Retten und Richten. Vegan-und Tierrechtsbewegung

Vegan und Wahn. Das Video auf Telegram ist kurz. Die Botschaft von Attila Hildmann ist umso deutlicher. »Ihr müsst nach Berlin, bevor es zu spät ist! Jagt sie aus den Ämtern! Sobald deutschlandweite Ausgangssperre kommt, stürmt Berlin! 83 Mio. Deutsche haben die Macht«, verkündet er am 1. April 2021. Kein Aprilscherz. Hildmann, Koch für vegane Ernährung und Autor von Kochbuch-Bestsellern, war als »hipper Gesundheitskoch« eine Weile im Fernsehen omnipräsent, von Galileo und Menschen bei Maisch-berger über Stern TV bis zu Let’s Dance. Im Video führt er aus, was ihn so erzürnt und welche finstere Macht im Hintergrund er am Werke sieht: »Ausgangssperre in Brandenburg« unter Dietmar »Woidke – SPD – Jude, Ausgangssperre in Hamburg« unter Peter »Tschentscher – SPD – also ein Kommunist – Jude«.

Seit einem Jahr werde die Zerschlagung der deutschen Wirtschaft betrieben, weiß Hildmann, und er beklagt die »Freiheitsberaubung« und »Folter durch Mundwindel, Testzwang, Menschenversuche mit einem experimentellen Genimpfstoff«. Die Menschen ließen »es über sich ergehen«, wegen der »stetige(n) Propaganda und Lüge im Judenfernsehen, in der Judenpresse und im Internet«. Doch selbst nach einem Jahr gebe es immer noch keinen »Virus-Nachweis«, und somit gebe es auch keine Pandemie. »Es ist eine Plan-Demie, es ist ein Staatsstreich, und der Jude hat uns, der kompletten Menschheit, den Krieg erklärt, er will eine jüdische Weltdiktatur (…), und er will uns versklaven und ermorden.« Der Widerstand müsse endlich beginnen, die Menschen müssten aber nicht nach »Kassel oder Stuttgart zu den Querdenkern«. Denn wenn man »wissen will«, was die Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) plane, »einfach (Michael) Ballweg fragen, er ist Teil ihres Teams«. Deshalb müssten die Menschen selbst »für ihre Freiheit einstehen und nach Berlin und dort dieses Regime absetzen«, forderte er und rief: »Sieg Heil für alle Völker!«.

Das 3:02 Minuten lange Video dokumentiert die rasante Radikalisierung eines veganen Prominenten. Hinter seinen Namen hat Hildmann bei Telegram einen schwarzen, einen weißen und einen roten Kreis gesetzt – die Farben des Deutschen Reiches, die auch das rechtsextreme Spektrum und die reichsideologische Szene gerne verwenden –, dazu zwei gekreuzte Schwerter. Allein der Telegram-Kanal hat nicht trotz, sondern wohl wegen seines radikalen Antisemitismus 117 476 Abonnenten. Hildmann, der bei Instagram gesperrt und bei YouTube teilweise blockiert ist, nutzt weitere soziale Medien. Bei AttilaHildmannTV, mehr als 15 600 Abonnenten, hat er schon vor dem Telegram-Video die Querdenken-Bewegung um deren Initiator Ballweg als »kontrollierte Opposition« angefeindet.

Ein Klick zur »offiziellen Webseite« mit Matcha-Tee in Bio-Qualität, veganer Bolognese (mit oder ohne Rotwein), Rezepten und Hoodies zeigt einen ganz anderen Attila Hildmann. Hier schildert »Deutschlands Vegan Koch Nr. 1« seinen Wandel hin zu rein pflanzlicher Ernährung. Das Umdenken hat bei dem Berliner mit »türkischen Wurzel« demnach der Tod seines deutschen Adoptiv-vaters 2000 eingeleitet. Ursächlich dafür sei dessen Fleischkonsum und das »hohe Cholesterin« gewesen. Hildmann selbst nahm ab, wurde »Neu-Vegetarier« und später Veganer. Seine berufliche Karriere verdanke der Autodidakt, wie er auf der Homepage bezeichnet wird, seiner »lockere(n) Art und Einstellung zu gesunder Ernährungsweise, klimafreundlichem Kochen kombiniert mit Sport«. Das habe den »Zeitgeist« getroffen.

Das Lockere ist weg, gekommen sind Härte und Hass. In den sozialen Medien drohte Hildmann indirekt, den grünen Bundestagsabgeordneten Volker Beck umbringen zu lassen, schrieb Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU): »Keiner will deine Drecksapp, deine von Gates bezahlte Zwangsimpfung und deinen geplanten Überwachungsstaat«, und wusste, dass zur Beruhigung der Bevölkerung in Berlin Medikamente in das Trinkwasser gegeben würden.

Hier kündigte er auch an, nun »im Untergrund« zu leben, da man ihn ermorden wolle – doch in diesem Fall »nehme ich ein paar mit«. Denn lieber sterbe er, als »ein Leben lang Sklave zu sein«. Bilder von ihm mit Waffen und Sturmhaube postete er, sprach hier und da von »Quarantänekonzentrationslagern« für Kinder und einer von Rothschild »installierten Regierung«. Adolf Hitler sei gar »ein Segen (gewesen) für Deutschland im Vergleich zu Merkel dieser Kommunistin«.

Seine politische Karriere begann Hildmann auf Telegram. »Dann schreiben wir mal Geschichte!«, schrieb er am 28. April 2020. Die letzten Nachrichten auf seinem Telegram-Kanal, wo er bis Anfang April 2021 alleine 18 211 Bilder, 4494 Videos, 17 648 Links und 1151 Sprachnachrichten veröffentlichte, kommen aus der Türkei. Von dort versendete er auch die Botschaft: »Die Nasos (Nationalsozialisten) hatten mit allem Recht! Der Jude vernichtete sie dafür mit seinen Waffenknechten USA, England, und Russland. Danach folgte sein Vernichtungskrieg gegen die Islamische Welt! Wir befinden uns jetzt in der Endphase« und ein Bild von Bundesaußenminister »Heiko Maas, BRD-Judenminister für Aussenpolitik«, auf dessen Stirn ein Judenstern montiert war. Der SPD-Minister ist ins Visier des Vegan-Kochs gerückt, weil der CDU-Bundestagsabgeordnete Klaus-Dieter Gröhler ihn gebeten hatte, Kontakt mit der Türkei aufzunehmen, um Hildmanns Treiben dort zu beenden. Gröhler forderte auch, Hildmann die Gaststättenerlaubnis für seine »Vegan Bio Snackbar« in Berlin zu entziehen, da dieser »täglich (…) zur Ermordung von Juden und zum bewaffneten Sturm auf das Reichstagsgebäude und zur Absetzung der Bundesregierung« aufrufe und »offen das NS-System« verherrliche.

Seit Mai 2020 liefen bei der brandenburgischen Polizei Anzeigen gegen Hildmann ein. Die Staatsanwaltschaft Cottbus leitete daraufhin Ermittlungen wegen Volksverhetzung ein, im November durchsuchte der Staatsschutz Hildmanns Wohnung und beschlagnahmte mehrere Computer. Im August hatte ihn die Polizei kurzzeitig bei einer Kundgebung gegen die Pandemie-Maßnahmen festgenommen. Die Generalstaatsanwaltschaft in Berlin bündelte die Ermittlungen wegen mehr als 1000 Äußerungen. Ein Haftbefehl folgte. Am 25. März 2021 erklärte die Generalstaatsanwaltschaft via Twitter, dass »eine zeitnahe Vollstreckung des Haftbefehls wegen dringen Verdachts der Volksverhetzung, der öffentl. Aufforderung zu Straftaten u. Widerstands gegen Volkstreckungsbeamten nicht zu rechnen« sei, da Hildmann »derzeit in der Türkei« sich aufhalte. Am selben Tag postete der einstige Starkoch: »Bis Deutschland wieder frei ist bleibe ich in meiner Blutsheimat der Türkei, es ist meine wahre Heimat und Boden!«. Aus der Luxusvilla »Angel Hisar Prestige Villa A« am Rand des Ferienortes Hisarönü im Südwesten der Türkei führte er zweitweilig seinen Kampf. Seit dem 1. April 2021 kann die Villa, drei Stockwerke, vier Schlafzimmer, für rund 110 Euro pro Nacht wieder gemietet werden, berichtete t-online.de am 5. April.

Binnen eines Jahres habe sich Hildmann zu einem »gefährlichen Einpeitscher« entwickelt, sagte Pia Lamberty der Deutschen Welle am 30. März 2021. Die Sozialpsychologin wies auch auf die Kriegsrhetorik hin, die Hildmann regelmäßig verwendet. Dadurch werde die Botschaft vermittelt, man befinde sich im Krieg, und deshalb seien auch kriegerische Mittel erlaubt: »Solche Narrative in Kombination mit seinem offenen Antisemitismus können Menschen eben genau dazu animieren. Digitaler Hass hat reale Konsequenzen.« Die schleppenden Ermittlungen seien ein »verheerendes Signal« gewesen. »Er hat gesehen, dass die deutschen Strafverfolgungsbehörden ihn nicht sanktionieren. Rein strategisch musste er dann seinen Antisemitismus nicht mehr verschleiern, da er keine Konsequenzen befürchtet hat.«.

Hildmann hat durchaus auch schon in der Vergangenheit provoziert. Als 2015 im Zuge der Krise der Flüchtlingspolitik vermeintlich überraschend Geflüchtete in der Bunderepublik ankamen, meinte er, dass die Integration ein »heikles Thema« sei, und warnte, dass sie zu »einer aktuellen Selbstverstümmelung deutscher Werte und Kultur« führen könne. In den sozialen Medien wurden seine politischen Aussagen immer derber und radikaler. »Möglicherweise auch mit dem Ziel, durch das Schockmoment und Überschreiten von Grenzen wieder kurzfristig größere Aufmerksamkeit zu bekommen«, vermutet Lamberty.

Einer steht weiterhin zu ihm: Xavier Naidoo. Der erfolgreiche Popsänger sieht in Hildmann einen »Bruder im Geist« und bekennt: »Ich bin glücklich, dass er in Sicherheit ist, dass er sich wohlfühlt. Ich stehe weiterhin zu ihm«, erklärte er auf seinen Telegram-Kanal, der 114 829 Abonennt:innen hat. Innerhalb eines Jahres habe Hildmann viel erreicht, aber auch viel Energie verbraucht. Und so legt Naidoo ein gutes Wort für ihn ein; »Bitte nehmt ihm das nicht übel. Er ist einfach ein blitzgescheiter Unternehmer.«

Übel nimmt die Querdenken-Bewegung Hildmanns Anfeindung in dem Video vom 1. April 2021 womöglich nicht, aber es erfolgte eine Antwort: Michael Ballweg, den Hildmann schon im September 2020 als Teil einer »Freimaurerorganisation« angegriffen hatte, konterte, dass Hildmann seit Wochen untragbare Meldungen veröffentliche. »Wir sind Demokraten. Wir sind eine friedliche Bewegung, in der Extremismus, Gewalt, Antisemitismus und menschenverachtendes Gedankengut keinen Platz hat«, sagte Ballweg – und vergaß die Angriffe von Querdenker:innen auf Polizeikräfte bei der Kundgebung in Kassel am 20. März 2021. Vielmehr betonte er, Hildmanns »offen antisemitische Haltung« sei absurd, und wandte sich direkt an ihn: »Am Ende wünsche ich mir, dass Du wieder Deine Mitte findest.« Die Abgrenzung von Hildmanns radikalem Antisemitismus wird so auch zum Alibi für den latenten Antisemitismus der Querdenken-Szene und Corona-Leugnungsbewegung.

Der Unternehmer auf dem veganen Markt könnte allerdings in dem Jahr seit Ausbruch der Pandemie in Deutschland seine jahrelange Arbeit fast vollständig zerstört haben. Einzelne Handelsketten, so die Vitalia-Drogerien und die Engelhardt-Reformhäuser, haben seine Produkte aus dem Sortiment genommen, ebenso Amazon und Lieferando. Die Firma Voelkel stellte die Zusammenarbeit ein. In der Debatte um ihn und auch von ihm selbst fällt ansonsten auf: Seine Narrative, seine Positionen werden nicht mit dem Veganismus verbunden. In der Vegan-Szene selbst dürfte Hildmann mit seinen Verschwörungsnarrativen, die mittlerweile mit einer radikalen antisemitischen Ideologie und offen nationalsozialistischen Positionen verwoben sind, auch kaum mehr Zuspruch erhalten. Gab es den jemals?

Im Mai 2020 griff der Betreiber des Portals vegan.eu, Guido F. Gebauer, den veganen Starkoch an. Unter dem Titel »Attila Hildmann: Tragik und Warnsignal für die vegane Bewegung« führte er auf der Website aus, dass Hildmann in der Bewegung »schon früh (…) wegen seiner Tendenz zur Selbstdarstellung, seiner Fixierung auf Muskeln, Körperlichkeit und materielle Statussymbole« aufgefallen sei. Mit »seinem aufsteigenden Stern« habe er sich schnell von der Bewegung entfernt. Er habe »wohl selbst als erster« bemerkt, »dass seine Art zu der veganen Bewegung nicht passte«. Als Indiz führt Gebauer Hildmanns Reaktion an, als er aus der Szene wegen seiner Lederschuhe kritisiert wurde. Hildmann soll gespottet haben: »Die Kritik der letzten Wochen ging mir wirklich sehr nahe und ich habe meinen Konsum überdacht. Ab sofort lebe ich mit anderen wahren konsequenten Veganern nackt im Wald. (…) Wir haben noch ein paar Plätze in unseren Höhlen frei, und ich würde mich freuen, wenn ihr euch bewerbt. Die vegane Revolution beginnt im Wald!«

In diesem Spott sieht Gebauer, der auch Geschäftsführer der sozialökologischen Kennenlern-Community gleichklang.de ist, einen »weich gespülten ›Veganismus‹, bei dem man vegan kochen und gleichzeitig Lederschuhe tragen« könne. Bei der nicht-vega-nen Gesellschaft sei Hildmann mit dieser Haltung »bestens« angekommen. Hier sei man schließlich schon zufrieden, wenn »ab und zu vegan« gegessen und sonst das Thema gewechselt werde. »Echte Veganer gelten da als Spaßbremsen, Attila war hier die bessere Wahl.«

Er sei zudem weniger durch Engagement für Tierschutz aufgefallen als vielmehr durch eine »exzessiver werdende Selbstdarstellung und Angeberei mit seinem Porsche sowie Abgleiten in ordinären Sexismus«. In der Bewegung sei er »immer ein Außenseiter« gewesen und »seit Jahren isoliert, erst Mainstream-Medien und Gesellschaft haben ihn zum Star gemacht und tragen damit die Mitverantwortung für seine seitherige Entwicklung, auch wenn sie ihn jetzt fraglos fallenlassen werden«.

Hildmann sei einerseits ein Opfer, denn Medien und Gesellschaft hätten ihn »jahrelang in seiner Selbstdarstellung weiter angetrieben, sodass er sich wohl immer mehr als unverwundbar und unfehlbar erlebte«. Und er sei andererseits auch ein Täter, der »sich in eine Anführerposition für eine irrwitzige und in ihren Konsequenzen menschenverachtend agierende Verschwörungstheorie« begeben habe, sodass er von den »wirklichen zentralen Themen (Veganismus, Eindämmung der Coronavirus-Epidemie im weltweiten Interesse)« ablenke. »Es freuen sich die Betreiber der Schlachtanlagen.« Gebauer hebt hervor: »Dieser neue Kampfgeist von Attila richtet sich jedenfalls nicht gegen Menschen- und Tierausbeuter, nicht gegen Massentierhaltung und Schlachtanlagen, sondern er richtet sich gegen die Pflicht, andere und sich selbst vor der Coronavirus-Infektion zu schützen.«

Die Kritik an den Medien und die betonte Distanz zu Hildmann und einem Life-Style-Veganismus zur Selbstoptimierung ließe sich als Abwehr einer gebotenen Kritik an der Szene lesen. Doch Gebauer räumt ein, es könne »dennoch nicht geleugnet werden (…), dass man sich allgemein doch immer wieder mit seinem Namen schmückte«. Man habe »von dem Erfolg von Attila als vegane Bewegung doch mit profitieren« wollen. Vegan war in den Medien, »und hierzu trug Attila mit bei. Seine Kochbücher waren populär, der Begriff vegan wurde immer akzeptierter.« Man könne schließlich nichts erreichen, wenn man nicht die Menschen erreicht. »So oder ähnlich redeten wir es uns schön und nutzten den Charme von Attila, wenn wir dachten, er könnte hilfreich sein«, schreibt Gebauer. Sich selbst nimmt er von der Kritik nicht aus: Als er in Hannover noch das vegane Restaurant »Gleichklang« betrieben habe, habe er von einem Besuch Hildmanns gleich auf seiner Face-book-Seite berichtet.

Die Lehre für die vegane Bewegung aus dem Fall Hildmann lautet Gebauer zufolge, dass Veganismus und Tierrechte grundsätzlich nicht getrennt werden dürften. »Gesundheit, Fitness und andere Aspekte können selbstverständlich thematisiert werden und können zu einem positiven Image des Veganismus in der Gesellschaft beitragen«, aber dessen »ethische Basis« müsse kommuniziert und etablierter werden. Letztlich, so legt Gebauer nahe, sei Hildmann abgedriftet, weil er diese Basis nicht verinnerlicht habe.

Tier- und Menschenrechte

Tiere werden seit Jahrtausenden geliebt und verachtet, verwöhnt und ausgebeutet, gesund gepflegt und zum Verspeisen gemästet und getötet. Das Verhältnis des Menschen zu seinen Mitgeschöpfen wird nicht erst seit der Moderne diskutiert, Tierrechtsethik hat eine lange Tradition. Allerdings wurden und werden dabei häufig die Rechte für Tiere gegen die Rechte für Menschen gestellt. Tierliebe kann zu Menschenhass führen. Schon in der Antike debattierten Philosoph:innen und Dichten:innen über Tieropfer und kritisierten Fleischverzehr. Der frühgriechische Lyriker Hesiod (um 740 bis 670 v. Chr.) schildert in seinen Lehrgedichten eine »vegetarische Urzeit«, in der Mensch und Tier in Frieden gelebt hätten. In seiner Vorstellung hätten die Menschen damals nur pflanzliche Nahrung zu sich genommen, welche die Erde von selbst hervorbrachte, schreibt Urs Dierauer in dem Aufsatz »Vegetarismus und Tierschonung in der griechisch-römischen Antike« (2001).

Hesiod entwickelte auch bereits den Entfremdungsgedanken und damit ein zentrales Thema der europäischen Philosophie. Und er hatte eine Lösung parat, die klassisch werden sollte. In Werke und Tage beschreibt er, wie durch Prometheus, der in der griechischen Mythologie den Göttern das Feuer stahl, und Pandora, die laut der Mythologie eine verführerische Frau war, der Mensch von sich selbst, seinen Mitmenschen und der Natur entfremdet worden sei. Das habe Not über die Menschen gebracht und den Frieden auf Erden zerstört. All das könnte durch die Ein- und Unterordnung des Menschen in die Natur wieder aufgehoben werden. Modern gesprochen lautete die Losung also: Zurück zur Natur.

Nach dieser frühen Degenerationstheorie, der zufolge es für die Menschheit eine Abwärtsentwicklung von einem hellen Zustand in der Vergangenheit zum als dunkel empfundenen Zustand der eigenen Gegenwart gibt, hinterfragte um 300 vor Christus Theophrast (von 372 bis 287 v. Chr.) die anthropozentrische Betrachtungsweise der Welt. In ihr unterscheidet sich der Mensch durch Vernunft und Sprache grundsätzlich vom Tier und nimmt dadurch eine besondere Stellung in der Natur ein. Auch Theophrast beschreibt in Über die Frömmigkeit eine vegetarische Urzeit, in der die Götter nur Gras und Früchte gegessen hätten und die Tiere vornehmlich als Verwandte des Menschen gesehen worden seien. Kein Mensch habe seinerzeit ein Tier getötet und verzehrt.

Die erste erhaltene Schrift zum Thema Veganismus und Tierlogos verfasste indes Plutarch (von ca. 45 bis ca. 120 n. Chr.), schreibt Dierauer in seinem Aufsatz, der in dem von Manuela Linnemann und Claudia Schorcht herausgegebenen Sammelband Vegetarismus – Zur Geschichte und Zukunft einer Lebensweise erschien. In der Sammlung Moralia finden sich Texte Plutarchs zur Tierethik und zum Vegetarismus. Unter dem Titel »Über die Fleischnahrung« führt der griechische Schriftsteller aus: »›Du fragst, mit welcher Begründung Pythagoras sich der Fleischnahrung enthielt. Ich wundere mich darüber, mit welcher Leidenschaft und welcher Seelenverfassung der erste Mensch mit seinem Mund Mordblut anrührte und mit den Lippen das Fleisch eines toten Lebewesens berührte, Mahlzeit von toten Körpern und Leichen vorsetzte und dazu die Glieder, die kurz zuvor brüllten, kreischten, sich bewegten und sahen, als Zukost und Leckerbissen bezeichnet; wie das Auge das Schlachten, Häuten und Zerstückeln ertragen, wie der Geruch die Ausdünstungen aushalten konnte; wie es den Gaumen nicht bei der Befleckung ekelte, wenn er fremde Wunde berührte und Blut und Eiter tödliche Verletzungen einzog.‹«

Mit rhetorischen Mitteln möchte Plutarch Betroffenheit und Ekel erregen. Ein Effekt, auf den noch heute Tierrechtler:innen, Vegetarier:innen oder Veganer:innen setzen. Doch nicht nur die Rhetorik hat Plutarch vorweggenommen, sondern auch wichtige Gedanken. In den Reden »Über die Klugheit der Tiere« und »Auch Tiere haben Verstand« entwirft er eine vollständige tierethische Argumentation, deren vier zentralen Theoreme sich bei den bedeutenden Theoretikern der Tierrechtsbewegung Jeremy Bentham, Helmut Kaplan und Peter Singer wiederfinden. Plutarch schreibt erstens den Tieren nicht nur eine Seele zu, sondern hebt auch hervor, dass ihr Leben einen Wert hat: »Für ein kleines Stücklein Fleisch nehmen wir den Tieren die Seele sowie Sonnenlicht und Lebenszeit, wozu sie doch entstanden und von Natur aus da sind.« Nie zuvor war so klar betont worden, dass die Tiere den Sinn ihres Daseins in sich selbst tragen und nicht um der Menschen willen geschaffen worden sind. Er betont, dass der Genuss, den der Mensch durch das Fleischessen erzielen kann, in keinem Verhältnis zum Verlust des Lebens der Tiere stehe.

Wohlwollend stellt Dierauer fest, dass diesen »Gedanken (heute) der vegetarische Philosoph Helmut Kaplan« aufgreift. Kaplan, Autor des Tierrechtsbestellers Leichenschmaus (1993), betont: »Größere Interessen dürften nicht kleineren Interessen geopfert werden (…) Beim Fleischessen werden so gut wie alle tierlichen Interessen einem einzigen menschlichen Interesse geopfert«.

Plutarch führt zweitens aus, dass Tieren nicht ungerechtfertigt Leid und Schmerz zugefügt werden sollte: »Wer spielt und sich belustigt, soll dies mit solchen zusammen tun, die fröhlich mitspielen (…). So soll man denn auch nicht zum Sport Jagd und Fischfang betreiben und sich freuen, wenn die Tiere leiden und sterben.« Das Leiden der Tiere als Richtschnur für das Verhalten der Menschen griff Jeremy Bentham auf. Der englische Philosoph erklärte 1789: »Die Frage ist nicht: Können sie vernünftig denken? Oder: Können sie sprechen? Sondern: Können sie leiden?« Ausgehend von dem Selbstwert und der Leidensfähigkeit des Tiers stellt Plutarch drittens fest, dass Tiere genauso wie Menschen Verstand und Tugend hätten. Diese Gleichsetzung wiederholt der »vegetarische Philosoph« Peter Singer, betont Dierauer. Mit dem Buch Animal Liberation. Die Befreiung der Tiere, erstmals 1975 erschienen, begründete er die moderne Tierrechtsbewegung.

Als Viertes hebt Plutarch hervor, dass Tiere ebenso wenig wie Sklaven als Dinge oder Sachen behandelt werden sollten: »Denn man darf mit lebenden Wesen nicht wie mit Schuhen oder Geräten umgehen, die man wenn sie zerbrochen oder (…) verschlissen sind wegwirft, sondern wenn aus keinem anderen Grund, dann um sich in der Menschenfreundlichkeit zu üben, muß man sich gewöhnen, gütig und mild mit ihnen zu sein.«

Die Relevanz von Peter Singer oder Helmut Kaplan ist in der Tierrechtsszene selbst umstritten. Auf der Website von Animal Peace heißt es unter »Kleines Wörterbuch der Tierrechte« im April 2021: »Chefideologen: Philosophen wie Dr. Helmut F. Kaplan, Prof. Tom Regan oder Peter Singer werden von den Medien gern zu den Vordenkern der Tierrechtsbewegung gemacht, als ob TierrechtlerInnen wie eine Sekte einen Guru bräuchten.« Die Organisation, der Silke Ruthenberg vorsteht, führt weiter aus, dass die Tierrechtsbewegung »keine Kaderschmiede« habe. Das »Wissen um die Rechte der Tiere« werde auch »nicht von oben aufgedrückt, und vom Fußvolk der Vordenker verbreitet, sondern entwickelt sich weltweit nach der Gesetzmäßigkeit moralischer Entwicklungen.«

Es scheinen allerdings nicht nur die Medien zu sein, die jemanden wie Helmut F. Kaplan zum »Chefideologen« der Organisation machen. Einmal seinen Namen und den von Animal Peace bei Google eingegeben und klicken, schon erscheint auf der Homepage der Organisation ein undatierter Artikel, in dem es unter anderem um die Debatte über den Rinderwahnsinn geht. Dort wird Kaplan als »Sprecher für ethische Grundfragen bei animal peace« bezeichnet. Die Distanz scheint also nicht immer so groß gewesen zu sein, wie heute suggeriert wird.

Animal Peace, mit nach eigenen Angaben 5000 Mitgliedern, formuliert auf der Website auch eine Definition von »Vegan«: »Vegan leben heißt, eine Philosophie in die Praxis umzusetzen, die jede Ausbeutung von Tieren vermeiden will. Es ist die praktische Umsetzung der Tierechte. Veganer und Veganerinnen versuchen, die elementaren Rechte der Tiere auf Leben, körperliche und psychische Unversehrtheit und Freiheit nicht weniger als die der eigenen Spezies zu respektieren.« Dazu gehöre in erster Linie der Abschied von der angeblich als Selbstverständlichkeit übernommenen Vorstellung vom Tier als Rohstoff für Nahrung, Kleidung und sonstigen Bedarf. »Veganer und Veganerinnen essen keine Tiere und keine tierlichen Produkte (Milch, Milchprodukte, Eier, Honig), für die Tiere ausgebeutet und getötet werden, und tragen auch keine Kleidung, für die Tiere ausgebeutet und/oder getötet werden (Pelz, Leder, Wolle, Seide, Daunen). Sie diskriminieren die Tiere auch nicht mit ihrer Sprache durch herkömmliche, herabwürdigende Redensarten.«

2015 geriet die Tierrechtsorganisation allerdings in die Kritik, da sie die Tötung eines Landwirtes durch ein Rind bejubelte. Auf ihrer Internetseite viva-vegan.info schrieben Aktivisten: »Rinder-Mann, geh Du voran: Wieder ist ein Held aus unserer Mitte aufgestanden. Ein dreijähriger Bulle hat nahe Köln seinen Sklavenhalter angegriffen und tödlich verletzt. Der 61-jährige Landwirt wollte eine Schiebetür im Stall reparieren. Als am Abend der Sohn den Stall betrat, um die Kühe zu melken, entdeckte er die Leiche seines Vaters. Wir verneigen uns vor dem Held der Freiheit. Mögen ihm viele weitere Rinder in den Aufstand der Geknechteten folgen.« Ruthenberg berief sich später auf die Pressefreiheit und erklärte: »Wir haben mit keinem einzigen Wort den getöteten Bauern verhöhnt.« Sie hätten sich nur über den »Aufstand eines Geknechteten«, des Rindes, gefreut. »Es ist eine politische und keine persönliche Botschaft.« Rinder seien Subjekte, »die fühlen und denken können und mit diesen Gefühlen und Gedanken ein freies und unversehrtes Leben führen wollen. Wie wir.«

Es ist die Gleichsetzung von Mensch und Tier, die zu dieser Aussage führt – und zu weiteren Aussagen. Am 19. Dezember 2016 kommentierte Animal Peace den islamistischen Terroranschlag auf den Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz in Berlin, bei dem elf Besucher starben und mindestens 67 zum Teil schwer verletzt wurden, auf Facebook so: »Gänse? Sechs Millionen Terroropfer jährlich in Deutschland. Für Gänse ist jeden Tag Weihnachtsmarkt.« Angesichts massenhafter Kritik griff Animal Peace die Kritisierenden verbal an – auch das eigene Spektrum: »Und nun zu Euch Tierschutzdarstellen. Ihr seid so unterwürfig und selbstbezogen, dass ich weinen könnte (…) Eure Kritik ist der reine Tierhass, eine Relativierung des milliardenfachen Völkermords an ihnen. Lernt endlich mal den aufrechten Gang, es wird höchste Zeit.«

Mira Landwehr wies in Vier Beine gut, zwei Beine schlecht – Zum Zusammenhang von Tierliebe und Menschenhass in der vega-nen Tierrechtsbewegung (2019) darauf hin, das Animal Peace hier auf einen Satz des jiddischen Literatur-Nobelpreisträgers Isaac Bashevis Singer anspiele: »Für die Tiere ist jeden Tag Treblinka.« Zugleich stellt sie eine Falschinformation richtig: Nach Angaben der Albert-Schweizer-Stiftung würden in Deutschland jährlich knapp 600 000 Gänse geschlachtet. Doch wie sie anmerkt, hat sich Animal Peace wohl »nicht aus Versehen verzählt und zufällig die Zahl von sechs Millionen gewählt«. Offensichtlich sollen das Schlachten von Gänsen und die Ermordung der europäischen Juden als zumindest vergleichbare Vorgänge dargestellt werden.

Kein Ausrutscher. Relativierungen der nationalsozialistischen Verbrechen finden sich in der Tierrechtsszene immer wieder. Wiederum auf Facebook verglich Animal Peace am 21. Februar 2017 die Ohrenmarkierung für Rinder mit dem Zwang für jüdische Menschen im Nationalsozialismus, den Judenstern sichtbar tragen zu müssen. Die Tierrechtsorganisation berichtete von einem Landwirt aus Schleswig-Holstein, der die Markierung nicht vornehmen wollte, sodass die Behörden einschritten. »Weil er seinen Kühen keinen Judenstern antackern wollte, soll ein Landwirt tatsächlich in die Klapse eingesperrt werden«, schrieb die Organisation und forderte: »Freiheit für Peter!!! Solche Männer braucht das Land.«

Hier gibt es keinen Grundsatzkonflikt zwischen Animal Peace und Helmut F. Kaplan, von dem die Organisation doch so geistig unabhängig sein will. Kaplan befürwortete immer wieder Holocaust-Vergleiche. In einem Interview aus dem Jahr 2010 antwortet der Tierrechtsphilosoph: »Ich finde den so genannten Holocaust-Vergleich nach wie vor sachlich stimmig.« Isaac Bashevis Singers »Diktum ›Wo es um Tiere geht, wird jeder zum Nazi, für die Tiere ist jeden Tag Treblinka‹« bringe »unsere Haltung und unseren Umgang mit Tieren wie kaum ein anderer Vergleich oder eine andere Aussage auf den Punkt«. Und er fuhr fort: »Auf der Aufklärungs- bzw. Bewußtseinsbildungsebene wird der Holocaust-Vergleich m. E. sogar immer wichtiger: In einer Zeit, in der nicht nur das Mitleid mit Tieren immer mehr abzustumpfen scheint, sondern sogar immer öfter regelrechte sadistische Schadenfreude zu beobachten ist, ist der Holocaust-Vergleich mittlerweile so ziemlich das einzige, was die Menschen im Zusammenhang mit Tieren noch aufregt und aufrüttelt.«

Das Interview findet sich auch im April 2021 noch bei fell-beisser.net. Das Tierschutznachrichtenportal hat das Gespräch aber nicht selbst geführt. Es erschien zuerst in dem rechtsextremen Blatt Fahnenträger und dann im NPD-nahen Magazin Umwelt & Aktiv, das seine Printausgabe mittlerweile eingestellt hat. Das Portal stört sich nicht an diesen politischen Verbindungen, auf Quelle und Nachdruck wird verwiesen. Dass man keine Distanz zum rechten Milieu sucht, könnte an dem österreichischen Tier-rechtsethiker selbst liegen. Im Interview sagt er: »(…) außerdem grassiert in der Tierrechtsbewegung eine vollkommen irrationale bzw. sachlich absurde Intoleranz: Leute werden ausgegrenzt, weil sie beispielsweise zu links oder zu rechts oder zu religiös oder zu kapitalismusfreundlich usw. sind. Bei diesen Selbstzer-fleischungstendenzen hat die Fleischindustrie natürlich leichtes Spiel.« Damit hat er gleich erklärt, warum er mit rechtsextremen Medien spricht. Die Logik scheint zu sein: Hautsache für die Tiere, anderen politische Aspekte folgen dann – oder auch nicht.

In der Kritik an Kaplan wird oft auch auf den Text »Tiere und Juden oder Die Kunst der Verdrängung« verwiesen. Schreibt er doch, was in der industriellen Tierhaltung geschehe, entspreche »exakt dem Holocaust der Nazis«: »Die Parallelen sind lückenlos, die Berichte austauschbar. Alles was die Nazis dem Juden antaten, praktizieren wir heute mit Tieren!« Mira Landwehr ist aufgefallen, dass der Text nicht mehr auf Kaplans Website zu finden sei, sie geht allerdings nicht davon aus, dass dies auf ein Umdenken schließen lässt.

Das wäre auch ein zu radikaler Bruch mit seiner Grundposition. In Leichenschmaus. Ethische Gründe für eine vegetarische Ernährung führt Kaplan aus, dass nach dem »Gleichheitsprinzip«, dort wo Menschen und Tiere ähnliche Interessen hätte, diese »ähnlichen Interessen auch gleich berücksichtig werden« müssten. Und er legt weiter dar, dass mit der »Hilfe des Gleichheitsprinzips« veranschaulicht werden könnte, »warum Rassismus und Sexismus falsch« seien. Aber: »Anhand des Gleichheitsprinzips kann auch gezeigt werden, dass sich unser Umgang mit Tieren auf derselben ethischen Ebene befindet wie Rassismus und Sexismus – und deshalb ebenso wenig zu rechtfertigen ist wie diese.« Analog zu Rassismus und Sexismus könne vom »Speziesismus« gesprochen werden, »wenn die Vernachlässigung von Interessen damit begründet wird, dass die betroffenen Lebewesen einer anderen Spezies, also einer anderen biologischen Art, angehören«. Das Falsche, »das Willkürliche, das Irrationale ist in allen drei Fällen das gleiche: Es wird eine moralische Bewertung vorgenommen aufgrund eines Merkmals, das moralisch völlig bedeutungslos ist«. Hautfarbe, Geschlecht und Artzugehörigkeit seien gleichermaßen »untaugliche Kriterien für eine moralische Bewertung«.

Kaplan geht jedoch weiter: »Der Verstoß gegen das Gleichheitsprinzip ist beim Speziesismus sogar noch eklatanter als bei Rassismus und Sexismus.« Denn im Rassismus und Sexismus würden lediglich die »ähnlichen Interessen von Schwarzen bzw. von Frauen vernachlässigt«. Beim Speziesismus würden hingegen »größere Interessen von Tieren« missachtet. An dieser Stelle bleibt er im Ungefähren, führt an, dass um »existentiale tierische Interessen« gehe – um Leben und Tod. Die Betroffenen von Rassismus und Sexismus dürften dieser Bewertung nicht ganz folgen können. Sie blendet aus, dass Menschen wegen ihrer Hautfarbe oder ihrem Geschlecht ermordet werden. Bei der Gleichsetzung von Rassismus, Sexismus und Speziesismus fällt zudem das Fehlen von Antisemitismus auf.

Kaplan hat Leichenschmaus eine Widmung vorangestellt: »Peter Singer in Dankbarkeit: Für die Beendigung der jahrtausendelangen Blindheit und Schande der Ethik«. Keine Überraschung. Singers bereits erwähnte Publikation Animal Liberation. Die Befreiung der Tiere gilt als maßgebliches Werk zur Debatte um den moralischen Status von Tieren. Kaplan sieht in dem Buch »den Beginn« der gegenwärtigen Tierrechtsbewegung. Eine »historische Wende«.

Der australische Philosoph popularisierte nachhaltig den Speziesismus im Kontext der Gleichheit. »Wir haben gesehen, wie die Menschen unter Mißachtung des fundamentalen moralischen Grundsatzes der gleichen Berücksichtigung von Interessen, der unsere Beziehungen zu anderen Lebewesen bestimmen sollte, nichtmenschlichen Lebewesen um trivialer Zwecke willen Leid auferlegen.«

Singer bediente sich auch schon NS-Vergleichen, wenn auch indirekt, indem er Bernhard Grzimek (1909–1987) wiedergab. Der »profilierteste Gegner der intensiven Tierhaltung« verglich demnach »das Unwissen der Deutschen über diese Betriebe mit dem Unwissen einer früheren Generation von Deutschen über eine andere Form von Greueltaten, die ebenfalls den meisten Augen verborgen geblieben waren; und in beiden Fällen ist der Grund für diesen Mangel an Bewusstsein zweifellos nicht so sehr die Unfähigkeit herauszufinden, was vor sich geht, als der Wunsch nichts über die Tatsachen zu wissen, die schwer auf dem Gewissen lasten könnten – und schließlich ist auch der Gedanken tröstlich, dass die Opfer dessen, was immer auch an diesen Orten vorgehen mag, keine Angehörige der eigenen Gruppe sind.«

Über diese Analyse dürfte sich streiten lassen. Auch Grzimek selbst ist bis heute nicht unumstritten. Er war SA- und NSDAP-Mitglied, versteckte aber auch Jüd:innen, leitete den Frankfurter Zoo, wurde Tierdokumentationsfilmer und trat für artgerechte Tierhaltung ein. Singer, der drei Großeltern im Holocaust verlor, stört es nicht, dass Grzimek offenbar Massentierhaltung mit Vernichtungslagern in Beziehung setzte.

In Animal Liberation führt er auch schon aus, was in weiteren Werken noch deutlicher ausgearbeitet wird: Nicht alle Menschen haben für ihn eine »intrinsische Würde«, sind für ihn gleichwertig. »Fragen wir erst einmal, warum alle Menschen – auch Säuglinge und geistig behinderte Menschen, aber auch kriminelle Psychopathen, Hitler, Stalin und alle übrigen Menschen – eine Art von Würde oder Wert besitzen sollten, die kein Elefant, Schwein oder Schimpanse jemals erlangen kann, so erkennen wir, dass diese Frage nicht weniger schwer zu beantworten ist als unsere ursprüngliche Frage nach einer relevanten Tatsache, die die Ungleichheit zwischen Menschen und anderen Tieren rechtfertigen könnte.« Und er betont, »dass es einige Menschen gibt, die eindeutig unterhalb des Niveaus von Bewusstsein, Selbstbewusstsein, Intelligenz und Empfindungsfähigkeit von nichtmenschlichen Tieren liegen«. Als Beispiele nennt er »Menschen mit schweren und irreparablen Hirnschäden« und »menschliche Kleinstkinder«.

Über die Tierrechtsbewegung hinaus dürften Singer und sein Hauptwerk Praktische Ethik (1979, dt. 1984) durch eine Einladung bekannt geworden sein. 1989 sollte er in Marburg an einem international besetzten Symposium mit dem Titel »Bioethik – Ethik – Geistige Behinderung. Gesundheit 2000 und Lebensperspektiven von Menschen mit geistiger Behinderung« teilnehmen. Renommierte Persönlichkeiten aus Medizin, Justiz, Ethik und Pädagogik wollten dort mit Singer die Frage »Should the baby live?« diskutieren. Der Veranstalter, die Bundesvereinigung Lebenshilfe für geistig Behinderte e.V., hatte das Symposium ohne Öffentlichkeit geplant. Schirmherr war das Bundesfamilienministerium. Doch nach massiver Kritik, angestoßen vom »Forum der Krüppel- und Behinderteninitiativen«, musste die Veranstaltung abgesagt werden. Der zentrale Einwand der Protestierenden lautete: »Lebensrechte sind nicht diskutierbar.« Genau das tut Singer in Praktische Ethik.

Die Absage hatte jedoch zwei gegenläufige Effekte, wie Christian Mürner und Udo Sierck in Behinderung – Chronik eines Jahrhunderts (2012) schreiben. Einerseits nahm die Öffentlichkeit nun wahr, »dass behinderte Menschen nicht tatenlos hinnehmen, wenn selbsternannte Experten über ihr Lebensrecht verhandeln«. Andererseits war das Thema in der Welt. Nach der Vernichtung von Menschen durch die Euthanasiemaßnahmen der Nationalsozialisten war es tabu gewesen, über Lebensrechte zu verhandeln. Dieses Tabu war gebrochen, Singers Position wurden wohlwollend verhandelt.

Und die ist eindeutig. In Praktische Ethik, das sich vor allen an eine akademische Leserschaft richtet, beschäftigt er sich unter anderem damit, was eine Person ausmacht. Vier Merkmale kennzeichnen seinen Personenbegriff: 1. ein in die Zukunft gerichtetes Selbstbewusstsein; 2. Autonomie; 3. Leidens- sowie 4. Kommunikationsfähigkeiten. Nur wenn alle vier Merkmale vorhanden sind, kann man nach seiner Auffassung von einer Person sprechen. Angewandt auf den Menschen, kommt er zu dem Schluss: »Manche Angehörige unserer Gattung sind Personen, manche Angehörige unser Gattung sind es nicht.« So könne man beispielsweise »geis-tesgestörte(n) Menschen« nicht den »Status oder die Rechte« zugestehen, »die für ihre Gattung normal sind«. »Dahin vegetierende Menschen« sind für ihn schlicht »human vegetable« – menschliches Gemüse. Vielen Tieren wiederum konzediert Singer sehr wohl die Personenqualitäten. Das hat Konsequenzen für die Stellung des Menschen im Vergleich zu anderen Spezies: »Keine objektive Beurteilung kann dem Leben von Mitgliedern unserer Gattung, die keine Personen sind, mehr Wert verleihen als dem Leben von Mitgliedern anderer Gattungen.« Was das bedeutet, formuliert er etwas vorsichtig: »So scheint es, dass etwa die Tötung eines Schimpansen schlimmer ist, als die Tötung eines schwer geistesgestörten Menschen, der keine Person ist.«

In der Praktischen Ethik geht es also ganz wesentlich um das Auf- und Abwerten von Leben; auf dieser schiefen Bahn werden Primaten, Delfine, Schweine und Raben zu Personen, behinderte Menschen zu Un-Personen. Singers Feststellung zu Tierversuchen ist da nur konsequent: »Wenn die Forscher nicht bereit sind, verwaiste Menschen mit schwerwiegenden und unheilbaren Gehirnschäden zu verwenden, dann scheint ihre Bereitschaft, Tiere zu verwenden, eine Diskriminierung allein auf der Grundlage der Gattung zu bedeuten; denn Menschenaffen, kleinere Affen, Hunde, Katzen und selbst Mäuse und Ratten haben ein stärkeres Bewusstsein von dem, was mit ihnen geschieht, und sind schmerzempfindlicher.« So gelangt auch Euthanasie wieder in den Bereich des Denkbaren. Erwogen werden kann diese nach Singer bei »Menschen, die durch einen Unfall, Krankheit« oder aufgrund ihren »hohen Alters« das Personsein verloren hätten. Grundsätzlich gehen seine Überlegungen aber noch weiter und bleiben auch nicht bei »missgebildeten Säuglingen« stehen. »Der Einfachheit halber werde ich mich auf Kleinkinder konzentrieren, wobei sich alles was ich sage, auch auf ältere Kinder oder Erwachsene anwenden läßt, die auf der geistigen Stufe eines Kleinkindes verharren.«

Ganz diesem Thema gewidmet ist Muß dieses Kind am Leben bleiben? Das Problem schwergeschädigter Neugeborener, 1985 erschienen und 1993 in deutscher Übersetzung verlegt, das Singer zusammen mit Helga Kuhse verfasst hat. Schon vor der Veröffentlichung geriet das Buch heftig in die Kritik, denn die Frage im Titel ist rein rhetorisch gemeint und wird bereits im Vorwort mit einem klaren Nein beantwortet: »Wir sind der Meinung, daß es unter bestimmten Umständen ethisch gerechtfertigt ist, das Leben mancher schwerstbehinderter Neugeborener zu beenden.« Im englischen Original von 1985 heißt es: »We think that some infants with severe disabilities should be killed.« Klingt etwas weniger moderat. Ursprünglich hatte das Buch der Rowohlt-Verlag publizieren wollen, zog sich nach den Protesten aber zurück; der Harald Fischer Verlag sprang schnell ein.

Kuhse und Singer präsentieren auch eine weitere ihnen wichtige Überlegung: die Kosten. Eingeleitet wird es wiederum mit einer rhetorischen Frage: »Aber ist nicht irgendwann der Punkt erreicht, wo die Gemeinschaft zu Recht sagen darf, dass Neugeborene, selbst wenn sie das Potential für ein lohnendes Leben besitzen, nicht am Leben zu halten seien, weil es einfach zu teuer werde, die notwendige Betreuung bereitzustellen, um das Potential zu verwirklichen?« Die Antwort haben die beiden längst gefunden: »Weil wir nicht glauben, dass Neugeborene ein inhärentes Lebensrecht besitzen, halten wir es für rechtens, wenn eine Gemeinschaft beschließt, die vorhandenen Mittel für Aufgaben einzusetzen, die dringlicher sind als die Betreuung und Pflege behinderter Neugeborener«, sofern – diese Einschränkung machen sie immerhin – »deren Eltern nicht bereit sind, für sie zu sorgen«. In der Passage geht es fast unter, doch selbst das »Potential für ein lohnendes Leben« reicht Singer und Kuhse offenbar nicht, um ein unverhandelbares Lebensrecht zu begründen.

Beide dürften wissen, dass die Kosten-Nutzen-Argumentation eine lange Tradition in der Debatte um behinderte Menschen hat und mit zum Euthanasieprogramm im Nationalsozialismus führte. Eine wichtige Grundlage dafür veröffentlichten Karl Binding (1841–1920) und Alfred E. Hoche (1865–1943) im Jahr 1920. In Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens stellten sie die Interessen des Allgemeinwohls gegen die besonderen Interessen der Einzelnen. Der Strafrechtler Binding merkte zu den »geistigen Blöden« an: »Sie haben weder den Willen zu leben noch zu sterben, so gibt es ihrerseits keine beachtliche Einwilligung in die Tötung, anderseits stößt diese auf keinen Lebenswillen, der gebrochen werden muss.« Stand einer Tötung bestimmter Menschengruppen also ethisch nichts im Wege, zeigt der Neuropatho-loge Hoch, dass sie im Sinne des gesellschaftlichen Nutzens sogar geboten sei. Er rechnete vor, wie viel die »Ballastexistenzen«, die »Defektmenschen«, die »nutzlosen Esser« an Reichsmark kosteten: »Nehmen wir für den Einzelfall die durchschnittliche Lebensdauer von 50 Jahren an, so ist leicht zu ermessen, welches ungeheure Kapital in Form von Nahrungsmitteln, Kleidung und Heizung dem Nationalvermögen für unproduktive Zwecke entzogen wird.« Und auch das Pflegepersonal sei einer produktiveren Arbeit entzogen: »(…) eine peinliche Vorstellung, dass ganze Generationen von Pflegern neben diesen leeren Menschenhüllen dahinaltern.«

Im vorpolitischen Raum erreichten die beiden mit ihrer nur 62 Seiten umfassenden Schrift, dass der Wert menschlichen Lebens quantifiziert wurde und es unterhalb einer bestimmten Schwelle als »unwert« betrachtet werden konnte und damit zur Vernichtung freigegeben, resümiert Michael Wunder in seinem Aufsatz »Auf dieser schiefen Ebenen gibt es kein Halten mehr« (1987). Er weist darauf hin, dass Hoches Rechnungen im Nationalsozialismus Eingang in Mathematik-Schulbücher fanden. Bei den Euthanasiemaßnahmen wurden im »Dritten Reich« europaweit etwa 200 000 bis 300 000 Menschen ermordet und zwischen 350 000 und 400 000 Menschen zwangssterilisiert.

In diesem Kontext muss bei aller Kritik an Singer eines betont werden: Er verfolgt kein Eugenik- und Euthanasieprogramm, um den »Volkskörper« rassisch »zu reinigen und zu vervollkommnen«. In seiner »Ethik auf Abwegen« (Oliver Tolmein) sind Euthanasiepositionen vielmehr untrennbar mit seinen Tierrechtspositionen verwoben. Die Forderung der Ausdehnung der moralischen Einstellungen über die Grenzen der menschlichen Spezies hinweg, wie Singer es in dem von ihm herausgegebenen Sammelband Verteidigt die TiereÜberlegungen für eine neue Menschlichkeit formuliert, geht mit der Negation der universellen Gültigkeit der Menschenrechte für Menschen einher. In dem Band, 1986 auf Deutsch erschienen, thematisiert der »führende Philosoph der Tierschutzbewegung« allerdings ebenso: »Wenn es Unrecht ist, einem stark hirngeschädigten Kleinkind das Leben zu nehmen, muss es gleichermaßen Unrecht sein, einem Hund oder einem Schwein auf vergleichbarer Geistesstufe das Leben zu nehmen.«

Singers Speziesismus kann historische und aktuelle Vor- und Fehlurteile über schwerbehinderte Menschen reproduzieren. Denn durch die Darstellung schwerstbehinderter Menschen zieht sich ein Narrativ: das der leidenden, dahinsiechenden Nicht-Person. Erst die kritische Behindertenpädagogik, die Anfang der 1970er Jahre aufkam, nahm behinderte Menschen, egal wie schwach oder stark ihre Behinderung ist, wahr und ernst. Der Mensch ist das einzige Wesen, das durch die Evolution die Dominanz seines biologischen Wesens zugunsten seines sozialen Wesens relativiert hat, schreibt Wolfgang Janzen in Band 1 der Allgemeinen Behindertenpädagogik (1992). Demnach haben die Entfremdung und die Loslösung von der Natur überhaupt erst die Entwicklung des Menschen zum Menschen eröffnet. Wie kein anderes natürliches Lebewesen entwickelte der Mensch die Fähigkeit, sich seine natürliche und soziale Umwelt systematisch und reflektiert anzueignen. Im Rekurs auf Karl Marx wird die Aneignung der Umwelt und Natur als konstitutiv für den Menschen verstanden. Mit der Existenz des einzelnen Mensch beginnt die physische und psychische Aneignung der Welt. Diese Interaktion ist ein komplexer Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur, sie kann beobachtet und bemessen werden, muss aber nicht. Diese Interaktion vollziehen auch Behinderte mit starken Beeinträchtigungen, alleine schon rein körperlich. Eine sensorische Wahrnehmung ist bereits eine interaktive Kommunikation.

Holocaustvergleiche – und PETA

Obwohl Peter Singer in der Tierrechts- und Vegan-Szene durchaus umstritten ist, gilt sein Werk Animal Liberation dort als Klassiker. Die Gründerin von People for the Ethical Treatment of Animals (PETA), Ingrid Newkirk, erklärte selbst, von Singer beeinflusst gewesen zu sein. Nach eigenen Angaben ist PETA die »größte Tierrechtsorganisation« und macht sich außerdem für veganes Leben stark. Die deutsche Sektion bezieht sich gegenwärtig immer noch auf Singer. Auf ihrer Website beruft sie sich unter der Überschrift »Tierrechte: Warum sollten Tiere Rechte haben?« ausdrücklich auf Animal Liberation.

PETA hat mit ihren Aktionen und Kampagnen sowohl die Rechtslage für Tiere als auch den Umgang mit ihnen nachhaltig positiv beeinflusst. Die Kampagne »Der Holocaust auf dem Teller« löste 2004 allerdings Kritik und Rechtsstreite aus. Sie stellte Fotos aus Konzentrations- und Vernichtungslagern neben solche aus der Massentierhaltung. So wurde etwa ein aufs Skelett abgemagerter Mann mit einer ebenfalls aufs Skelett abgemagerten Kuh gezeigt, die Aufschrift lautete: »Zwischen 1938 und 1945 starben 12 Millionen Menschen im Holocaust. Genauso viele Tiere werden für den menschlichen Verzehr jede Stunde in Europa getötet.« 12 Millionen? Es wäre interessant zu erfahren, auf welche Quellen die Kampagne diese Zahl stützt. Seit Langem lautet der wissenschaftliche Konsens, dass dem Holocaust der Deutschen sechs Millionen Menschen zum Opfer fielen.

Harald Ullmann, zweiter Vorsitzender von PETA, rechtfertigte die Kampagne: »Was heute stattfindet, ist ein tierischer Holocaust. Und weil wir keine Hierarchie unter Opfern akzeptieren, wollen wir mit dieser Parallele zum Holocaust aufrütteln und provozieren.« Und in einer Pressemitteilung führte er aus: »Wer die Kampagne menschenverachtend empfinde offenbare, dass er das Leiden der Tiere missachtet«, referiert PETA die Erklärung auf der eigenen Homepage. »Nur auf der Grundlage einer solchen Verachtung kann der Vergleich menschlichen mit tierischem Elend als ehrenrührig empfunden werden. PETA erkenne an, dass alle Formen der Unterdrückung, ob Rassismus oder Speziesismus, dieselben verdorbenen Wurzeln haben und daher gleichermaßen Gegenwehr erfahren sollte.« Dieser Satz könnte von Peter Singer inspiriert sein.

Das Landgericht Stuttgart verurteilte Ullmann als Verantwortlichen für die Kampagne zu einer Zahlung von 9600 Euro wegen Volksverhetzung. Ullmann ging in Berufung. Im Juli 2010 wurde das Verfahren gegen die Zahlung von 10 000 Euro eingestellt. Der Zentralrat der Juden, der Ullmann wegen Volksverhetzung angezeigt hatte, kritisierte, dass PETA nach wie vor den Holocaust mit der Massentierhaltung gleichsetze. Der damalige Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Stephan Kramer, sagte, »dass PETA weiterhin keine Skrupel hat, das Leiden der Opfer des Nationalsozialismus für seine Zwecke zu instrumentalisieren«. Tatsächlich sollte PETA gegen das von verschiedenen deutschen Gerichten verhängte Verbot der Kampagne bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen. Er bestätigte das Verbot im November 2020, wogegen die Organisation wiederum Rechtsmittel eingelegt hat.

Das Leiden der Opfer des Nationalsozialismus zu instrumentalisieren, ist in der Tierrechts- und Vegan-Szene gängige Praxis. »Auschwitz fängt dort an, wo einer im Schlachthof steht und sagt, es sind ja nur Tiere – Theodor W. Adorno« ist auf Plakaten und Stickern zu lesen, auch bei PETA. Eine Quelle für das Zitat wird nicht angegeben, lässt sich auch nicht finden. Es könnte sich um die Paraphrasierung einer Stelle aus Minima Moralia (1951) handeln. Darauf hat der Blog Zitatforschung von Gerald Krieghofer 2018 hingewiesen. Allerdings wird Adorno dadurch verfälscht wiedergegeben. Einen Schlachthof erwähnt er gar nicht, er erklärt auch nicht das Tier zum Menschen, sondern seine These ist vielmehr, der Mensch werde zum Tier gemacht, um ihn abschlachten oder vergasen zu können. Mira Landwehr weist in diesem Kontext darauf hin, dass Zyklon B »ein Schädlingsbekämpfungsmittel« gewesen sei.

Anstrengende Menschenrechtsfragen – Anonymous for the Voiceless

Anonymous für the Voiceless (AV), eine jüngere Tierrechtsgruppe, bedient sich ebenfalls des historischen Vergleichs. Paul Bashir und Asal Alamdari haben das internationale Netzwerk 2016 gegründet. Sehr anonym sind der Gründer und die Gründerin allerdings nicht geblieben. In einem Interview für einen YouTube-Kanal (»Weighing-In on Vegan In-Fighting with Ask Yourself«) führte Bashir 2018 aus, dass der »Tier-Holocaust« aufgrund der Opferzahlen ein größeres Verbrechen sei als die Vernichtung »der Juden«. Er rechtfertigte diese Aussage damit, dass auch Überlebende des Holocaust mit solchen Vergleichen argumentierten. Mira Landwehr weist zudem auf einen Post Bashirs bei Facebook 2017 hin, in dem es hieß: »Why test on animals when we have prisons full of pedophiles?« Den Post musste er nach scharfer Kritik löschen, wiederholte Landwehr zufolge bei anderer Gelegenheit jedoch seinen Wunsch, »Mörderinnen, Vergewaltiger und Pädo-phile als Versuchskaninchen zu missbrauchen«. Sie erinnert daran, dass alle Tierrechtsaktivisten wissen, dass Tiere nach den Versuchen getötet werden.

Auf der Homepage von AV nennt er Gary Yourofsky als eines seiner großen Vorbilder, laut Landwehr einer der »Päpste der veganen Tierrechtsbewegung«. Dessen Radikalität belegt das »Vegan feminist network« mit zwei Zitaten, nicht ohne vorher eine Trigger-Warnung zu geben. »Jede Frau, die sich in Pelz hüllt, sollte eine so grausame Vergewaltigung ertragen, dass sie fürs Leben gezeichnet ist«, zitiert Corey Lee Wrenn ihn auf der Website. Landwehr hebt hervor, dass Bashir betone, die »Werte« von Yourofsky »für sich übernommen zu haben und er fände es frustrierend, dass Menschenrechtsfragen in der Tierrechtsarbeit« berücksichtigt würden.

Die einzelnen AV-Gruppen, Chapter genannt, sind äußerst heterogen und haben ein fragiles Zusammengehörigkeitsgefühl. Nicht alle AV-Anhänger werden alle Aussagen des Gründers und der Gründerin teilen oder rechtfertigen. Die bekannte Aktionsform des Netzwerks ist der »Cube of thruth«. Dabei stellt sich ein Teil der Aktivisten mit Guy-Fawkes-Masken in Würfelformation an zentralen Plätzen auf und hält Tablets oder Notebooks vor sich, auf denen Videos von Schlachthöfen oder Pelzfarmen laufen. Ein anderer Teil hält Schilder mit Aufschriften wie »Schau warum wir hier sind« oder »Wahrheit« hoch. Ein weiterer Teil spricht Passanten an, wenn sie stehen bleiben.

Die Aktivisten verstehen sich als »fam(ily)« oder »vamily«. Bei einzelnen AV-Aktionen sind aber auch Personen dabei, die rechtsextreme Positionen, sexistische Ressentiments oder rassistische Argumentationen formulieren, ist Landwehr aufgefallen. Bei Facebook hat ein AV-Anhänger auf eine Studie über die vermeintliche Korrelation von Intelligenzquotienten und Hautfarbe hingewiesen und sich über Transgender lustig gemacht. Ein anderer AV-Anhänger äußerte Verständnis für »›besorgte Bürgen‹«, denn tatsächlich fehle eine Obergrenze für die Aufnahme für Geflüchtete. Die angebliche Kritik an diesen Bürgern, sie seien per se rechts, treffe nicht zu, sie seien keine Menschenhasser und offene Tierrechtsak-tivsten. Und er gibt die Devise aus: »›Äußerungen menschenverachtender Aussagen ist strengstens untersagt«, zitiert Landwehr und folgert: »Bei AV muss man seinen Mitstreiterinnen also verbieten, menschenverachtendes Gedankengut offen zu artikulieren.«

Der Mensch als Schädling – Sea Shepherd

Menschenverachtendes Gedankengut ist in der Tierrechts- und Vegan-Szene öfters zu finden. Der Mensch erscheint hier nahezu ausschließlich als Mörder von Tieren und die Menschheit als Zerstörer der Natur – was Mensch und Menschheit natürlich auch sind. Doch das allein macht sie nicht aus. Nichtsdestoweniger macht Paul Watson, der Gründer der Sea Shepherd Conservation Society, kurz Sea Shepherd, keinen Hehl aus seiner grundsätzlichen Haltung: Mal sagt er über die Menschheit, sie sei für die Biosphäre wie ein Virus, der bekämpft werden müsse wie Aids, mal, sie sei wie ein Krebsgeschwür und müsse reduziert werden.

Schon durch diese Metapher wird der Mythos der Überbevölkerung gepflegt, statt in der Realität die Verteilungs- und Versorgungskonflikte aufzuzeigen. Konsequenterweise fordert Watson, dass nur solche Menschen Kinder bekommen sollten, die sich der Verantwortung für den Planeten bewusst sind und Elternschaft als Beruf und Berufung verstünden. »Ich bin ein Misanthrop. Total. Und stolz darauf«, sagte er in Natur 7/2012. »Wir Menschen sollten uns eingestehen, dass wir bloß arrogante, nackte Affen mit Allmachtsfantasien sind.«

Watson war früher bei Greenpeace. 1977 trennte sich die Umweltschutzorganisation von ihm, nachdem er bei einer Protestaktion auf dem Eis vor Kanadas Küste die erbeuteten Felle und den Knüppel eines Robbenjägers ins Wasser geworfen hatte. Diese Militanz wollte Greenpeace nicht, seitdem ist die Organisation für Watson zu moderat und zu bürokratisch. In dem Interview, das 2021 auch auf natur.de zu finden ist, erklärt er: »Sea Shepherd steht für aggressive Nicht-Gewalt: Wir verletzen niemanden, haben aber kein Problem damit, Instrumente zu zerstören, die zum Töten verwendet werden. Wir sind sogar so gewaltlos, dass auf unseren Schiffen vegan gegessen wird.«

Angesprochen auf seine Forderung, man müsse die Menschheit um die Hälfte reduzieren, erwidert er: »Es gibt drei Gesetze in der Ökologie: Diversität, Wechselbeziehungen und die Endlichkeit der Ressourcen. Aber die Menschen übertreten die Gesetze. Wir reduzieren die Artenvielfalt und bringen die Wechselbeziehungen durcheinander. Die Leute sagen: Oh Gott, er will Millionen Menschen töten! Aber das stimmt nicht. Wir müssen einen Weg finden, die Bevölkerung freiwillig zu verkleinern. Wo soll es denn enden, bei 20 Milliarden? Wir werden in unserem Giftmüll ersticken.«

Eine konkrete Antwort auf die Frage, wie er die Zahl der Menschen ohne den Einsatz von Gewalt verringern will, bleibt er schuldig, stattdessen schildert er die zerstörerische Wirkung unserer Spezies auf den Planeten. An die Moral der Menschen zu appellieren, ist seiner Meinung nach jedenfalls sinnlos, da er uns ohnehin nicht für »moralisches Wesen« hält: »Die Geschichte gibt mir recht. Menschen konnten noch nie mit dem Appell an ihre Moral überzeugt werden, das Richtige zu machen.« Aber wie dann?

Wie sehr der Mensch für Sea Shepherd zum Feind werden kann, offenbarte eine Kampagne gegen die Makah. Dabei handelt es sich um Indigenas, die im Reservat Neah Bay im US-Staat Washington leben. Über Jahrtausende waren ihr Hauptnahrungsmittel Grauwale, die sie von Zedernholzkanus aus mit Harpunen jagten. 1885 handelten die Makah mit der US-Regierung einen noch heute gültigen Vertrag aus, der ihnen den Fisch- und Walfang garantiert. Nachdem der kommerzielle Walfang die Grauwale in den 1920er Jahren jedoch drastisch reduziert hatte, gaben die Ma-kah die Waljagd freiwillig auf. Seit 1994 steht der Grauwal nicht mehr auf der Liste der gefährdeten Arten, die Makah beantragten eine Jagderlaubnis. 1998 wurde ihnen für fünf Jahre die Erlaubnis genehmigt, jährlich bis zu fünf Grauwale zu erlegen, insgesamt maximal 20.

Daraufhin drohte Sea Shepherd laut der antifaschistischen Zeitung Lotta: »›Wenn die Makah einen Wal jagen, werden *alle* Indianer leiden.‹« Ab Oktober 1998 belagerte die Organisation mit mehreren Schiffen die Neah Bay und auch das Reservat an Land. Verbale Rüpeleien und physische Angriffe von Sea-Shepherd-Akti-vist:innen folgten. »›Nur weil ihr blöd geboren seid, habt ihr noch lange nicht das Recht, blöd zu bleiben!‹«, sollen sie indigene Personen beschimpft und sie als »›besoffene Indianer‹«, »›faule In-dianer‹« und »›Wilde‹« bezeichnet haben, deren Kulturen lachhaft seien. Mehrfach versuchten Aktivist:innen, die nicht öffentlichen spirituellen Zeremonien zur Vorbereitung der Waljagd zu stören. Auf See griffen sie die Zedernkanus mehrfach an, beschossen sie mit Leuchtraketen. Sie gefährdeten die Insass:innen und verletzten selbst einen Wal. Die US-Küstenwache setzte die Schiffe der Walretter:innen denn auch wegen Verstoßes gegen das Naturschutzgesetz fest. Mit welcher Menschenverachtung Sea Shepherd zu Werke ging, spiegelt eine Parole wider, die Aktivist:innen bei Demonstrationen gebraucht haben sollen: »Save a wahle – Harpoon a Makah«.

Die Aktion ist Jahre her, sie offenbart allerdings eine Grundhaltung, die in diesem Milieu virulent ist: Indigene Völker werden zwar als »edle Wilde« romantisiert, weil sie angeblich im Einklang mit den Tieren und der Natur unentfremdet lebten. Dass Traditionen und Überlebensnotwendigkeiten jedoch das Töten von Tieren bedingen können, wird nicht toleriert. Dahinter steckt die Vorstellung, es habe so etwas wie eine ursprüngliche Harmonie zwischen Mensch und Natur gegeben, die wiederhergestellt werden müsse, und die Lebensweise indigener Völker gebe am ehesten Hinweise darauf, wie sie ausgesehen habe.

Doch »wo die kollektive menschliche Produktivität kaum entfaltet ist, ergibt der Stoffwechsel mit der Natur gerade das Überlebensnotwendige«, schreiben Peter Bierl und Anke Lehmann in dem Artikel »Und ewig rauschen die Wälder«, der 1996 in der Ökolinx erschien. Das einfache Leben schließe Grausamkeiten ein. Die Rückkehr der Wildnis als Gesellschaftsform sei deshalb keine Utopie, sondern eine Horrorvision: »Menschen, die bei Blitz und Donner, schlechter Ernte oder Krankheit die Strafe einer Gottheit fürchten, sind keine allseitig entwickelten, freien Individuen.«

Einen Zustand friedlicher Harmonie zwischen Mensch und Natur hat es nie gegeben. Die Natur tötet, der Mensch muss sie sich aneignen, um zu überleben – was nicht bedeutet, dass er sie zerstören muss. Welche Macht die Natur über die Menschheit besitzt, dürfte die Covid-19-Pandemie in Erinnerung gerufen haben. Die »Natur ist kein bewusstes und erst recht nicht moralisch handelndes Subjekt«, schreibt Landwehr und zitiert Hans Rosling, Mitbegründer der schwedischen Sektion von »Ärzte ohne Grenzen«: »›Die Menschen lebten in der Vergangenheit nie im ökologischen Einklang mit der Natur – sie starben im Einklang mit der Natur.‹«

Solche Einsichten werden bei Watson kaum verfangen. Für ihn bleibt ein imaginierter Urzustand Richtschnur des Handelns. Deshalb will der bekannteste Walretter auch gar nicht alle Tiere retten. Im Gegenteil. Schafe und Rinder möchte er gegen Bisons und Karibus austauschen. Denn Erstere seien Nutztiere, mit Watsons Worten gesagt: »Das sind Weidenmaden und Landläuse. Total destruktiv. Wir müssen die natürlichen Tiere zurückbringen.« Kurz: Es sind Schädlinge wie der moderne Mensch. Dass »shepherd« im Englischen wörtlich für eine Person steht, die Schafe hütet, bedeutet ein Paradoxon, auf das Landwehr hinweist.

Fans von Sea Sepherd scheinen sich an vielem nicht zu stören. Hoodies oder T-Shirts mit dem Logo (Totenkopf, Neptuns Dreizack und Hirtenstab) sind hip – und bringen Geld. Die Sea Shepherd Conservation Society ist eine Stiftung nach US-amerikanischem Recht. Seit Jahren ist bekannt, dass die französische Schauspielerin und Tierschützerin Brigitte Bardot sowohl die Stiftung finanziell unterstützt als auch die rechtsextreme Rassemblement National – einst Front National. Sie warnt vor der »Überfremdung« und der »Islamisierung« Frankreichs. Mittlerweile wurde sie mehrfach wegen »Anstiftung zum Rassenhass« verurteilt. Schon 2004 beklagte die »BB« in ihrem Buch Ein Schrei in der Stille einen »politisch korrekten Stolz, uns zu vermischen, unsere Gene zu verschmelzen«, und kritisiert Einwander:innen, »die unsere Kirchen in menschliche Schweineställe verwandeln«.

2011 benannte Sea Shepherd eines seiner Boote nach ihr. Sea Shepherd Deutschland e.V. distanzierte sich zwar per Pressemitteilung »unmissverständlich« von allen rassistischen und rechtspopulistischen Aktivitäten von Bardot. Das Schiff behielt aber dennoch ihren Namen, »als Tribut an das Engagement von Brigitte Bardot für den Tierschutz« sowie an die von ihr ins Leben gerufene Tierschutzstiftung »Fondation Brigitte Bardot«, die den Kauf des Bootes zum Großteil finanziert hatte.

Watson selbst soll Bardot freundschaftlich verbunden sein. Er fordert seinerseits eine Obergrenze für Geflüchtete, weil diese in den Ankunftsländern mehr Energie verbrauchten als in ihren Herkunftsländern und dies der Umwelt schade, berichtet Landwehr. An dem kulturellen Fortschritt durch Elektrizität sollen nicht alle teilhaben. Dass Menschen eben auch aus ärmsten Lebensumstän-den wegen mangelnder bis fehlender Energieversorgung fliehen, erscheint nur als weitere ökologische Belastung. In der extrem-rechten Ökologie-Bewegung eine zentrale Argumentation.

Landwehr weist in diesem Zusammenhang auf Watsons Nähe zu David Foreman hin, der 1993 das Vorwort für Watsons Buch Earthforce: Earth Warrior’s Guide to Strategy geschrieben hat. Er ist Mitinitiator von Earth First!, einem internationalen Netzwerk radikaler Umweltgruppen. Die Publizistin und ehemalige Grünen-Politikerin Jutta Ditfurth warf der Organisation in Entspannt in die Barbarei (1996) vor, den »vorzeitigen Tod (von anderen Menschen) als etwas Natürliches« zu sehen. Als Beleg zitiert sie Foreman: »›Ja, menschliches Leid durch Trockenheit und Hunger in Äthiopien ist unglücklich‹«, doch das »›schlimmste, was wir in Äthiopien machen können, ist zu helfen, das Beste wäre, laßt die Natur ihr eigenes Gleichgewicht finden, laßt die Leute ster-ben‹«. Denn es seien »›viel zu viele Menschen auf der Welt‹« und »›Malthus hatte recht‹«.

Diese Aussagen sind in zweifacher Hinsicht ignorant: Sie ignorieren einerseits, dass Hunger- und Klimakatastrophen von Menschen mit gemacht werden, und andererseits, dass die Thesen von Thomas Robert Malthus (1766–1834) zwar einflussreich waren, von der Wissenschaft aber seit Langem empirisch widerlegt sind. In An Essay on the Principle of Population (1798) und Principles of Economics (1820) hatte er zu begründen versucht, dass die Bevölkerung viel schneller wachse als die Lebensmitteproduktion. Problematischer als diese Fehleinschätzung sind die Folgerungen, die er daraus zog: Wenn in einer übervölkerten Welt ein Mensch geboren wird, den seine Familie nicht ernähren kann und dessen Arbeitskraft die Gesellschaft nicht benötigt, dann habe er kein Recht, Nahrung zu verlangen. »Die Natur gebietet ihm abzutreten, und sie säumt nicht, selbst diesen Befehl zur Ausführung zu bringen.« Zu Malthus’ Zeit betrug die Weltbevölkerung gerade einmal eine Milliarde Menschen.

Malthus wurde bereits damals scharf kritisiert. Karl Marx rechnete ihm in Theorie über den Mehrwert vor, dass er die Beschleunigung der Produktion als auch das Verhalten der Arbeiterschaft zu wenig berücksichtige. Marx schrieb deutlich: »Grundgemeinheit der Gesinnung charakterisiert den Malthus.« Dennoch gibt es heute einen Neomalthusianismus, dem Teile der Tierrechts- und Vegan-Szene zuzurechnen sind. Dass es nicht gelingt, alle Menschen auf der Welt zu versorgen, wird hier nicht als Verteilungskonflikt im Kapitalismus wahrgenommen, obwohl hinlänglich bekannt ist, dass es eine Überproduktion an Lebensmitteln gibt und große Bestände aus preispolitischen Gründen vernichtet werden.

Ziviler Ungehorsam und Endzeitstimmung – Extinction Rebellion

Sie stören, sie stoppen. Extinction Rebellion (XR) will mit Mitteln des zivilen Ungehorsams die Regierungen zwingen, Maßnahmen zu ergreifen gegen das Massenaussterben von Tieren, Pflanzen und letztlich des Menschen als Folge der Klimakrise. Die Fakten seien alle bekannt, es müsse endlich gehandelt werden. »Hope dies – Action begins« lautet eine Parole der internationalen Bewegung, die Endzeitstimmungen anheizt. 2018 wurde sie von Roger Hallam und Gail Bradbrook im Vereinigten Königreich ins Leben gerufen. Hallam war zuvor Bio-Bauer, Bradbrook kommt aus der Tierrechtsszene. Drei Jahre zuvor hatte Bradbook die Kapitalgesellschaft Compassionate Revolution Limited mitgegründet. Diese finanzierte erst die Kampagne »Rising Up«, und als die nicht so erfolgreich war, gründete sie Extinction Rebellion. Jutta Ditfurth nennt das Netzwerk deshalb ein »Projekt aus der PR-Retorte«.

Bei XR Deutschland löste der zweite Mitgründer Roger Hallam 2019 massive Irritationen und Kritik aus. In Die Zeit vom 20. November hatte er gesagt, dass er die deutsche Haltung zum Holocaust für schädlich halte. »Das Ausmaß dieses Traumas kann lähmen«, warnte er. »Das verhindert, dass man daraus lernt.« Immer wieder kam er in dem Gespräch auf den Holocaust zurück – und relativierte ihn. Es tue den Deutschen nicht gut, dass sie ihn fälschlicherweise für einzigartig hielten, meinte er, denn »Tatsache« sei, »dass in unserer Geschichte Millionen Menschen unter schlimmen Umständen regelmäßig umgebracht worden sind«. Als Beispiel nannte er den Völkermord im Kongo: »Die Belgier kamen im späten 19. Jahrhundert in den Kongo und haben ihn dezimiert.« Genozide, so könne man sagen, seien »ein fast normales Ereignis«. Auch der Holocaust sei für ihn »just another fuckery in human his-tory« – »nur ein weiterer Scheiß in der Menschheitsgeschichte«.

Mal wieder ein Holocaust-Bezug in einer Bewegung, die nichts Geringeres will, als die Welt zu retten. Doch eines war diesmal anders: XR Deutschland distanzierte sich unmissverständlich von der Aussage. »Roger Hallams Relativierung des Holocaust war kein Ausrutscher, sondern eine kalkulierte Provokation. XR Deutschland verurteilt die medienstrategische Absicht Hallams, durch eine Instrumentalisierung des Holocaust Aufmerksamkeit für die Klimakrise zu schaffen, scharf«, erklärte das Presseteam von XR Deutschland am 22. November 2019 und versicherte, »im Vorfeld nicht informiert« worden zu sein. In der Presseerklärung legte es auch die Chronologie der Ereignisse dar. Demnach hatte ihm Hallam am Nachmittag des Tages der Zeit-Veröffentlichung per E-Mail die Strategie hinter seiner Holocaust-Relativierung mitgeteilt. Tino Pfaff aus dem Presseteam sagte nicht nur, »wir sind entsetzt über das Kalkül hinter seinen Aussagen«, sondern Hallam habe ihnen »seine Medienstrategie aufzwingen« wollen. »Wir haben aber nicht mitgespielt.«

Hallam selbst erklärte schon am 21. November auf Facebook: »Es tut mir sehr leid, welche Wörter ich benutzt habe.« »Und ich möchte mich für den Schmerz und die Beleidigung entschuldigen, die sie verursacht haben.« Am selben Tag sagte er allerdings im Interview mit Spiegel online: »Der Klimawandel ist nur das Rohr, durch das Gas in die Gaskammer fließt. Es ist nur der Mechanismus, durch den eine Generation eine andere tötet.«

Womöglich wollte er nicht bloß der Klimakrise zu mehr Publicity verhelfen, sondern auch seinem Buch Common Sense for the 21st Century. Die deutsche Übersetzung sollte unter dem Titel Common Sense. Die gewaltfreie Rebellion gegen die Klimakatastrophe und für das Überleben der Menschheit im Ullstein Verlag erscheinen. Nach Hallams Aussagen veröffentlichte der Verlag die 128 Seiten jedoch nicht mehr. Hallam beginnt sein Buch mit der Warnung: »Wir steuern auf den ökologischen Zusammenbruch zu. Ob das zum Aussterben der menschlichen Spezies führen wird, hängt im Wesentlichen davon ab, ob es uns im nächsten Jahrzehnt gelingen wird, revolutionäre gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen.« Nach einer »konservativen Schätzung« müssten innerhalb von zehn Jahren die Kohlenstoffemissionen um die Hälfte verringert werden, um die globale Katastrophe abzuwenden. Er selbst befürchte, dass die Vorhersagen noch zu positiv sind: »Es geht abwärts.«

An anderer Stelle stützt Hallam seine dystopische Weltsicht auf »aktuelle wissenschaftliche Stellungnahmen«, die prognostizierten, dass bei fünf Grad Erderwärmung nur noch die Ernährung für eine halbe Milliarde Menschen sicher sei. Wenn »diese Berechnung um 90 Prozent vom tatsächlichen Wert abweichen sollte«, seien »in den nächsten vierzig Jahren 6000 Millionen Menschen vom Hungertod bedroht«. Letztlich steht für ihn fest: Den »Worten« müssten endlich »radikale Taten« folgen.

In der Praxis bedeutet das: »massenhafte(r) zivile(r) Ungehorsam«. Die Geschichte habe gezeigt, dass ein Staat, wenn Tausende die Straße blockieren, nach einer oder zwei Wochen zusammenbrechen kann. Das Dilemma der Behörden bestehe darin, dass sie den Protest dulden könnten, »was noch mehr Menschen« ermutige, sich zu beteiligen. Oder sie lösten die Kundgebungen auf, was wiederum zu »stärkeren Gegenaktionen« ermutige. Die Konfrontation scheint Hallam eher zu suchen: »Die Bereitschaft, furchtlos persönliche Opfer zu bringen, löst bei den Beobachtern eine emotionale Reaktion aus. Die Botschaft lautet: ›Dieses Anliegen ist mir so wichtig, dass ich meinen Körper einbringe und Verletzungen in Kauf nehme.‹« Je mehr Repression = Betroffenheit = Solidarität. Und er hofft: »Die Arroganz der Obrigkeit verleitet sie zur Überreaktion, und die Bevölkerung, idealerweise ein bis drei Prozent, wird aufstehen und das Regime stürzen.«

Hallam, der eine Doktorarbeit über zivilen Ungehorsam nicht abschloss, will mit Aktionen Aufmerksamkeit erreichen – politischen Raum erzwingen. In diesem Zusammenhang berichtet er von eine »Aktion« vor 10 Downing Street, dem Amtssitz des britischen Premierministers, die ihm allerdings zu wenig Bilder von Verhaftungen hervorbrachte: »Obwohl wir das ›Blut unserer Kinder‹ verschütteten und damit öffentliches Eigentum beschädigten, nahm die Polizei niemanden fest. Ihre ›politische‹ Lösung bestand darin, uns die mit der Verhaftung verbundene Publicity vorzuenthalten.« Und diese sucht Hallams Anhängerschaft.

Sobald das Ziel einer Revolution erreicht ist, schlägt Hallam eine Nationale Bürgerversammlung aus »Bürgern des Landes« vor, die zufällig ausgewählt werden. »Wir müssen das von einer unflexiblen politischen linken Ideologie vereinnahmte Konzept der Revolution retten und wieder mit der offenen bürgerlichen Tradition des 19. Jahrhunderts verknüpfen.« In dieser Tradition sei die Revolution als »eine Möglichkeit gesehen (worden), der Korruption und dem schamlosen Machtmissbrauch ein Ende zu machen«. Im »bestehenden politischen System« sieht er keine Option mehr: »Das korrupte System wird uns alle umbringen, wenn wir uns nicht erheben.«

Die durchgängige Endzeitrhetorik offenbart auch ein emotional hochaufgeladenes Denken in Böse und Gut. Für Ditfurth ist XR daher eine »esoterische Weltuntergangssekte«. Tatsächlich lassen sich Hallams Aussagen als eine Eschatologie lesen, eine Lehre von den letzten Dingen und vom Aufbruch in eine neue Welt. Das macht seine Bewegung anschlussfähig in verschiedene Richtungen. »Extinction Rebellion vertritt Werte, mit denen sich die spirituelle Szene identifizieren kann«, sagte Hannah Elshorst, die in der Berliner XR-Gruppe seit deren Gründung mitmacht, in der taz vom 7. Oktober 2019. Eine andere Aktivistin, Cleo Mieulet, behauptete hingegen: »Religiosität kommt bei uns nicht vor.« Sie sei Atheistin. Und Forderungen wie »keine CO2-Emissionen bis 2025« und eine Bürgerversammlung, die für die Regierung echte Klimaschutzmaßnahmen erarbeiten soll, seien schließlich weder esoterisch noch spirituell. Eine dritte Aktivistin, die von der taz interviewt wurde, mit Namen Sarya meinte wiederum: »Wenn Spiritualität die Liebe zum Leben und zur Natur ist, dann sind wir eine spirituelle Bewegung.« Sie verwies auf die Idee einer »regenerativen Kultur«, die XR vertritt. Diese baut darauf, dass sich alle, der Mensch selbst, die Gesellschaft und die Natur, Stück für Stück weiterentwickeln und verbessern.

Klingt esoterisch, meint taz-Redakteur Ingo Arzt, sei wohl auch so gemeint. Denn auf der englischen Website der Bewegung heißt es zur Praxis der regenerativen Kultur ausdrücklich: »Das kann Zeremonien und Gebete beinhalten.« Jutta Ditfurth wies im Interview mit der Frankfurter Rundschau am 16. Oktober 2019 darauf hin, dass XR in seinem Berliner Camp zu Veranstaltungen »über die irrationale, antihumane ›Tiefenökologie‹« eingeladen habe. Die aus den USA kommende »Deep Ecology« leugne den Menschen als »soziales Wesen«. Der Mensch sei nicht mehr wert als ein Tier oder eine Pflanze.

Hallams Amalgam von tiefenökologischen Bezügen, emotio-nalisiertem Endzeitsound und einer nicht-linken Revolutionsidee kann rechten Ressentiments in die Hände spielen oder diese selbst produzieren. Hallam scheint in dieser Hinsicht keine Berührungsängste zu haben. In einem früheren Interview sagte er, dass auch jemand, der »ein bisschen sexistisch oder rassistisch denkt«, bei XR mitmachen könne, und in einem weiteren Interview mit Spiegel Online: »Wenn eine Gesellschaft so unmoralisch handelt, wird Demokratie irrelevant.« Vor dem Interview war er von der britischen Polizei festgenommen worden, weil er versucht haben soll, den Flugverkehr am Londoner Flughafen Heathrow mit einer Drohne lahmzulegen.

Extinction Rebellion ist eine heterogene Bewegung. Das betrifft nicht nur die Haltung zur Spiritualität, sondern auch politische Strategien und sogar Grundüberzeugungen. Besonders zwischen der britischen und der deutschen Sektion bestehen häufig grundlegende Differenzen. Während Hallam beispielsweise nichts Geringeres will als die Revolution, geht es Mieulet um eine Bürgerversammlung, die die Regierung beraten soll. Der Sammelband Hope dies – Action begins. Stimmen einer neuen Bewegung, 2019 von Extinction Rebellion Hannover herausgegeben, gibt einen Überblick über die Positionen der deutschen Sektion – und ihrer Diskussionen.

Mit Bezug auf den Philosophen Slavoj Žižek wird der »Mut zur Hoffnungslosigkeit« hervorgehoben und das Programm ihrer drei Forderungen kurz vorgestellt: 1. »Die Regierung muss die Wahrheit sagen, indem sie den klimatischen und ökologischen Notstand ausruft«, 2. »Die Regierung muss jetzt handeln, um das Artensterben zu stoppen und die Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2025 auf NettoNull zu senken« und 3. »Die Regierung muss eine Bürger*innenversammlung für Klima und ökologische Gerechtigkeit einberufen und sich von deren Beschlüssen leiten lassen.«

Der Band greift aber immer wieder Überlegungen und Einstellungen in der Tierrechts- und Umweltschutzszene auf, hinterfragt sie teilweise. Faisal Devji führt aus, dass der Name der Bewegung »zwei Pole – Tier und Mensch« verbinde. Aussterben würden die Tiere, Rebellion könnten Menschen organisieren. Sie betont aber auch, »Menschen und Tiere können zudem nur dann als gleichartig gelten, wenn andere Formen des pflanzlichen und organischen Lebens aus dem Kreis des Schutzwürdigen ausgeschlossen werden. Das ergibt ökologisch aber keinen Sinn, da letztere für die Lebenserhaltung wichtiger sind als erstere.« »Gleichartig« klingt, als werde der Mensch nicht für Flora und Fauna abgewertet.

»Zum ›toxischen System‹, in dem wir leben, gehören nicht nur die Unterdrückungsverhältnisse der Menschen untereinander und nicht nur unser problematisches Verhältnis zur Natur«, schreibt Friederike Schmitz. Entscheidend sei unsere Beziehung zu unseren fühlenden Mitlebewesen, den Tieren. In der Umwelt-und Klimabewegung würden sie leicht vergessen beziehungsweise einfach als Teil der Natur verstanden. »Aber die sogenannten ›Nutztiere‹, die wir milliardenfach ausbeuten und töten, sind kein Teil der Natur – wir haben sie zu unseren Zwecken erschaffen. Und auch die wildlebenden Tiere, die wir ausrotten und deren Lebensräume wir zerstören, sind nicht bloß Teil der Natur, sie sind eigenständige Subjekte und Individuen mit eigenen Interessen und Ansprüchen.« Auch sie spielt Tiere in dieser Passage nicht gegen die Menschen aus.

Tino Pfaff entwirft für seine Bewegung eine Ethik, die soziale, ökologische, wirtschaftliche und demokratische Probleme gleichermaßen berücksichtigt, statt die Verhältnisse der Menschen untereinander zugunsten des Mensch-Natur-Verhältnisses als vernachlässigenswert abzutun: »Das Ziel der XR könnte als eine solidarische Genügsamkeit – genauer gesagt als ein (Zusammen-) Lebenskonzept des solidarischen Verzichts – bezeichnet werden, vor allem mit einem deutlichen Verweis auf den globalen Süden, und zwar aus der Blickrichtung des globalen Nordens und dessen Verantwortlichkeiten für unmenschliche Lebensbedingungen. Darin finden sich sämtliche Faktoren wieder, die von grundlegender Relevanz für eine gesunde und intakte Erde sind.«

Sollen auch jene verzichten, die nichts zum Verzichten haben? »Nein«, antwortet er am Telefon. »Der Vorschlag betrifft vor allem die reichen Industrienationen.« Im Buch reflektiert er auch, dass die Mitglieder der eigenen Bewegung zumeist verhältnismäßig privilegiert sind, und leitet daraus eine Verpflichtung ab: Um jedoch ein Umdenken »in der Breite der Gesellschaft« anzuregen und zu erlangen, »bedarf es des Einsatzes derer, die das Privileg besitzen, protestieren zu können, für jene, denen das aus verschiedensten soziökonomischen Abhängigkeiten und Konstrukten zurzeit nicht möglich ist«. Viele Aussagen in dem Band lesen sich ganz anders als die Äußerungen von Hallam. So nimmt es nicht wunder, dass XR Deutschland im Dezember 2019, nach Hallams Zeit-Interview, auf Distanz zu XR Großbritannien ging. Bei einem Vernetzungstreffen in Heidelberg mit rund 200 Teilnehmer:innen aus den mehr als 70 Ortsgruppen wurde fast so etwas wie ein Neustart beschlossen. »Die Zeiten sind vorbei, dass wir Inhalte aus England einfach übernehmen«, sagt Tino Pfaff. Sie würden auch ihre eigenen Strukturen kritisch hinterfragen und hätten sich gefragt, ob Hallam seine Macht bei der Verwendung des Holocaust-Bezugs missbraucht habe. »Und das hat er auf jeden Fall«, meinte Pfaff. Denn XR sei dezentral organisiert. »Er hat gar nicht das Recht gehabt, für den deutschen Ableger zu sprechen.«

Wegen des Interviews hatten Aktivist:innen in Deutschland die Bewegung verlassen, andere stellten sich hinter Hallam. XR bat den Theologen und Post-Holocaust-Forscher Jürgen Manemann um seine Expertise. Am 28. November 2019 erschien im XR-Blog unter der Überschrift »Extinction Rebellion – Was wir aus Hallam lernen können« ein Artikel, in dem seine Einschätzungen zitiert wurden. Manemann ließ keinen Zweifel aufkommen: Hallams Instrumentalisierung des Holocausts sei antisemitisch. »Roger Hallam hat nicht nur den Holocaust relativiert. Er hat die Relativierung der nationalsozialistischen Judenvernichtung in der Absicht vorgenommen, die eigene Macht zu stärken, Spaltung zu betreiben und anderen zu schaden. Damit hat er die Opfer des Holocaust bewusst verhöhnt und missbraucht. Das ist Antisemitismus.«

Fleischmann und Pfaff kamen zu dem Schluss, die »Gefahr von Hallams Verharmlosungen« liege darin, dass Revisionisten und Rechtsextreme sich dadurch »bestätigt sehen. Solch eine Bestätigung stellt ganz prinzipiell für die jüdische Community eine Bedrohung dar, und umso mehr wieder in der Gegenwart: Neurechte Gruppierungen wachsen in Europa rapide heran, Deutschland spielt dabei eine zentrale Rolle.« Sie halten fest: »Die Inklusion von Weltanschauung muss Grenzen haben – dort wo sie andere verletzen oder gefährden.« Ihre Forderung: »Es ist Zeit für Roger Hallam zu gehen.« Der folgt er bis heute nicht.

Er ist nicht allein dafür verantwortlich, dass die Tierrechtsund Vegan-Szene weiterhin negative Nachrichten produziert. So halten Teile von ihr Nicht-Veganern die Covid-19-Pandemie als selbstverschuldete Folge ihrer Lebensweise vor. Bei Twitter geistern Tweets wie »We are the Virus« herum oder »Nature is healing, we are the virus«. Die BBC berichtete am 25. März 2020, ein Twitter-Account »XREastMidlands« habe Tweets mit dem Foto eines Aufklebers mit dem Slogan »Corona is the cure – Humans are the Disease« sowie dem Namen und dem Logo von XR, einem Kreis mit einer Sanduhr, abgesetzt. XR erklärte gegenüber der BBC: »Dieses Konto wird nicht von Extinction Rebellion UK oder Extinction Rebellion East Midlands verwaltet.«

Das Argument hinter solchen Slogans lautet, dass das Corona-virus der Natur die Chance gebe, sich von den Menschenmassen zu regenerieren. Unter dem Hashtag #Leavenoonebehind gehen Jing Sun, Rebecca Fleischmann, Clara Thompson, Judith Pape für XR Deutschland auf solche Äußerungen ein und benennen sie als »ökofaschistisch, menschenfeindlich und faktisch falsch«. Ihre eigene Position formulieren sie so: »Die Behauptung, eine globale Pandemie und der Verlust von Tausenden von Menschenleben sei eine gute Sache für das Klima, ist mindestens genauso gefährlich wie die Krankheit selbst.« Falsche Behauptungen müssten widerlegt werden. »Denn nicht ›der Mensch‹ ist das Problem, sondern bestimmte Arten des Zusammenlebens, Wirtschaftens und schlechte politische Entscheidungen.« Jedes Statement, dass der »Mensch« das Problem sei, leiste Ideologien Vorschub, »die die Verantwortung für die Klimakrise auf vermeintliche Überbevölkerung, Minderheiten oder den globalen Süden abwälzen und dabei Gewalt und menschliches Leid in Kauf nehmen, um Probleme egal welcher Art zu lösen«. Die Narrative »›die Erde reinige sich‹« zelebrieren »den Tod überwiegend strukturell benachteiligter Menschen und implizieren, die Erde könne so ›gerettet‹ werden«. Das Überbevölkerungsnarrativ diene zudem dazu, »ein irrationales Feindbild zu schaffen und die Türen für repressive und rassistische Anti-Immigrationspolitik zu öffnen«.

Die Apokalyptik der XR könnte der eigenen Argumentation zuwiderlaufen. Ein Oktopus als Motiv bei einer Aktion nicht minder. Der Krake, der die Welt umschlingt, kann antisemitische Ressentiments bedienen. Das Motiv des Kraken, der die Welt beherrscht, findet sich in der Bildsprache des Nationalsozialismus. Die Diskussionen in und über die heterogene Tier- und Vegan-Bewegung zeigen, dass der Kampf gegen das Artensterben, um die Rettung der Erde und die Befreiung der Tiere nicht damit einhergehen muss, dass auch der Mensch als »ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen« (Karl Marx) befreit wird. Der immanente Antianthropozentrismus, Anti-Speziesismus und Biozentrismus der Bewegung kann emanzipatorische Konzepte relativieren, gar torpedieren. Ihr Unbehagen gegen die Moderne, das Antihumanismus einschließt, kann kompatibel für antidemokratische Positionen bis hin zu faschistischen Ideologien sein.

In toxischen Verhältnissen, wo es »kein richtiges Leben im falschen« (Adorno) geben kann, beschert das Engagement für Tiere mitunter einen ähnlichen individuellen Gewinn wie das Erzählen von Verschwörungsnarrativen: Ich bin gut, ich habe es erkannt, ich kläre auf, ich opfere mich. Das Falsche wird erträglich. Die Selbstermächtigung im Protest ist auch eine Selbsterleichterung.

Doch keine Philosophie, keine Position, die den Menschen nur als ein natürliches Subjekt unter anderen nicht-menschlichen Subjekten und die Natur als ordnungspolitische Kategorie propagiert, hat in der Historie demokratische und emanzipatorische Perspektiven eröffnet. Im Gegenteil: Erst als der Geist vom Himmel und aus den Wäldern geholt wurde, war der geistlose Zustand des Menschen vorbei. Seitdem können die »versteinerten Verhältnisse« »zum Tanzen« gezwungen werden, schreibt Karl Marx in Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1844). Es muss kein Widerspruch sein, sowohl Mensch als auch Tier befreien zu wollen. Wenn Norberto Bobbio in Rechts und Links – Gründe und Bedeutungen einer politischen Unterscheidung fragt, ob die »Ausweitung des Gleichheitsprinzips (…) weit über die Grenzen des Menschengeschlechts hinaus« gehen könnte, so lautet die Antwort ja. Die Basis dafür kann jedoch nur eine aufgeklärte Aufklärung sein.