Einleitung

Eine ganze Bibliothek

Ich las ein Büchlein des Grammatikers Apollodoros; sein Titel war „Bibliothek“. Es enthielt das Allerälteste von den Griechen, das die Zeit ihnen über die Götter und Helden zu glauben gegeben hat, und über die Namen von Flüssen, Ländern, Völkern und Städten, und von da an alles andere, was bis ins Altertum hinaufreicht. Das Werk geht weiter bis zum Troianischen Krieg und behandelt die Schlachten, die bestimmte Männer miteinander ausgefochten haben, ihre Taten und manche Irrfahrten der Rückkehrer von Troia, insbesondere die des Odysseus, mit dem für ihn die Geschichte der alten Zeit endet. Im allgemeinen ist das Buch eine Synopse, der es durchaus nicht an Nutzen für die mangelt, die der Erinnerung an die alten Geschichten Wert beimessen.

So schrieb im 9. Jahrhundert der gelehrte Patriarch Photios in seiner „Bibliothek“ (186) über das Werk, das im vorliegenden Band in einer modernen Übersetzung erschlossen wird: die „Bibliothek“ des antiken Mythographen Apollodoros. Der Titel „Bibliothek“ deutet bei Photios wie bei Apollodoros an, dass das jeweilige Werk eine ganze Bücherei antiker Texte ersetzen und zu diesem Zweck Kurzfassungen der in ihr präsentierten Texte bieten will.

Götter und Helden

Viele Mythen von Göttern und Helden konnte man nämlich weit ausführlicher in den Epen Homers – der „Ilias“ und der „Odysse“ – sowie im „Kyklos“, dem „Kreis“ von Epen, die von den Ereignissen rings um die Epen sprechen. Weitere wichtige Zeugnisse für die griechischen Mythen fand und findet man bei Hesiod, in den Elegien und lyrischen Versen der archaischen Zeit und in den Tragödien der klassischen Epoche.

Eine Zusammenstellung der wichtigsten griechischen Mythen jedoch bietet in der erhaltenen antiken griechischen Literatur allein die „Bibliothek“ des Apollodoros. Tatsächlich erfasst sie nahezu alle Geschichten der griechischen Götter und Helden, von der Theogonie (Entstehung der Götter) über die wichtigsten Sagenkreise der griechischen Welt bis zu den Taten der Helden vor, in und nach dem Troianischen Krieg.

Um den so umfangreichen Stoff überhaupt präsentieren zu können, bedient sich der Autor dabei zum einen der möglichst weitgehenden Verknappung der Angaben, zum anderen der klaren genealogischen Zuordnung aller mythischen Figuren.

So, wie wir bei Photios Apollodoros’ „Bibliothek“ in nur wenigen Sätzen kennen lernen, so bietet Apollodoros selbst etwa den Inhalt von Homers großem, 24 Bücher umfassenden Epos „Ilias“ in gerade einmal einen Abschnitt (E4) und die Geschichte von Antigone, der Sophokles eine ganze Tragödie gewidmet hat, sogar in nur zwei Sätzen (3,78). Noch knapper sind vier Kataloge, die nur die Namen und Abstammungen der Heroen aufzählen, welche sich an der Jagd auf den Kalydonischen Eber (1,67-69) oder am Argonautenzug (1,111-113) beteiligten, Freier der schönen Helena waren (3,129-131) oder am Krieg um Troia teilnahmen (E3,11-14). Fünf weitere Kataloge bieten gar nur bloße Namen: die der Nereïden (1,11-13), die der je fünfzig Töchter des Danaos und Söhne des Aigyptos (samt deren Müttern: 2,16-18), die der fünfzig Töchter des Thespios (samt deren von Herakles gezeugten Söhnen: 2,161-164), die der fünfzig Söhne des Lykaon (3,96-97) und die der mehr als hundert Freier der Penelope (E7,27-30). Allein durch eine solche Verknappung der Angaben konnte es Apollodoros gelingen, die wichtigsten griechischen Mythen in einem Einzelwerk zusammen vorzustellen.

Und um die Präsentation der so vielfältigen Mythen übersichtlich zu gestalten, ordnet Apollodoros alle mythischen Figuren nach der Theogonie und vor dem Troianischen Krieg einer von nur sechs Großfamilien zu: den Nachfahren des Deukalion, denen des Inachos mit den jeweils von ihm abstammenden Familien des Belos, des Agenor und des Pelasgos, denen des Atlas, denen des Asopos, denen des Erichthonios und denen des Pelops.

Diese sechs Familien waren zudem miteinander verwandt: Deukalion war – über Prometheus und Iapetos – ein Urenkel von Uranos und Ge (Gaia), Atlas als Sohn des Iapetos ein Enkel, und auch Inachos und Asopos waren – über Okeanos – Enkel desselben Paars; mit Atlas’ Enkelin Hippodameia gründete Pelops seine Familie, und Erichthonios schließlich war – über Hephaistos, Zeus und Kronos – ein Ururenkel von Uranos und Ge.

Diese Familien stehen im übrigen zugleich für die großen Regionen der griechischen Welt, in denen die Mythen spielen: Inachos’ Nachfahren Belos für Argos, Agenor für Kreta und Theben und Pelasgos für Arkadien, sodann Atlas für Sparta und Troia, Asopos für Aigina, Erichthonios für Athen und Pelops für die Westpeloponnes – und umfassen damit, was den Raum der Darstellung angeht, alle wichtigen Sagenkreise der griechischen Antike.

Was die dargestellte Zeit betrifft, so bleibt Apollodoros fast ganz in der Epoche zwischen der Theogonie und dem Troianischen Krieg samt seiner Folgen. Nur einmal (E6,22) wird ein späteres historisches Ereignis erwähnt, der 346 v. Chr. endende Phokische Krieg. Die Welt der römischen Mythologie wird hingegen nicht berücksichtigt, Rom und die Römer sind überhaupt nicht erwähnt, und auch die Verbindungen von griechischem und römischem Mythos, etwa die Gründung Roms durch den – hier (E5,21) nur in anderem Zusammenhang genannten – troianischen Helden Aineias (Aeneas), finden keine Beachtung.

Quellen und Datierung

Welche Quellen nutzte Apollodoros? Die von ihm am häufigsten namentlich erwähnten Autoren sind zwei Autoren des 7. Jahrhunderts v. Chr., Homer und Hesiod, mit denen die griechische Literatur und damit auch Mythographie beginnt, sowie zwei Autoren des 5. Jahrhunderts v. Chr., deren mythographische Werke uns allerdings nicht direkt erhalten sind: Pherekydes von Athen und Akusilaos von Argos (s. jeweils das Register der Autoren).

Eine bestimmte Quellenangabe des Autors hat in der Altertumswissenschaft besondere Aufmerksamkeit gefunden, da sie für die Identität des Autors der „Bibliothek“ von Bedeutung ist: die Bezugnahme auf den Historiker Kastor von Rhodos (2,5). Jener nämlich führte, wie wir aus anderen Zeugnissen wissen, seine Chronik bis ins Jahr 61/60 v. Chr. Folglich kann der Autor der „Bibliothek“ nicht – wie offenbar Photios (in der eingangs zitierten Passage) annahm – der Grammatiker und Mythograph Apollodoros von Athen aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. gewesen sein, der u.a. ein Werk „peri theon“ („Über die Götter“) verfasste; vielmehr ist der Autor ein wohl ein paar Jahrhunderte später lebender Gelehrter namens Apollodoros (oder auch, wie manche vermutet haben, ein Schriftsteller, der seine „Bibliothek“ unter dem Namen des großen Vorgängers herausbrachte).

Direkte und indirekte Überlieferung

Apollodoros’ „Bibliothek“ wurde in Antike und Mittelalter immer wieder abgeschrieben (und dabei mit Anmerkungen versehen, von denen einige beim wiederholten Kopieren versehentlich in den Text gerieten und erst in den modernen Editionen wieder getilgt werden), doch ist keine Abschrift der gesamten „Bibliothek“ erhalten. Es fehlen uns deshalb ein paar kleinere Textteile, vor allem aber fehlt uns der vollständige Text für die Mythen um Theseus, Pelops und den Troianischen Krieg mitsamt den Irrfahrten der Heimkehrer.

So sind wir bei der Rekonstruktion des griechischen Textes der „Bibliothek“ auf unterschiedliche Zeugnisse angewiesen. Deren bestes bietet eine Handschrift aus dem 14. Jahrhundert, der heute in der Nationalbibliothek zu Paris bewahrte Codex Parisinus graecus 2722, der letztlich die direkte oder indirekte Vorlage aller erhaltenen späteren Abschriften war. Von ihm sind aber nur etwa zwei Drittel bewahrt (für 1,12-43.80-115.129-147; 2,1-20.38-76.96-132.152-173; 3,11-46.67-90.112-183), so dass wir die fehlenden Partien des griechischen Textes aus zwei Codices rekonstruieren müssen, die aus dem Parisinus zu einer Zeit abgeschrieben wurden, als dieser noch vollständig erhalten war: aus dem Codex Oxoniensis Laudianus graecus 55 (15. Jahrhundert), der seinerseits häufiger kopiert wurde, und aus dem Codex Monacensis graecus 182, einer guten lateinischen Übersetzung von Auszügen mit griechischen Zitaten, die sich der Humanist Angelus Politianus (Angelo Ambrogini aus Montepulciano) in demselben Jahrhundert anfertigte.

Ebenfalls aus einem noch vollständigen Exemplar der „Bibliothek“ sind unabhängig voneinander zwei Auszüge (Epitomai) erstellt worden: der im Sabbas-Kloster in Jerusalem bewahrte Codex Sabbaïticus 366 aus dem 13. Jahrhundert und der ein Jahrhundert jüngere, in der Vatikanischen Bibliothek bewahrte Codex Vaticanus graecus 950, der wohl eine Arbeit des byzantinischen Gelehrten Johannes Tzetzes (12. Jahrhundert) wiedergibt. Dieser hat die „Bibliothek“ außerdem in seinem Großgedicht „Chiliades“ (E2,15) sowie seinem Kommentar zu Lykophrons „Alexandra“ (E6,15a-c) verwendet, wie dies auch für den anonymen Autor von Zusätzen zu einer (unter dem Namen des Zenobios überlieferten) Sammlung antiker Sprichwörter gilt (E1,13.21). Von Wert sind die Epitomai und die weiteren Textzeugnisse für die Rekonstruktion des Textes der ganzen „Bibliothek“, insbesondere aber für die Teile, im Codex Parisinus und seinen Abschriften fehlen. In der vorliegenden Übersetzung ist für diese Teile von Apollodoros’ Werk die Textgrundlage stets erkennbar: Im Codex Vaticanus überlieferte Textteile stehen in Grundschrift, kursiv hingegen Teile, die ausschließlich – oder umfassender als dort – im Codex Sabbaïticus überliefert sind, außerdem in spitzen Klammern und unter Angabe des Belegs die nur bei anderen Autoren bewahrten Textstücke.

Zur Übersetzung

Die erste Druckausgabe von Apollodoros’ „Bibliothek“ erschien 1555, die beiden Epitomai wurden hingegen erst 1885 bzw. 1887 publiziert und die Bedeutung des Oxoniensis und des Monacensis sogar nicht vor den 1930er Jahren entdeckt. An die Stelle der weit verbreiteten Ausgabe, die Richard Wagner 1894 (2. Auflage 1926) publiziert hat, ist 2010 endlich die seit Jahrzehnten erwartete kritische Neuedition von Manolis Papathomopoulos getreten; sie liegt der vorliegenden Übersetzung zugrunde.

Zusätze, die von den Kopisten irrig in den überlieferten Text aufgenommen wurden, sind in der Übersetzung in eckige Klammern gesetzt und so als „zu tilgen“ markiert; umgekehrt steht, was im Laufe der Zeit verloren ging, sich aber ergänzen lässt, in spitzen Klammern. Die Übersetzung, in die moderne Überschriften und Zwischentitel eingefügt sind, gibt der besseren Lesbarkeit halber das Präsens des Griechischen als Präteritum wieder. Namen werden, abgesehen von verbreiteten wie „Athen“, „Ithaka“, „Korinth“ oder „Olymp“ in Umschrift geboten; wo der Autor auf die Etymologie eines Namens Bezug nimmt, um diesen zu erklären, kann dies in der Übersetzung nicht nachgeahmt werden, ist aber knapp in runden Klammern erläutert, die auch weitere kurze Erläuterungen und Verweise enthalten.

Apollodoros’ „Bibliothek“ bot – wie fast alle antiken Werke – ursprünglich einen nur durch seinen Inhalt gegliederten Lesetext. Um aber heute Verweise auf einzelne Aussagen des Apollodoros zu erleichtern, hat man eine Einteilung in Bücher des Textes bzw. der Epitomai und in Paragraphen eingeführt, die auch unsere Ausgabe bietet. Diese Einteilung wird freilich der aus dem Text ersichtlichen Gliederung nicht immer gerecht; zur besseren Orientierung finden sich daher in dieser Übersetzung moderne Zwischenüberschriften.

Die „Bibliothek“ verzeichnet eine Vielzahl von Namen, die in den drei Registern – zu den von Apollodoros angeführten Autoren, zu Orten sowie zu mythischen Gestalten – erschlossen werden.

Alles, was die Welt enthält

Übersetzt wird hier der Text, den Manolis Papathomopoulos in seiner maßgeblichen Neuedition von 2010 präsentiert hat. Die vorliegende Übersetzung geht insofern (und in der Berücksichtigung von Hinweisen in den Besprechungen) über die griechisch-deutsche Ausgabe in der „Edition Antike“ von 2004 weit hinaus. Wir hoffen, dass sie so auf einer dem aktuellen Stand der Forschung entsprechenden Textgrundlage ein Werk neu erschließt, dem seit fast zweitausend Jahren die wichtigsten griechischen Mythen von Göttern und Helden zu entnehmen waren.

Sicher gibt es weniger komprimierte und mehr erzählende Darstellungen der griechischen Mythologie, allen voran die berühmte Sammlung der „Schönsten Sagen des klassischen Altertums“ (1838-1840) von Gustav Schwab. Doch beruhen auch diese neuzeitlichen Zusammenfassungen der griechischen Mythologie zu großen Teilen auf dem antiken Werk des Apollodoros. Wie hoch dieses zu schätzen ist, machte bereits Photios in einem von ihm (im Anschluss an das eingangs Zitierte) wiedergegebenen anonymen Gedicht deutlich, in dem Apollodoros’ Werk zu uns spricht und sich dabei von den oben genannten umfassenderen älteren Zeugnissen für die griechischen Mythen absetzt. Photios also schreibt:

Das kurze Werk bietet am Schluss ein nicht zu tadelndes Epigramm:

„Der Zeiten Erfahrung aus mir schöpfend,

erkenne die altehrwürdigen Mythen der Bildung;

weder auf die Seiten Homers blicke noch auf Elegien,

nicht auf die tragische Muse und nicht auf den lyrischen Vers,

nicht suche mehr den klangvollen Vers des „Kyklos“

– nein, auf mich blickend,

wirst du in mir alles finden, was die Welt enthält.“