertrauensmann‹ zwischen NSDAP und Anthroposophischer Gesellschaft«.

Der Philosoph Ernst Bloch betrachtete die Bewegung früh kritisch. 1935 konstatierte er in Erbschaft dieser Zeit spitz: »Offenbar verhindert nur der starke Anteil anderer Länder an der anthroposophischen Bewegung, daß diese geschlossen zu Hitler übergeht.«

Zum 100-jährigen Jubiläum veröffentlichte der BdFWS eine »kleine Monografie« zu dem komplexen Thema. Darin beschreibt Uwe Werner, ehemaliger Archivar am Goetheanum und Autor des Standardwerks Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus, die inneren Konflikte der Schulen zwischen Anpassung und Konfrontation. Der Dachverband als Auftraggeber stellte die Inhalte der Monografie so dar, dass Anthroposoph:innen zu Beginn des Nationalsozialismus »durchaus auch Sympathisanten mit dem Regime« gehabt hätten. Der Bund hebt aber auch hervor, dass »auf die unvereinbaren Gegensätze von Anthroposophie und nationalsozialistischer Ideologie« hingewiesen werde und »dass die überwältigende Mehrheit (der) Waldorflehrer*innen und -Eltern der Nazi-Ideologie ablehnend« gegenübergestanden habe.

Einzelne aus dem anthroposophischen Milieu waren aber auch in anderen organisatorischen Kontexten involviert. Am 19. Mai 1983 löste die taz mit einem Artikel unter dem Titel »Insgesamt haben viele Menschen geholfen« eine Debatte über die Weleda AG aus. In dem Text ging es um die Beziehung des SS-Hauptsturmführers und Stabsarztes Sigmund Rascher zu dem anthroposophischen Unternehmen für Naturkosmetik und Arzneimittel. Rascher war einer der Söhne von Hanns Rascher, im Steiner’schem Milieu aufgewachsen und hatte eine Waldorfschule besucht. Im KZ Dachau war er bei den Höhen- und Unterkühlungsversuchen an Menschen beteiligt und verwendete eine naturheilkundliche Frostcreme von Weleda. Des Weiteren ließ das SS-Sanitätshauptamt zehn Kilogramm Vaseline direkt an die Naturkosmetikfirma senden. In dem KZ arbeitete ein weiterer anthroposophisch Geprägter: Franz Lippert. Er leitete die Heilkräuterversuchsanlage, die an das KZ bei München angegliedert war. Zuvor hatte er als Obergartenmeister den Heilpflanzenanbau bei der Weleda AG verantwortet.

Die ersten Erklärungsversuche von Weleda, in denen nur zugegeben wurde, was nicht mehr zu bestreiten war, fanden die Flensburger Hefte rückblickend nicht angemessen. Der heute »weltweit führende Hersteller von ganzheitlichen, natürlichen, biologischen Kosmetika sowie von Arzneimitteln«, so die Selbstdarstellung, startete 1921. Sieben Jahre später führte das Unternehmen den Firmennamen Weleda ein, übernommen von der germanischen Heilerin und Prophetin Veleda. Rudolf Steiner gestaltete selbst das bis heute geführte Logo. In der Darstellung der weiteren Firmengeschichte heißt es auf der Homepage nur unter der Zwischenüberschrift »1933–1976« knapp: »Als Schweizer Unternehmen überstand Weleda den Zweiten Weltkrieg relativ unbeschadet.« Bereits der gewählte Zeitrahmen könnte als Botschaft verstanden werden.

Uwe Werner führt in Das Unternehmen Weleda 1921–1945 allerdings aus, die deutsche Weleda, Sitz in Schwäbisch Gmünd, sei in einer existenziellen Gefahr gewesen, doch habe ihr in der Tat geholfen, dass sie eine Niederlassung der Schweizer AG war. Und dass die spezifische anthroposophische Grundlage des Unternehmens ein geistiges Gegengewicht zum Nationalsozialismus gewesen sei. So hätten die Mitarbeiter:innen Kraft zum passiven Widerstand gefunden.

Ressentiments und Debatte

Seit Jahrzehnten wird von Nicht-Anthroposoph:innen wie von Anthroposoph:innen nicht nur über das Verhalten im Nationalsozialismus und die Aufarbeitung gestritten. In dieser vergangenheitspolitischen Debatte schwingt auch mit, inwieweit die Anthroposophie im vorpolitischen Raum selbst völkische Segmente popularisierte und etablierte. Diese Diskussion wird durch ressentimentgeladene Beschreibungen von Völkern und Menschengruppen bei Steiner selbst befeuert. Der Streit darüber, wie diese einzuordnen sind, hält bis heute an.

In einem Vortrag Steiners vor dem Bau des ersten Goethea-nums im Jahr 1923 fielen die Sätze: »Indianer sterben naturbedingt aus«, »Neger haben ein starkes Triebleben« und »die Weißen sind eigentlich diejenigen, die das Menschliche in sich entwickelten«. In dem anthroposophischen Standardwerk Aus der Akasha-Chronik beschreibt Steiner die »sogenannten Arier« als den am höchsten entwickelten Teil der Menschheit: Sie hätten sich aus den »Atlantiern« entwickelt, nachdem deren »größte Masse in Verfall gekommen« sei. Die »Atlantier« wiederum seien aus den »Lemuriern« hervorgegangen, die größtenteils zu »verkümmerten Menschen« geworden seien, »deren Nachkommen heute noch als sogenannte wilde Völker gewisse Teile der Erde bewohnen«. Steiner ergeht sich in Beschreibungen von »Rassen« und »Rassencharakteren«, fabuliert von niedergehenden »schwarzen« und höher steigenden »weißen Rassen«. Den Weißen obliege es, die Denkkraft zu entfalten und die Menschheit vor der Dummheit zu retten.

Die Akasha-Chronik wird in der Anthroposophie als ein Grundlagenwerk für Steiners Vorstellung von der Erd- und Menschheitsentwicklung wahrgenommen. In seiner Darstellung der Menschheitsentwicklung gibt es – auch in Zeichnungen – »Seitenzweige«, die nicht mehr in die Verhältnisse hineinpassen, die »dekadent« sind, wie die »Indianer«. In diesem Zusammenhang entfaltet er auch die Vorstellung, es gebe sogenannte Wurzelrassen. Dem Werk liegt die esoterische Annahme zugrunde, dass alles Geschehene sich in einem »Weltengrund »eingeprägt habe. Ein Forscher mit entwickelten höheren Organen kann in dieses Weltgedächtnis finden und lesen. Der Titel des Werks ergibt sich aus dem indischen Ausdruck für »feine geistige ›Substanz‹ – Akasha« und »die darin eingetragenen ›Notizen‹«, erklärt Bauman.

Steiners vermeintlich höhere Erkenntnisse waren schon damals nicht neu. In der Theosophie von Helena Petrovna Blavatsky erscheinen bereits Wurzelrassen. In Die Geheimlehre von 1888 legte sie dar: »Ein Dezimierungsvorgang findet über die ganze Erde statt unter jenen Rassen, deren Zeit um ist. (…) Es ist ungenau zu behaupten, daß das Aussterben einer niedrigen Rasse ausnahmslos eine Folge der von Kolonisten verübten Grausamkeit oder Mißhandlung sei. Rothäute, Eskimos, Papuas, Australier usw. sterben alle aus (…). Die Flut der inkarnierten Egos ist über sie hinausgerollt, um in entwickelteren und wenig greisenhaften Stämmen Erfahrungen zu ernten; und ihr Verlöschen ist daher eine karmische Notwendigkeit.« Eine Sonderrolle kommt ihr zufolge den Juden zu. Da sie keine Rasse seien, störten sie den kosmischen Lauf der Dinge.

Die Geheimlehre gilt als das Grundlagenwerk der Theosophie und des abendländischen Okkultismus. Rassismus? Zander weist auf die Rangfolge hin, die den angeblichen Rassen zugeschrieben wird, inklusive der »Abstufungen der Intellektualität zwischen den verschiedenen Menschenrassen – dem wilden Buschmann und dem Europäer«. Blavatsky selbst möge sich nicht als Rassistin verstanden, sondern die brüderliche Vereinigung aller Menschen als ihr Ziel angegeben haben, doch habe sie Imperialismus, Kolonialismus und Sozialdarwinismus mit legitimiert. Ein mystischer Rassismus, ein »kosmischer Rassismus«, wie der Theologe und Kulturkritiker Linus Hauser diese Ausführungen einordnet.

Vielleicht passt diese Klassifizierung auch zu Steiner. In seinem Buch Die Mission einzelner Volksseelen – im Zusammenhang mit der germanisch-nordischen Mythologie, das einen Zyklus von Vorträgen enthält, die er im Juni 1910 in Oslo vor der Skandinavischen Sektion der Theosophischen Gesellschaft gehalten hat, finden sich immer wieder vermeintliche Erklärungen und eindeutige Zuschreibungen. »Alles, was der äthiopischen Rasse ihre besonderen Merkmale verleiht, das kommt davon, daß die Merkurkräfte in den Drüsensystem der betreffenden Menschen kochen und brodeln. Das kommt davon her, daß sie auskochen, was die allgemeine, gleichen Menschengestalt zu der besonderen der äthiopischen Rasse macht mit der schwarzen Hautfarbe, dem wolligen Haar und so weiter«, oder »gehen wir nun weiter nach Asien herüber, so haben Sie in ähnlicher Weise etwas, was man als Venuskräfte bezeichnen könnte, als eine abnormale Ausgestaltung der Geister der Form«. Oder: »wie das Wirken auf das Drüsensystem ausdrückt, sehen wir an der indianischen Rasse. Darauf beruht die Sterblichkeit derselben, ihr Verschwinden (…) Sehen Sie sich doch die Bilder alter Indianer an und Sie werden gleichsam mit Händen greifen können den geschilderten Vorgang, in dem Niedergang dieser Rasse.« Hier lässt sich der Einfluss der Theosophie herauslesen – und heraushören.

Alles nur einzelne Sentenzen in dem großen Œuvre des erkennenden Geistesforschers? In Über Gesundheit und Krankheit (1922/23) legt Steiner dar: »Neulich bin ich in Basel in eine Buchhandlung gekommen, da fand ich das neuste Programm dessen, was abgedruckt wird: ein Negerroman, wie überhaupt jetzt die Neger allmählich in die Zivilisation von Europa hereinkommen! Es werden überall Negertänze aufgeführt, Negertänze gehüpft. (…) Ich bin meinerseits davon überzeugt, wenn wir noch eine Anzahl Negerromane kriegen, und wir geben diese Negerromane den schwangeren Frauen zu lesen (–) da braucht gar nicht dafür gesorgt werden, daß Neger nach Europa kommen, damit Mulatten entstehen; da entsteht durch rein geistiges Lesen von Negerromanen eine ganze Anzahl von Kindern in Europa, die ganz grau sind, Mulattenhaare haben, die mulattenähnlich aussehen werden.«

»Die Neger« tauchen bei Steiner öfters in dieser negativen Form auf. In Vom Leben des Menschen und der Erde. Über das Wissen des Christentums heißt es: »Diese Schwarzen in Afrika haben die Eigentümlichkeit, daß sie alles Licht und Wärme vom Weltraum aufsaugen. (…) Und dieses Licht und diese Wärme im Weltraum, die kann nicht durch den ganzen Körper hindurchgehen, weil ja der Mensch immer ein Mensch ist, selbst wenn er ein Schwarzer ist. Es geht nicht durch den ganzen Körper durch, sondern hält sich an der Oberfläche der Haut, und da wird die Haut dann selbst schwarz. (…) Überall nimmt er Licht und Wärme auf, überall. Das verarbeitet er in sich selbst. Da muß etwas sein, was ihm hilft bei diesem Verarbeiten, das ist namentlich sein Hinterhirn. Beim Neger ist daher das Hinterhirn besonders ausgebildet, das geht durch das Rückenmark. Und das kann alles das, was da im Menschen drinnen ist an Licht und Wärme verarbeiten. Daher ist beim Neger namentlich alles das, was mit dem Körper und dem Stoffwechsel zusammenhängt lebhaft ausgebildet. Er hat, wie man sagt, ein starkes Triebleben, Instinktleben. Der Neger hat also ein starkes Triebleben. (…) Und wir Europäer, wir armen Europäer haben das Denkleben, das im Kopf sitzt. (…) Daher ist Europa immer der Ausgangspunkt für alles dasjenige gewesen, was nun das Menschliche so entwickelt, das zur gleichen Zeit mit der Außenwelt in Beziehung kommt. (…) Wenn die Neger (–) nach dem Westen auswandern, da können sie nicht mehr so viel Licht und Wärme aufnehmen wie in ihrem Afrika. (…) Daher werden sie kupferrot, werden Indianer. Das kommt daher, weil sie gezwungen sind, etwas von Licht und Wärme zurückzuwerfen. (…) Das können sie nicht aushalten. Daher sterben sie als Indianer im Westen aus, sind wiederum eine untergehende Rasse, sterben an ihrer eigenen Natur, die zu wenig Licht und Wärme bekommt, sterben an dem Irdischen. (…) Die Weißen sind eigentlich diejenigen, die das Menschliche entwickeln. Daher sind sie auf sich selbst angewiesen. Wenn sie auswandern, so nehmen sie die Eigentümlichkeiten der andere Gegenden etwas an. (…) Die weiße Rasse ist die Zukünftige, ist die am Geiste schaffende Rasse.«

An anderer Stelle sagt Steiner in Die geistig-seelischen Grundkräfte der Erziehungskunst: »Wenn man aus dem Leben heraus Grundsätze aufstellt, weiß man wie das Leben das mannigfaltig ist, wie sich das eine in der allerverschiedensten Weise verwirklicht. Denn selbst die Neger müssen wir als Menschen ansehen, und ihnen ist ja die menschliche Gestalt in einer ganz anderen Weise verwirklicht als in uns, zum Beispiel.«

In den 1990er Jahren brach die Debatte um solche Passagen in Steiners Werk massiv aus. In Feuer in die Herzen kritisierte Jutta Ditfurth 1992 die Anthroposophie scharf. Die ehemalige Grünen-Politikerin und Publizistin spitzte bewusst zu, beschrieb die Anthroposophie als »reiche Sekte«, nannte Steiners Ausführungen »gedanklicher Schrott«, der aber »rassistischer und menschenverachtender kaum sein kann«. Dieser Fundamentalkritik an der Anthroposophie stellte sie eine ebenso grundsätzliche Kritik an der Esoterik voran: »Esoterik und Faschismus überschneiden sich in der Entpolitisierung der Menschen, dem knallharten Egokult, dem elitären Führertum und einer vollständigen antisozialen, antihumanistischen und antiaufklärerischen Orientierung.« Eine radikale Kritik von links am alternativen Milieu.

Aus dem anthroposophischen Spektrum reagierten erneut zuerst die Flensburger Hefte. Ab 1993 griffen sie die Rassismusvorwürfe auf, die längst außerhalb der Anthroposophie auf breiter Front formuliert worden waren. Thoms Höfer, Redakteur der Flensburger Hefte, resümierte in Heft Nr. 41, dass Steiner »ein Kind seiner Zeit« gewesen sei, der die »negativen Klischeevorstellungen und rassistischen Rechtfertigungstheorien seiner Zeitgenossen widerspiegelte«. Doch, so betont Höfer weiter: »Fortschrittlicher wäre es gewesen, den Überlegenheitsanspruch der Weißen kritisch zu hinterfragen und sie nicht noch auf okkulter Ebene zu untermauern.«

Anfang 1998 bekam der Disput eine neue Dimension. – mit einer Studie, die von der Anthroposophie selbst vorgelegt wurde. Der Impuls dazu kam aber nicht aus Deutschland, sondern aus den Niederlanden. Und auch dort nicht ganz freiwillig. Eine Mutter von zwei Kindern, die eine niederländische Waldorfschule besuchten, war im Erdkundeheft ihrer Tochter über den Satz »Neger haben dicke Lippen und ein rhythmisches Gefühl« gestolpert. Die Frau ging an die Öffentlichkeit, um eine kritische Auseinandersetzung mit Steiners »Geisteswissenschaft« einzufordern. Erst angesichts des Medienechos sahen sich der niederländische Bund der Waldorfschulen und die Anthroposophische Vereinigung zum Handeln und zu eindeutigen Stellungnahmen gezwungen.

Eine Kommission der dortigen Anthroposophischen Vereinigung wurde gebildet. Nach monatelangem Studium von Steiners Gesamtwerk stellte sie fest, dass in dem etwa 89 000 Seiten umfassenden Gesamtwerk Steiners 16 Zitate seien, die, wenn sie von heutigen Autor:innen geäußert würden, diskriminierenden Charakter hätten und vermutlich sogar strafrechtliche Relevanz besäßen. Bei weiteren 66 Zitaten handelt es sich nach der Kommission um minder schwere Fälle von Diskriminierung oder um missverständliche Äußerungen. Zusammenfassend stellte die Kommission in einem Zwischenbericht fest: »Als Folge von Nachlässigkeiten werden an den Schulen Stereotypen verwendet, die Diskriminierungen fördern.«

Nur Folge von Nachlässigkeit und nicht des Steiner’schen Denkens? Ted van Baarda, der Vorsitzende der internen Untersuchungskommission, würde sich vermutlich gegen so einen Schluss verwahren. Er sagte damals: »Es widerspricht dem Wesen der Anthroposophie zu glauben, dass eine Einzelperson oder eine Gruppe minderwertig ist, weil sie eine andere Hautfarbe hat.« Wenige Sätze später betonte er, dass »es bei Steiner eine Zukunftsvision ohne Rasse, Volk und Nation« gebe und er »daher kein Rassist war, aber diskriminierte«.

Diese Einschätzung teilt Zander nicht. Im Aufsatz Rudolf Steiners Rassenlehre – Plädoyer, über die Regeln der Deutung von Steiners Werk zu reden betonte er 2009, das bei Steiner die »Entwicklungsgeschichte der Menschheit« nicht ohne die »Wurzelrassen« zu denken sei. Diese Evolutionslehre vom Niederen zum Höheren sei fundamental linear gedacht. Das karmische Schicksal sei zudem »Teil der Autonomiegeschichte des Menschen« und folglich selbst gewählt. Der Genozid an der amerikanischen Urbevölkerung erscheint so selbstverantwortet. »Aus Opfern werden Täter und die Schuldigen« werden bloße »Erfüllungsgehilfen einer notwendigen Geschichte«. Sein Fazit: »Es gibt eine anthroposophische Rassenkonzeption in Theorie und Praxis.« Die rassistischen Vorstellungen von Steiner seien allerdings »kein Sondergut der Anthroposophie, sondern fluidaler Zeitgeist, den Steiner mit vielen teilte«, ohne dass er zu den »Scharfmachern« gehört habe.

Bis heute ist innerhalb der Anthroposophie die Bereitschaft, sich mit den heiklen Positionen ihres Gründers auseinanderzusetzen, unterschiedlich stark ausgeprägt. Im Jahr 2000 legte die Kommission um Ted van Baarda einen Abschlussbericht vor – und ordnete dort auch eine längere Passage von Steiner zum Judentum ein. 1888 hatte Steiner in einer Rezension des Buches Homunculus von Robert Hamerling in Deutsche Wochenschrift ausgeführt: »Es ist gewiss nicht zu leugnen, dass heute das Judentum noch immer als geschlossenes Ganzes auftritt und als solches in die Entwicklung unserer gegenwärtigen Zustände vielfach eingegriffen hat, und das in einer Weise, die den abendländischen Kulturideen nichts weniger als günstig war. Das Judentum als solches hat sich aber längst ausgelebt, hat keine Berechtigung innerhalb des modernen Völkerlebens, und dass es sich dennoch erhalten hat, ist ein Fehler der Weltgeschichte, dessen Folgen nicht ausbleiben konnten. Wir meinen hier nicht die Formen der jüdischen Religion allein, wir meinen vorzüglich den Geist des Judentums, die jüdische Denkweise. (…) Juden, die sich in den abendländischen Kulturprozeß eingelebt haben, sollten doch am besten die Fehler einsehen, die ein aus dem grauen Altertum in die Neuzeit hereinverpflanztes und hier ganz unbrauchbares sittliches Ideal hat.« An anderer Stelle wirft er den Juden vor, eine Übertreibung und Missbrauch des damals aufkommenden Antisemitismus für ihre politischen Ziele zu nutzen.

Die Kommission legt zu der längeren Passage dar, die in Gesammelte Aufsätze zur Literatur 1884 bis 1902 veröffentlicht ist, dass hier eine »zu scharfe Formulierung« für die eigentlich gemeinte Forderung nach Assimilation verwendet worden sei, und betont: »Heute, nach dem Holocaust, kann diese Formulierung selbstverständlich nicht mehr in anständiger Weise verwendet werden. Für die Kommission ist diese Formulierung, wenn sie heute aktuell verwendet würde, ernsthaft diskriminierend gegenüber Juden.« Und auch die andere erwähnte Stelle könne nach dem Trauma des Holocaust als ernsthaft diskriminierend erlebt werden.

Am 13. Mai 2000 nahm der bildungspolitische Sprecher der Waldorfschulen in Berlin-Brandenburg, Detlef Hardorp, in der taz Stellung zu dem Abschlussbericht. Dabei verwies er auf Steiners Engagement in den Mitteilungen des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus. Und er griff ein Zitat von ihm aus dem September 1900 auf: »Für mich hat es nie eine Judenfrage gegeben. Mein Entwicklungsgang war auch ein solcher, dass damals, als ein Teil der nationalen Studentenschaft Österreichs antisemitisch wurde, mir das als eine Verhöhnung aller Bildungserrungenschaften der neuen Zeit erschien. Ich habe den Menschen nie nach etwas anderem beurteilen können als nach den individuellen, persönlichen Charaktereigenschaften.«

Zitate gegen Zitate, ein gängiges Prinzip in der Auseinandersetzung um die Bewertung der Steiner’schen Aussagen. Ein Hin und Her. Auch der Religionsphilosoph und Anthroposophie-Experte Ansgar Martins ging in einem Interview mit dem Humanistischen Pressedienst am 4. Dezember 2020 auf die Bedeutung des Antisemitismus ein: »Ich fände es erfreulich, wenn mehr Steiner-Leser sich für seine Texte für den Abwehrverein erwärmen könnten. Sie gehören zu einem Teil seines Werks, den Anthroposophen seltener zitieren als seine esoterischen Vortragsbände und in dem er ganz andere Thesen vertritt. Kurz nach 1900 war Steiner Atheist, Anarchist, Mitglied des Giordano-Bruno-Bundes, dozierte an der von Wilhelm Liebknecht gegründeten Berliner Arbeiterbildungsschule.« Doch diese »Phase beschrieb er später als dämonische Prüfung, die er habe bestehen müssen, bevor er das spirituelle Christentum gefunden habe«.

1900 und 1901 waren die Jahre, in denen Steiner Artikel für die Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus schrieb. In den Artikeln sehe man »deutlich«, dass er inzwischen viele Ansichten korrigiert und die Gefährlichkeit des Antisemitismus erkannt habe. Nur entwickelte Steiner wenige Jahre danach die Mond-Sonne-Mythen, in denen »die Abwertung des Jüdischen als vermeintlich überwundener Vorstufe des Christentums eingebaut ist«. Die Kulturwissenschaftlerin Jana Husmann, später Husman-Kastein, erklärt in Schwarz-Weiß-Symbolik: Dualistische Denktraditionen und die Imagination von »Rasse«. Religion – Wissenschaft – Anthroposophie (2010), wie diese Abwertung funktioniert: »Als ›Mondenreligion‹ ist das Judentum und mit ihm der jüdische Schöpfergott (den Steiner als Mondgottheit vorstellt) durch das Sohnesprinzip, d. h. durch Christus als Sonnenprinzip zu überwinden.« Martins Fazit lautet daher, Steiner habe »einen Lernprozess« durchgemacht und ihn wieder vergessen. »Die Geschichte seines Verhältnisses zum Judentum ist eine Geschichte des Versagens von Aufklärungsprozessen«, sagt er.

Gern wird in Diskussionen – wie van Baarda dargelegt hat – zu Steiners Entlastung ins Feld geführt, dass er für die »siebte nachatlantische Kulturperiode« das Verschwinden der »Rassen« prognostiziert habe. Das ist in der Tat der Fall. Nur befinden wir uns nach Steiner derzeit erst in der »fünften nachatlantischen Kulturperiode«, in der die »germanischen Völker« die Weltgeschicke noch bis zum Jahr 3537 bestimmen werden.

2004 griff Lorenzo Ravagli, Online-Redakteur der anthroposophischen Zeitung Erziehungskunst, mit einer Publikation in die Debatte ein: Unter Hammer und Hakenkreuz – Der völkisch-nationalsozialistische Kampf gegen die Anthroposophie. Mit der Wahl des Themas, so warf ihm Helmut Zander in einer sehr differenzierten Rezension vor, drehe er die Angriffe auf Steiner gewissermaßen um: Steiner als Objekt einer Kritik von rechts. Dabei hebe er einseitig die Unterschiede zur völkischen Esoterik und die Konflikte mit ihr hervor, während er die Affinitäten marginalisiere, indem er auf Steiners Rassentheorie nicht weiter eingehe.

Harte Kritik erfuhr Ravagli ebenso von Jana Husmann-Ka-stein. Sie war 2007 Gutachterin in einem Indizierungsverfahren der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) gewesen, das sich mit den Büchern Nr. 107 (Geisteswissenschaftliche Menschenkunde) und Nr. 121 (Die Mission einzelner Volksseelen) aus der Steiner-Gesamtausgabe auseinandersetzte und das zu einer Indizierung führte, wie die Prüfstelle im März 2021 erklärte. In dem Gutachten hält Husmann-Kastein Ravagli vor, er habe in einem als Koautor in den Jahren 2001 und 2002 herausgegebenen Buch die rassistischen Aussagen von Steiner in unzumutbarem Maße abgestritten und in Humanismus umgedeutet.

Steiner-Schulen und Extrem-Rechte

Im Jahr 2007 wollte Lorenzo Ravagli zusammen mit Andreas Mo-lau ein Buch unter dem Titel Falsche Propheten veröffentlichen, in dem es in Form eines Briefwechsels um eine Auseinandersetzung mit nationalistischem Gedankengut und den Lehren Steiners gehen sollte. Kurz vor der Frankfurter Buchmesse im Oktober zog Ravagli das Manuskript jedoch zurück. Der Grund: die Person des Koautors. Bei Amazon findet sich noch im März 2021 eine Ankündigung zu dem nicht erschienenen Buch, in dem Andreas Molau als einer der »führenden Rechtsintellektuellen« beschrieben wird. »Mir war und ist es wichtig, rechte Ideologen nicht pauschal abzulehnen«, erklärte Ravagli seine Motivation dem Stern vom 16. November 2007. Zu dem Rückzug sagte er gegenüber dem Magazin, »ein Buchprojekt mit einem bekennenden Rechtsaußen« hätte »derzeit von der Öffentlichkeit im falschen Kontext bewertet werden« können.

Über Jahrzehnte bewegte sich Molau in dem extrem-rechten Milieu von Junger Freiheit bis zur Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD). Von 1996 bis September 2004 war er aber auch Lehrer an der Freien Waldorfschule Braunschweig. Dann outete er sich an der Schule selbst. Er wollte sich beurlauben lassen, um Mitarbeiter bei der NPD-Landtagsfraktion in Sachsen zu werden. Er musste die Schule verlassen, seine Kinder auch. Letzterem waren erregte Debatten in der Elternschaft vorausgegangen, in der Öffentlichkeit wurde breit über die Entscheidung berichtet. Molau selbst sprach von »Sippenhaft«, was damals insbesondere Medien aus dem rechtsradikalen Spektrum aufgriffen. 2012 löste sich Molau mithilfe des Verfassungsschutzes von der rechten Szene. Mittlerweile ist er in Integrations- und Inklusionsprojekten tätig.

Doch der Konflikt wirkte lange nach. 2018 tauschten sich zwei Ehepaare, deren Kinder an der Schule waren, im Gespräch mit der taz über den Konflikt aus – ein seltenes Gespräch mit Betroffenen. »Ich weiß noch, dass ich gar nicht glauben konnte, dass der Lehrer unseres Sohnes der NPD nahe stand. Ich saß bei der Familie in der Küche, unser Sohn war mit seinem Sohn befreundet«, erzählte Georg Maier. Das Hauptproblem wäre nicht gewesen, dass der Lehrer gehen sollte, denn er wollte sich anfänglich bloß beurlauben lassen. Das Problem sei eher gewesen: »Wie mit den Kindern umgehen?« Für ihn und seine Frau sei jedoch ziemlich schnell klar gewesen, »das geht nicht. Die Kinder müssen die Schule verlassen, weil die Verbindungen eben zu eng sind, man sitzt dann neben dem Exlehrer an der Seite, baut etwas oder macht etwas anderes.« Das sei »einfach nicht mehr möglich«, so der Vater.

Die Kinder weiter zu der Familie gehen zu lassen, konnten beide Paare sich nicht mehr vorstellen. Martin Franke betonte: »Wir waren ja auch bei ihnen zu Hause«, und da sei nichts Auffälliges gewesen, da hätten keine Fahnen an der Wand gehangen oder Rechtsrockplatten im Regal gestanden, da waren Reinhard Mey und BAP. »Aber die Tatsache, so der Vater, dass seine Examensarbeit eine wohlwollende beziehungsweise verherrlichende Analyse über einen Ideologen des Nationalsozialismus war, der als einer der hauptverantwortlichen Mittäter in den Nürnberger Prozessen zum Tode verurteilt wurde, ließ mich befürchten, dass da viel subtiler agiert wird«, sodass er befürchtetet, dass die Kinder sehr wohl indoktriniert werden könnten, aber die Kinder in dem Alter das gar nicht hätten sagen können. Und Annerose Pape-Maier ergänzt, wie alle noch angefasst vom Konflikt: »Und das alles unter dem Deckmantel des Alternativen, das das alles so überdeckte. Wir alle haben doch alle BAP im Regal stehen.«

Sie räumte auch ein, Hinweise vielleicht nicht gesehen zu haben, weil »sein Gestus, sein Aussehen (…) nicht ins Bild eines Rechten« passten. »Er wirkte gebildet, alternativ. Ja, ich weiß, wir sind da dem Klischee des glatzköpfigen Nazis – dumm und gewaltbereit – aufgesessen«, gibt sie zu. »Was mich persönlich berührt«, so Martin Frank, »ist, dass man da einer Einrichtung die Kinder anvertraut hat, wo sie nicht durch rechtes Gedankengut gefährdet sind, und dann nutzt das ein Lehrer aus. Bei mir bleibt haften: Man hätte auch selber besser schauen müssen.« Judith Franke sagt indes offen: »Da ist ein wenig Unschuld verloren gegangen.«

Dem Konflikt an der Braunschweiger Waldorfschule folgten weitere Konfrontationen mit rechtem Personal im Kollegium oder der Elternschaft an verschiedenen Waldorfschulen. In Rendsburg musste die Schule sich mit den Verbindungen eines geachteten Lehrers ins »Reichsbürger«-Milieu auseinandersetzen. In Minden wurde das Kollegium mit der rechten Vita eines geschätzten Kollegen konfrontiert, der Kontakte zum NS-Kriegsverbrecher Erich Priebke (1913–2013) hatte. Ein Konflikt fand 2018 besondere mediale Resonanz – wohl wegen der wissenschaftlichen Prominenz des Vaters: Helmut Lethen, ehemaliger APO-Aktivist und einer der renommiertesten Germanisten und Kulturwissenschaftler des Landes. Seit über 20 Jahren ist der pensionierte Professor mit der wesentlich jüngeren Philosophin Caroline Sommerfeld verheiratet. Er blieb eher links, sie ging eindeutig nach rechts. Längst gehört sie zum engen Kreis des neurechten Netzwerkes um Götz Kubitschek, ist zu einer der wenigen weiblichen Ikonen der »Neuen Rechten« geworden.

2018 kündigte eine der Waldorfschulen in Wien den Ausbildungsvertrag für die beiden Söhne des Paares. Im September schrieb die FAZ, dass die Kinder wegen ihrer »falschen Mutter« die Schule hätten verlassen müssen. »Knall auf Fall« und unter Tränen seien sie »am letzten Schultag vor den Sommerferien jäh aus ihrem Klassenverband herausgerissen« worden. Vor dem Rauswurf habe die Schule Sommerfeld schon 2017 als Schulköchin gekündigt. Schnell stand allein die Waldorfschule in der Kritik: »Reinheitswahn« und »Sippenhaftung«. Im Oktober hieß es im Zeit-Magazin, die Schule handele nach der Formel: »Versippt ist versippt, falsches Blut ist falsches Blut.« Der Rauswurf sei eine »politische Säuberungsmaßnahme«. »Ein Narrativ setzte sich durch«, schrieb Volker Weiß in der FAZ vom 3. Februar 2019.

Und der Historiker tat, was Medien nicht taten: Er prüfte die Fakten. In der FAZ enttarnte er »die große Inszenierung«, indem er bei der betroffenen Schule mal nachfragte. Manu Knirsch, die Obfrau des Trägervereins der Schule, stellte die Auseinandersetzung prompt anders dar. So sei Sommerfeld gar nicht in der Küche angestellt gewesen, es habe nie ein Dienstvertrag bestanden. »Ihre Tätigkeit war reine Elternmitarbeit, die in Waldorfschulen üblich ist. Wie soll man jemandem kündigen, der in keinem Angestelltenverhältnis zum Verein stand?« Die Mutter habe selbst den Wunsch geäußert, nicht weiter in der Küche tätig zu sein. Ohnehin habe eine entsprechende Ausbildung gefehlt.

Die Kündigung des Ausbildungsvertrages der Kinder sei auch nicht von jetzt auf gleich erfolgt. Eine langwierige Diskussion sowie ein Beschluss der Generalversammlung des Vereins seien dem vorausgegangen. In dem anderthalbjährigen Prozess habe sich die kleine Schulgemeinschaft nahezu aufgerieben, sagt Knirsch. Und sie nennt auch einen Grund, warum es überhaupt zum Konflikt kam: Sommerfeld habe über den Mailverteiler einschlägige Texte verschickt, wogegen Eltern sich verwahrten. Die Schule bedauere die Trennung, schreibt Weiß. Sie habe lange nach einem Kompromiss gesucht. Der Mutter sei aber ihre Weltanschauung wichtiger als der Schulplatz der Kinder gewesen.

Der vermeintliche Skandal um »Sippenhaft« an einer Waldorfschule erscheint eher als ein Skandal mangelnder journalistischer Sorgfalt in einzelnen Medien. Im Freitag hatte sich Lethen am 11. Januar 2019 noch als Opfer des Konfliktes gerieren können, ohne dessen Auslöser zu reflektieren. Zu Abgrenzungswünschen einer Mutter an der Schule führte er stattdessen aus: »Ich frage mich, wie solche Vorstellungen, wie sie bei den Nazis verbreitet waren, heute in die Köpfe von linken Eltern kommen.«

Immer wieder muss sich das Kollegium an Waldorfeinrichtungen mit Kindern aus Familien mit rechtem Hintergrund auseinandersetzen. Mal, weil die Einrichtung die Kinder aufnimmt, mal, weil sie sie ablehnt. Als eine Berliner Waldorfschule Ende Dezember 2018 das Kind eines Abgeordneten der AfD nicht aufnehmen wollte, sorgte das für Diskussionen bis ins Jahr 2019 hinein. Einige Eltern und Lehrer:innen hatten befürchtet, dass der AfD-Politiker subtil Einfluss nehmen könnte und dass womöglich rassistische oder nationalistische Positionen den Schulfrieden gefährden würden. Erneut wurde in den Medien »Sippenhaft« beklagt. Nach einem Treffen von rund 20 Lehrer:innen mit dem AfD-Mann und seiner Frau sowie einer Elternversammlung war die Entscheidung gefallen. »Um eine einvernehmliche Lösung des Konfliktes wurde gerungen – sie konnte aber nicht erreicht werden«, erklärte der Geschäftsführer des Trägervereins. Dem Kind könne nicht die Unvoreingenommenheit und Unbefangenheit entgegengebracht werden, die geboten sei.

Oft wird in diesen Konflikten der Kontext wenig reflektiert. Für Eltern aus rechten Milieus sind Waldorfkindergärten oder-schulen nicht nur wegen des musisch-künstlerischen Angebots attraktiv, sondern auch wegen des Steiner’schen Kosmos aus germanischer Mystik und esoterischen Ressentiments sowie der antiaufklärerischen Kulturkritik und antimaterialistischer Wissenschaftsfeindlichkeit. Auch für verschiedene Politiker:innen und Publizist:innen aus dem rechten Spektrum ist der Begründer der Anthroposophie deshalb eine wichtige Inspirationsquelle.

In Caroline Sommerfelds Ratgeber Wir erziehen – zehn Grundsätze, 2019 im Antaios Verlag erschienen, wird schon bei der Kapiteldarstellung positiv auf Steiner eingegangen. Sommerfeld, die heute bei der Identitären Bewegung mitwirkt, kommt aus einer alternativen Familie. Zu Beginn schreibt sie gleich, dass »in meinem Elternhaus (…) ›Alternative-Liste-Die-Grünen‹-Sonnen-blumenposter« an der Wand hing, der nächste Bioladen war der ihrer Mutter, und ihr Vater war »der Müsli-Mann«. Doch sie betont, ihre Eltern »waren ›Ökos‹, aber keine Linken im damaligen Sinn«. Antiautoritäre Erziehung? Die Eltern bestimmten, unhin-terfragt und selbstverständlich, betont sie. Die Familie wurde als »Teil eines ganz Großen, nämlich der Natur« geschätzt. Ökologisch bedeutet eben nicht gleich links.

In der Reformpädagogik sieht Sommerfeld einen »konservativen-revolutionären Geist«, der den meisten Menschen nicht bewusst sei. Doch die Reformpädagog:innen hätten »Grundbegriffe wie Führen, Autorität, Askese, Glauben und Volk auf Lager«. Und es ist ihr wichtig, die »Verwurzelung im eigenen Volk« gegen die »Vermassung und eine allgemeine Gleichheit der ›wohlfeil erworbenen Menschenreche‹« zu stellen. Reformpädagog:innen wie Peter Petersen (1884–1952), Maria Montessori (1870–1952) und Steiner reduziert sie auf ihre Interpretation: »Der konservative Zugang zur Wirklichkeit der Erziehung besteht darin, das Überzeitliche herauszuschälen und zu bewahren.«

In dieser Argumentation verschwinden die reformpädagogischen Ansätze, wie, dass das Individuum und seine Entwicklung zuerst bedacht werden, Lehrkräfte als Entwicklungsbegleitende und nicht als Autoritäten handeln sollen oder selbstbestimmtes Lernen leitend wirken soll. Mit einem längeren Rekurs auf Steiner hebt Sommerfeld so auch die Relevanz und Akzeptanz von Autorität hervor. 1924 hatte er geschrieben: »Weh ist einem ums Herz heute, wenn man hört aus allen möglichen Parteirichtungen heraus, daß eine Art von demokratischem Sinn schon in der Schule eintreten soll; daß die Kinder gewissermaßen schon eine Art Selbstverwaltung ausüben sollen.«

Das »›Volksseelen‹-Konzept« von Steiner schließt für sie nahtlos an das neurechte Konzept des Ethnopluralismus an. Sie stellt denn auch die Annahme des Ethnopluralismus, dass jede Ethnie einen bestimmten, sie prägenden Lebensraum habe, der vor Einwanderung und Vermischung bewahrt werden müsse, gegen eine »interkulturelle Erziehung«. Zudem weiß sie, dass »ältere Kinder und Jugendliche (…) in der Lage (sind) ein Bewußtsein von der Gefährdung des Eigenen zu erlangen«. Und sie betont, aus Die Mission der einzelnen Volksseelen von Steiner zitierend, dass die »›einzelnen Volksangehörigen (…) ein Verständnis‹« für »›ihr Volkstum‹« entwickeln müssten. Mit Steiner will sie ebenso die Ungleichheit von »Volk und Rasse« begründen.

Auf sezession.net, das Götz Kubitschek verantwortet, gehört Sommerfeld zum Stammpersonal. Im Kontext der Debatte um sie an der Waldorfschule griff sie am 30. August 2017 die »Stuttgarter Erklärung gegen Rassismus und Diskriminierung« an, die der Bund der Freien Waldorfschulen in Berlin zehn Jahre zuvor verabschiedet hatte. Dort wird ausgeführt, dass sich die Freien Waldorfschulen bewusst seien, »dass das Gesamtwerk Rudolf Steiners vereinzelt Formulierungen enthält, die von einer rassistisch diskriminierenden Haltung der damaligen Zeit mitgeprägt sind. Die Waldorfschulen distanzieren sich von diesen Äußerungen ausdrücklich.« Der Bund der Freien Waldorfschulen in Österreich, wo Sommerfelds Kinder zur Schule gegangen waren, hatte sich der Resolution im März 2008 in einer »Wiener Erklärung« angeschlossen.

Zu viel Selbstkritik für Sommerfeld. Sie schlug eine Gegenerklärung vor. Die »Wiener Erklärung« sei, so Sommerfeld, »Ausdruck der Tatsache, daß wir heute bereits in den Verhältnissen stehen, von deren Eintreten Rudolf Steiner erst in etwa 200 Jahren ausgegangen ist«. Steiner hatte am 4. April 1916 gewarnt, dass »ungefähr im Jahre 2200 und einigen Jahren (…) eine Unterdrückung des Denkens in größtem Maßstabe auf der Welt losgehen« werde. »Und in diese Perspektive hinein muß gearbeitet werden durch Geisteswissenschaft.« Dass die von Steiner prognostizierten Zustände wesentlich früher eingetreten seien, hat nach Sommerfelds Auffassung seine »Ursache nicht zuletzt darin, daß es die anthroposophische Bewegung – bis auf wenige Ausnahmen – verabsäumt hat, das angeregte Gegengewicht herauszubilden«.

Vor allem die institutionellen Strukturen seien »zu einem Ideologieapparat« geworden, »der sogar vielmehr im gegenteiligen, reaktionären, Sinne wirkt«. Dieser Apparat sehe »seine Loyalität nicht in der Freiheit des Geisteslebens«, sondern »in vorauseilendem Gehorsam gegenüber der ›Offenen Gesellschaft‹. Alles, was der globalistischen Weltordnung entgegensteht, wird als ›Rassis-mus‹, ›Nationalismus‹ und ›Diskriminierung‹« diskriminiert. Und sie appelliert: »Stellen wir die Würde des seit dem Tode Rudolf Steiners verratenen Freien Geisteslebens wieder her!«

Anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der Waldorschulen am 4. Oktober 2019 erneuert Sommerfeld ihre Kritik. Den Kurs des Bundes der Freien Waldorfschulen sieht sie bei sezession.net auch dem Druck der vermeintlichen »political correctness« geschuldet. Mit der »Stuttgarter Erklärung« sei der BdFWS eingeknickt. Sie lässt keine Zweifel aufkommen, dass es für sie unhaltbar ist, die inkriminierten Textstellen bei Steiner als Belege für Rassismus zu werten: »Für mit der Materie einigermaßen Vertraute sind sie jedoch, wie bei jedem großen Autor, aus dem jeweiligen Kontext erläuterbar.« Die Stuttgarter Erklärung sei eine Angsterklärung, die »auch nach innen angsterzeugend« wirke, »mit dem Resultat zunehmender offener Politisierung«.

Abermals konstatiert sie einen Verrat an Steiner, diesmal zugunsten einer »›Kundenanthroposophie‹« und einer »›Freundes-anthroposophie‹«. Die Unterscheidung geht auf den Anthroposophen Martin Barkhoff zurück, den sie breit zitiert: »Die Kundenanthroposophie wird alle Kraft einsetzen und alle kundenvertreibenden Ideen, Haltungen und Menschen über Bord werfen oder auf dem Scheiterhaufen verbrennen, um den Kunden zumutbar zu bleiben. Sie wird versuchen, durch die geforderten Mittel von Abgrenzung, Ausgrenzung, öffentlichen Bekenntnissen, ›indivi-duell‹ und in Massen, ihre polit-religiöse Korrektheit zu erweisen.«

Sommerfeld zitiert solche kritischen Anmerkungen aus dem anthroposophischen Milieu, um die Distanzierungsbemühungen der anthroposophischen Verbände von ihrem Spiritus Rector anzugreifen. Sie selbst ordnet die Steiner’schen Ressentiments einerseits als wenig relevant ein, andererseits nutzt sie seine Volksund Volksseelenzuschreibungen in ihrem »Erziehungsratgeber« zur Legitimierung extrem-rechter Argumentationen. Der Widerspruch scheint nicht zu stören.

Selbstreflexion

Sommerfeld steht für einen Trend: Von weit rechts erfährt Steiner eine erneute Wertschätzung. So erklärt Jonas Glaser den Begründer der Anthroposophie im Compact Spezial Nr. 28, 2020, zum »erste(n) Querdenker«. Die gesamte Ausgabe des Magazins für Souveränität feiert »die Querdenker«, ihre »Liebe und Revolution«. In dem Themenblock »Die Vorläufer« stellt Glaser, Kulturredakteur des Magazins, fest: »Anthroposophen gehören zum Aktivisten-Kern der Freiheitsbewegung.« Die Querdenken-Bewegung versteht sich selbst auch als »Freiheitsbewegung«. Glaser weiß weiter: »Rudolf Steiner sorgt im Mainstream für schizophrene Reaktionen: Einerseits schicken grüne Hipster ihre Kinder auf Waldorf-Schulen, kaufen im Bioladen nachhaltige Produkte von Demeter-Höfen oder Kosmetik von Weleda und suchen bei Erkrankung anthroposophische Ärzte oder Kliniken auf.« Doch der Kern »seiner Weltanschauung« sei »für die Linksalternativen nichts als wirre Esoterik und Verschwörungstheorie«.

»Für die Linksalternativen«? Eine doch sehr pauschale Wahrnehmung, die wenig die Wirklichkeit abbilden dürfte. Denn viele Linksalternative beziehen sich auf anthroposophische Ideen. Die Debatte um die Wurzelrassen ist für Glaser ohnehin nur ein Versuch, Steiner der »rechten Ecke« zuzuordnen. Als Vordenker für die Covid-19-Leugner:innen und Pandemie-Maßnahmen-Kritike-r:innen taugt er Glaser zufolge vor allem wegen seines Antimaterialismus. Steiner habe den Materialismus als »grundlegende Schwachstelle unseres Zeitalters« ausgemacht: »die Behauptung, dass sich Geist, Leben und Kosmos ausschließlich aus der Materie erklären ließen – ein Dogma, das jegliche Religiosität, immaterielle Wesen oder Ideen, Freiheit und Unsterblichkeit ins Reich der Illusionen verweist«. Als vergänglichem Kind des Zufalls bleibe dem Menschen nichts, als sein Leben an Reichtum, Erfolg und flüchtiger Triebbefriedigung auszurichten. Der Homo sapiens der Moderne lebe »in der furchtbaren Gewissheit«, »dass seine gesamte Persönlichkeit, all sein Handeln, Erfahren und Erinnern mit dem Tod ausgelöscht« werde.

Dieser Materialismus nehme auch der Natur ihre Beseelung, lasse sie »zum puren Rohstofflieferanten kommerzieller Produktion« schrumpfen. Steiner setze aber »diese(r) Weltauffassung, geboren aus der Aufklärung, bestärkt durch den Erfolg von Naturwissenschaft und Technik, (…) die erneute Hinwendung zu Spiritualität, Geist und Seele entgegen«. Tiefe Einsichten gewonnen aus theosophischen Visionen. Der »modernen Wissenschaft« und der »Schulmedizin« stelle Steiner eine »notwendige Ergänzung« und ein »Heilungskonzept« an die Seite, »das auch die geistig-seelische Dimension miteinbezieht«.

Alles eine Überinterpretation von Steiner aus dem extremrechten Spektrum und der verschwörungsnarrativen Szene, alles nur irrelevante Sentenzen aus dem allumfassende Œuvre, alles falsch aus dem anthroposophischen Kosmos rezipiert? Die Frage mit »ja« zu beantworten, könnte das Ende der gebotenen Reflexion bedeuten. Bei Steiner gehen esoterische Ressentiments und germanische Mystik mit einer antiaufklärerischen Kultur- und einer antimaterialistischen Wissenschaftskritik einher. Das kann in der anthroposophischen Rezeption durchaus zu einer ambivalen-ten Haltung gegenüber Egalität und Emanzipation führen, Widerstand gegen Humanismus und Liberalität begründen.

Ein Editorial und ein Leserbrief in dem gewichtigen waldorf-pädagogischen Magazin erziehungskunst spiegelt diese Spannungen wider. In der Oktober-Ausgabe 2020 setzt Redakteur Mathias Maurer im Editorial das Maskentragen mit einer Burka gleich. Er schreibt im Editorial: Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) »konnte als damaliger Staatssekretär im Zusammenhang mit der Burka-Diskussion noch behaupten, eine Verschleierung sei ›ein Statement an alle anderen um mich herum: Ich isoliere mich, grenze mich ab, entziehe mich den Blicken der anderen und verweigere mich damit einer der grundlegendsten Formen der zwischenmenschlichen Kommunikation. Ich verwehre meinem Gegenüber die Möglichkeit, sich im wahrsten Sinne ein Bild von mir zu machen‹ (…) All das sei nur schwer vorstellbar und das Gegenteil einer offenen demokratischen Gesellschaft.« Nun aber stehe er für die Pflicht zum Tragen einer Maske. Maurer schließt: »Was er (Spahn) in Bezug auf die kulturelle Integration nicht für möglich hielt, ist heute für alle gesellschaftliche Normalität.«

Auf der Website erziehungskunst.de kontert Ina Kähler, Sekretärin der Waldorfschule in Heidelberg, unter dem eindeutigen Titel: »Fassungslos«. Damit beschreibt sie ihre Reaktion auf den Umstand, dass von der erziehungskunst keine »Argumentationshilfe« gekommen sei. Denn: »Die Maskenpflicht auf dem Schulgelände und in den Schulgebäuden ist eine gesetzliche Vorschrift, die uns den Alltag sehr schwer macht.« Der »Burkavergleich« sei »da nicht hilfreich gewesen«. Sie wünsche sich Hilfe, »wie die Schulen in diesen schwierigen Zeiten ihre Kraft in ihre pädagogischen Aufgaben geben können, und sich nicht zerreiben müssen in einem Kampf, der in die Politik gehört und nicht in die Schule«. Inwieweit Schule als politikfreier Raum verstanden werden sollte, sei dahingestellt.

Deutlich wurde, wie weit die Meinungen innerhalb der Waldorf-Szene auseinandergehen. Und die Redaktion ließ auch zu, dass die unterschiedlichen Positionen zu Wort kamen. Doch diese Offenheit verschwindet bei einer autoritären Esoterik. Sie ist versteinert und verhärtet zu einer »rohen Bürgerlichkeit« (Wilhelm Heitmeyer), in der das eigene Anliegen das einzig legitime ist. Und das kann bisweilen mit lieben und warmen Worten formuliert werden.

In der Winterausgabe 2020 des Demeter-Journals findet sich in der Rubrik »Stell dir vor« ein Artikel mit dem Titel »Wenn wir uns trauen, zu vertrauen«, in dem – mit imaginiertem Blick aus der Zukunft – die Proteste gegen die staatlichen Pandemie-Maßnahmen zur »ersten Revolution der Weltgeschichte« heroisiert werden, »die nicht aus Wutbürgern, sondern aus Lustbürgern bestand«. Im »verstörend warmen und trockenen Winter des Jahres 2020« seien die Menschen auf die Straßen gegangen, und so habe begonnen, was »Historiker*innen später als nichts Geringeres einschätzten als die Rettung unseres Planeten – besser bekannt als: die große Vertrauensrevolution«. Mit dem Wegfall jeder Kontrolle hätten »auch Zirkel und Metermaße ihr Ende« gefunden, »Füllstandhöhen und Eichstriche, Dezibel-Messgeräte und Stromzähler«. »Mit der neu erkämpften, unkontrollierten Alltagsfreiheit« hätten sich »immer neue, immer tiefer gehende Freiheiten erwirken« lassen. Eine positive Utopie, ein Goldenes Zeitalter.

Dabei wird nur ignoriert, dass sich bei den Querdenken-Protesten, die in der Fantasie die schöne neue Welt hervorbringen, in der Realität des Jahres 2020 und 2021 Rechtsextreme und Reichsbürgerbewegte eingereiht haben. Dass beim Sturm auf den Reichstag neben den Regenbogenfarben auch Reichsflaggen im Wind wehten. Die positive Bewertung der Proteste ignoriert auch, welche Konsequenzen die Missachtung der Pandemie-Maßnahmen hat. Die »Lustbürger« sind letztlich – überspitzt formuliert – »Ego-Bürger«. Ihre Lust, ihre Freiheit geht ihnen über alles und andere. Diese Selbstbezogenheit dieser vermeintlich Querdenkenden scheint so gar nicht zu der Selbstaufgeklärtheit und Selbstaufopferung zu passen – und passt doch.

»Ich habe den Eindruck, dass kaum jemand weiß, was wirklich Anthroposophie ist«, sagte Helmut Zander dem Deutschlandfunk. Das anthroposophische Milieu sei zudem hochdifferenziert, reiche »von offenen, linken, bürgerlichen, grünen Anthroposophen« auf der einen Seite »und einer Betonfraktion auf der anderen Seite«. Um mehr in einen kritischen Dialog zu kommen, schlägt er in Rudolf Steiners Rassenlehre – Plädoyer, über die Regeln der Deutung von Steiners Werk zu reden vor, »Steiner in seiner Zeit zu kontextualisieren«. Eine »historisch-kritische Deutung« der Bibel habe dem Christentum auch nicht ihre Religion unterminiert. Entscheidend dürfte also sein, welche Konsequenzen aus den esoterischen Dogmen Steiners gezogen werden: Führen sie zur Entwertung oder zur Aufwertung des Menschen?

Die »Stuttgarter Erklärung«, die der Bund der Freien Waldorfschulen am 20. November 2020 auf der Mitgliederversammlung erneut überarbeitet verabschiedete, darf als Selbstreflexion verstanden werden. Sie wehrt sich gegen eine Entwertung des Menschen im Namen der Anthroposophie. Dabei bezieht sie zwar Stellung zu einzelnen Aussagen Steiners, ordnet deren Bedeutung aber nicht in das Gesamtwerk ein. Dennoch versichert der Dachverband: »Weder in der Praxis der Schulen noch in der Lehrer:innenausbildung werden rassistische oder diskriminierende Tendenzen geduldet.« Die Freien Waldorfschulen verwahren sich »ausdrücklich gegen jede rassistische oder nationalistische Vereinnahmung ihrer Pädagogik und von Rudolf Steiners Werk«. Ein großer Auftrag, eine gegenwärtige Herausforderung gerade wegen der vielen Berührungspunkte mit der Querdenken-Szene und Corona-Leugnungsbewegung.

In der Auseinandersetzung über die Pandemie-Maßnahmen geraten die beiden Fraktionen einer geschlossenen Anthroposophie und einer offenen Anthroposophie stärker aneinander. Michael Blume, Religionswissenschaftler und Experte für Verschwörungsmythen, denkt, dass die Anthroposophische Gesellschaft erkannt hat, dass Corona zu schwierigen Auseinandersetzungen in den eigenen Reihen führen kann. Am 4. Dezember 2020 war er sich gegenüber der taz sicher: »Corona wird die Anthroposophie in Struktur und Lehre verändern.« In welche Richtung? Blume, der auch Antisemitismusbeauftragter des Landes Baden-Württemberg ist, hält »auch Abspaltungen« für möglich. Radikalisierungen könnten folgen.

1935 wies Ernst Bloch in Erbschaft dieser Zeit darauf hin, dass das »Okkulte« Steiners das »Vordringen des Dunkelsinns faschistischer Reaktion« mit ermöglicht habe. Das anthroposophische Milieu muss sich sowohl mit den internen Radikalsierungen als auch mit der externen Indienstnahme des Begründers auseinandersetzen. Und das tut es. Mal beim Abendessen in der Familie, mal beim Thementag des Bundes der Freien Waldschulen. Das anhaltende Gejammer der Sommerfelds & Co. bestätigt, dass es diese kritische Auseinandersetzung gibt.