Der funkelnde Baseballschläger, dieser Swarovski-Kolben, glitzerte wie eine Diskokugel und sprühte Lichtpfeile in alle Richtungen von Fishers Videozimmer. Er fand ihn dort, wo sein Bruder ihn am Sonntagmorgen abgestellt hatte, an den Futon gelehnt, gleich neben einer halb vollen Tasse Kaffee, die er nicht ausgetrunken hatte. Joel starrte den Kaffee an und dachte an Fish und den seltsamen schwarzen Höllenhund. Dieser Hund. Den habe ich auch am Säuresee gesehen, kurz nachdem … nachdem Fisher …
Zum millionsten Mal feuerte die Pistole in Owen Euchiss’ Hand Fisher ins Gesicht, und Joel schaute zu, wie sein Bruder träge in das Wasser kippte, das die Farbe von Galle hatte. Joel hatte die Augen geschlossen, doch er zuckte nicht, als ihm schwache Säure auf Gesicht und Brust spritzte.
Hier hingen Filmplakate an den Wänden. Thematisch gesammelt. Schwarze Heroinen. Pam Grier in Foxy Brown. Rosario Dawson als »Claire« in Daredevil. Letitia Wright als »Shuri« in Black Panther. Grace Jones als »Zula« in Conan der Zerstörer. Und zu guter Letzt Gloria Lynne Henry als »Rocky« in dem genialen Horrorfilm Das Böse III. Joel sah sie sich an und versuchte die nächste Panikattacke zu unterdrücken, die Bilder der letzten Augenblicke seines Bruders, die er nicht aus dem Kopf bekam. Beide hatten diese Frauen auf unterschiedliche Weise geliebt – Fisher hatte sich in sie verknallt, während Joel sie vergötterte, besonders Zula und Rocky. Grace Jones’ wilde, unerschrockene Schönheit, und Gloria, die mit ihrem Nunchaku die Sphären des Tall Man kaltstellt, hatten Joel als Zehnjährigen begeistert. Und die Fade-Schnitte der Haare waren das Sahnehäubchen gewesen.
»Mister.«
Er fuhr hoch. Im Dunkeln konnte er Waynes Schatten ausmachen. »Haben Sie den Schlüssel für die Hintertür?«, fragte der Junge.
Das Videozimmer, Fishers kleines Heimkino, das eigentlich nur aus einem Futon in einem winzigen Raum mit einem dreißig Jahre alten Fernseher und einem Videorekorder bestand, hatte drei Türen: eine zum Laden, eine zur Treppe von Fishers Apartment im ersten Stock, und eine am Ende eines kurzen Flurs, der sich dem Zimmer anschloss. Sie führte in den Hof.
»Keine Ahnung.« Er zog den Ladenschlüssel aus der Tasche.
Sie standen im Dunkeln und sahen sich an.
»Tut mir leid wegen Ihrem Bruder, Mister Joe-elle.« Auf Waynes Brillenglas spiegelte sich das Licht aus dem Laden als gewölbtes Viereck. Das Auge hinter dem fehlenden Glas strahlte Herzlichkeit und Sorge aus. »Er war echt cool. Total nett.«
Joel seufzte und sah zu den Plakaten. Rocky posierte mit ihren Nunchakos und den anderen Schauspielern von Das Böse III, die kunstvoll um sie arrangiert waren.
»Er hat mir was Cooles beigebracht.«
Joel lächelte matt. »Oh ja? Was hat er dir denn beigebracht, kleiner Mann?«
»Anpassen und überwinden.«
»Ach, er hat dir Hulks Monolog erzählt«, sagte Joel. »Den habe ich auch schon ein paar Mal gehört. Der große grüne Bursche hatte es ihm echt angetan, was?«
»Ja.«
Joel entschied, lieber etwas zu unternehmen, anstatt weiterzugrübeln, und führte Wayne durch den kleinen Flur zum Notausgang. Je mehr er unternahm, desto weniger konnte er grübeln, und je weniger er grübelte, desto weniger sah er, wie das Hirn auf die Kinoleinwand in seinem Kopf spritzte.
Er tastete die Tür ab und fand einen Riegel, den er öffnete, und schob die Tür auf. Silbriges Tageslicht flutete herein. Dahinter lag ein schmaler Durchgang. Neben einer Stahltür in der Ecke, die zum Heizungsraum führte, waren Kisten gestapelt, und an der Wand gegenüber standen zwei Recycling-Tonnen. Ein Maschendrahtzaun begrenzte den Hof an beiden Seiten. Joel spähte hinüber zum Regenkanal, als aus dem Nichts eine dunkle Gestalt auftauchte, gegen den Zaun prallte und ihn zu Tode erschreckte. Er zuckte zusammen und hob den Glitzerschläger.
Dem Mann rann das Blut von den Schläfen und tropfte glänzend auf den schwarzen Anzug. Das Hemd war aufgerissen.
»Es ist Lucas«, sagte Wayne, öffnete das Tor und ließ ihn herein.
Der Magier taumelte in den Hof und wischte sich mit zitternder Hand Blut und Schweiß von der Stirn. Sein zuvor makelloser Anzug hing in schwarz-weißen Fetzen von ihm herab. »Verflucht, ich dachte, das ist mein Ende.« Er lehnte sich an die Wand. »Haben es alle geschafft?«
»Ja.«
Lucas klopfte sich stolz vor die Brust. »Dann war mein glorreiches Opfer nicht umsonst.«
Sie brachten ihn in den Comicladen, wo Sara ihn umarmte und Gendreau seine Hand schüttelte. »Gute Arbeit da draußen, Soldat«, sagte der selbst ernannte Curandeiro. »Wie bist du dem Mob entkommen?«
»Na ja, ich habe ungefähr zehn Sekunden durchgehalten, dann hatten sie mich auf den Rücken geworfen und mir die Scheiße aus dem Leib geprügelt.« Lucas ließ sich in die Sitzecke fallen, wo er eine Zigarette aus seiner Hemdtasche fischte und sich zittrig in den Mund steckte, sich nach einem Feuerzeug abtastete und keins fand. »Aber dann hörte ich Gebrüll – Sara hat sich eingemischt, oder? –, und alle rannten weg. Ich habe keine Ahnung, wo der verbrannte Kerl mit dem Gewehr geblieben ist, er ist weggelaufen, während sich die anderen mich vorgeknöpft haben.«
»Hervorragend. Wir sind alle unverletzt. Jetzt müssen wir uns in Bewegung setzen«, sagte Robin, stand auf und ging zur Hintertür. »Wir haben keine Zeit, herumzusitzen und zu schwatzen.«
»Immer mit der Ruhe.« Kenway bremste sie an der Leinwand. Sein Schatten zeichnete sich scharf auf dem riesigen weißen Tuch ab, und er legte die Hand auf ihren Ellbogen. »Warte mal einen Moment. Du kommst gerade aus dem Krankenhaus und hast einen Autounfall und diesen Mob hinter dir. Ich dachte, Gandalf sollte sich deine Schulter erst mal anschauen.«
Sie zögerte mit grimmiger Miene.
Sein sorgenvoller Blick wurde vorwurfsvoll.
Seufzend kam sie zurück, klappte einen den Kinostühle runter und ließ sich hineinfallen. Gendreau zog das Jackett aus und krempelte die Ärmel hoch. Sein Hemd war maßgeschneidert, aber ohne den Willy-Wonka-Blazer puffte es um die Ellbogen und wurde an den Manschetten eng. Mit dem platinblonden Haar, den arktischen Augen und dem nordischen Gesicht hätte er auch als Covermodel für einen Liebesroman oder eine Figur in einem Vampirroman von Anne Rice durchgehen können. »Also gut«, sagte er und zog Robins T-Shirt hoch. »Das tut jetzt vielleicht ein bisschen weh – ich muss zuerst die übrigen Hautklammern herausziehen, weil sie sonst vermutlich stören würden. Und dann muss ich die Wunde mit den Händen zudrücken.«
»Tun Sie, was Sie müssen, Doc«, sagte Robin. Sie warf den Kopf in den Nacken. »Ich habe eben noch mal zwei Schmerztabletten genommen. Ich dachte, das wäre okay, nachdem ich mich nach den ersten übergeben habe.«
Sie wirkte härter, routinierter, als er sie zuletzt gesehen hatte. Das ist wahrscheinlich ihr Arbeitsmodus, entschied er. So sieht es vermutlich aus, wenn es losgeht und Robin Martine den Allradantrieb zuschaltet. Das, oder der Schmerz vermiest ihr die Laune.
»Du verlangst zu viel von dir«, sagte Kenway.
Sie zeigte auf ihn. »Du hast keine Ahnung, was ich hinter mir habe …«
»Ich weiß aber, wie es aussieht, wenn du dich selbst fertigmachst«, erwiderte Kenway entschieden. »Ich habe mein Purple Heart nicht bekommen, weil ich bei McDonald’s Burger gebraten habe. Lass den Sanitäter ran. Wenn nichts mehr von dir übrig ist, kannst du auch nicht mehr kämpfen.«
»Tut mir leid.« Robin zuckte, als Gendreau die verbogenen Klammern aus dem Arm zog. Ihre Augen waren rot gerändert. »Ich habe es nicht so gemeint. Ich wollte nur sagen … ich habe schon mehr von mir verlangt.«
Sie zog den Ausschnitt ihres T-Shirts auseinander und zeigte auf eine Narbe an der linken Seite ihrer Brust unter dem Schlüsselbein. »Das ist von einem Mädchen in Connecticut letzten Frühling. Die hat mit einer Küchenschere auf mich eingestochen. Hat das Herz um fünf Zentimeter verfehlt.« Sie zeigte auf winzige rosa Kommas, die ihre Arme und die Kante ihres Kinns sprenkelten. Die erbsengroße Beule am Ohr. »Kratzer. Von Neva Chandler und anderen. Gott, diese Miststücke kratzen immer. Bisswunden von einem Hund, mit dem Heinrich mich ausgebildet hat.« Sie zog das linke Hosenbein hoch und zeigte ihr Schienbein, obwohl man im Dunkeln nichts sehen konnte. »In Florida hat mich eine Schaufel erwischt, mit Knochenbruch. Ich habe mir drei Zehen und zwei Finger gebrochen.« Sie wackelte mit den Fingern ihrer rechten Hand. »Ich würde dir die gebrochenen Finger ja zeigen, aber die hat sich Theresa geschnappt. Zusammen mit dem Rest meines Arms.«
Je mehr Narben sie erklärte, desto verärgerter und genervter wirkte sie. Wütend schnallte sie ihren Gürtel auf, zog den Reißverschluss nach unten und schob mit einer Hand die Jeans bis zum Knie, sodass man ihren Slip sehen konnte. Ihre Stimme klang erstickt und rau. »Als ich diese Hexe in St. Louis abfackeln wollte, habe ich mir die Beine verbrannt …« Ihre Oberschenkel waren mit rosa verwachsenen Flecken alter Brandwunden überzogen. »Das mache ich jetzt schon eine Weile. Ich kann auf mich selbst aufpassen, verdammt. Also spiel nicht den Beschützer.«
»Es wäre hilfreich, wenn Sie stillhalten«, sagte Gendreau trocken.
Gereiztheit umwölkte ihr Gesicht. Ihr Blick tanzte kurz zu den Augen des Curandeiros, dann zog sie die Jeans wieder hoch.
»Wir sind alle ein bisschen im Stress«, fuhr er fort. »Deshalb sollten wir diesen kurzen Moment der Ruhe nutzen und uns ausruhen. Schaffen Sie das?«
Der Lärm der Meute draußen ließ langsam nach, bis nur noch gelegentlich ein Ruf zu hören war. Joel meinte, Polizeisirenen zu hören, doch aus so weiter Ferne, dass es auch Katzengeheul der Hexischen hätte sein können.
Kenway stand am Rand des großzügigen Bereichs für die Kinonächte und lehnte sich an ein Regal mit Actionfiguren. Die Beine hatte er gekreuzt, die Prothese vorn.
»Ich liebe dich«, sagte er nach einer Weile.
»Nein, du liebst mich nicht«, gab Robin zurück.
Er dachte einen Augenblick darüber nach. »Doch. Ich glaube, ich liebe dich.«
Sie schüttelte den Kopf. Ihre Stimme kratzte noch. »Sieh mich an. Sieh dir das Ding an, das ich jetzt als Arm habe. Du glaubst nur, dass du mich liebst. Warum sollte mich irgendwer lieben?« Die Dämonenhand spannte sich mit knirschendem Scharren an. »Sieh mich an. Das ist ein Stück von ihm. Meine dusselige Mom hat einen Deal mit ihm gemacht, und jetzt muss ich dieses verdammte Teil von ihm rumschleppen. Ich gehöre mit den anderen Teufeln in die Hölle.« Sie schnitt eine angeekelte Miene, biss die Zähne zusammen und ballte die Dämonenfaust. Durch die Zähne knurrte sie. »Was soll das überhaupt sein?«
Gendreau wusste darauf keine Antwort. Auch sonst niemand. Sara gab vor, sich auf das Säubern ihrer Fingernägel zu konzentrieren, während Lucas einen Comic las. Kenway starrte, die Stirn gefurcht, auf den Boden, als würde er ausgeschimpft.
»Es gehört zu dir, ganz einfach.« Joel stand auf und kniete sich zu ihr.
Robin sah zu ihm hinab, und er verspürte einen Anflug von Angst. Aus ihren Augen sprach ein furchteinflößendes, wütendes Ding, eine verschwitzte Form von Wahnsinn, der an die Oberfläche drängte, und plötzlich fühlte er sich wie ein Ritter, der einen von Macht und Alkohol trunkenen mittelalterlichen Fürsten anfleht. Der Swarovski-Kolben vervollständigte die Analogie, denn während er vor ihr kniete, ruhte das eine Ende auf dem Boden, und der Rest lag auf seinem Knie wie ein Schwert. Die falschen Diamanten am Holz reflektierten das fahle Licht wie eine Klinge.
Er überlegte, ihre Menschenhand zu ergreifen, doch dann kam ihm der Gedanke, die andere Hand zu nehmen; er hielt sie und war fasziniert, wie fremd sie sich anfühlte, wie die Skulptur einer menschlichen Hand aus Treibholz, das im Feuer abgeflämmt wurde – menschlich, aber größer, die Finger zu stumpfen Klauen gekrümmt. Auf der Haut wuchs flauschiges rotes Haar und endete in einem Büschel auf dem Handrücken. Aus der Nähe sah er dunkelgrüne Venen zwischen den kantigen Knöcheln.
So etwas Fremdartiges hatte er noch nie gesehen.
»Ich liebe dich auch, Mädchen«, sagte Joel und sah ihr in das halb wahnsinnige Gesicht. »Wir sind fast Bruder und Schwester, du und ich. Wir sind zusammen aufgewachsen, schon vergessen?«
Sie antwortete nicht darauf, doch ihre Mundwinkel zuckten, und die Augen wirkten nicht mehr ganz so furchterregend.
»Betrachtest du mich echt als Schwester?«
»J-ja, sicher.« Er trug immer noch den Seidendurag. Er nahm ihn ab, knüllte ihn zusammen und drückte die Faust vors Herz.
»Ich habe nie einen Bruder gehabt«, sagte sie.
Joel lächelte. Er hatte morgens, bevor er zum Krankenhaus aufgebrochen war, Lidschatten und Eyeliner aufgelegt, und obwohl es jetzt dunkel war und er schwitzte, wusste er, dass es immer noch gut aussah. »Jetzt hast du einen.«
»Das ist gut«, sagte sie ein wenig verträumt. »Leider haben sie in der Klapse dafür gesorgt, dass ich dich vergesse. Es ist viel Zeit vergangen, Joel.«
»Du bist noch die gleiche Robin, mit der ich aufgewachsen bin, oder?« Er legte seine andere Hand auf ihre dunkle, und es war, als würde er den rauen, gesplitterten Ansatz eines abgebrochenen Astes umfassen, der aus einem Baum ragte. Die Hand fühlte sich trocken und hart an, und er fragte sich, ob sie schmerzte. »Du bist immer noch das gleiche kleine Mädchen, mit dem ich und mein Bruder in dem großen alten Haus gefrühstückt haben. Weißt du noch, was ich bei Miguel’s gesagt habe?«
»Es gibt nichts, was guter Speck nicht noch besser machen könnte.« Robin sah ihm fest in die Augen.
»Richtig. Das kleine Mädchen, mit dem er und ich in eurem großen alten Garten gespielt haben. Wir haben uns immer abwechselnd an der Schaukel Schwung gegeben. Du und dein Moskito. Wie hieß er gleich?«
»Mr. Nosy.« Zaghaftes Lächeln. »Ich habe ihn noch. Er ist in meinem Wagen.«
»Muss inzwischen verdammt alt sein.«
»Er fällt langsam auseinander. Ich habe ihn schon so oft geflickt, dass ich es nicht mehr zählen kann.« Das Lächeln wurde breiter. »Ich liebe diesen dummen Moskito so sehr.« Eine frische Träne zog die Spur auf ihrem Gesicht nach. »Wir haben Verkleiden gespielt, du und ich und Fish in meinem Zimmer in der Kuppel. Du hast am liebsten die alten Kleider und die Perlen meiner Mutter angezogen. Daran kann ich mich erinnern.«
Joel streichelte die fremde Hand. »Du bist hier. Das gleiche kleine Mädchen mit dem gleichen Mosikitostofftier. Du bist nur erwachsen geworden und hast dich ein bisschen verändert, aber nicht viel. Ich habe mich auch verändert. Mein Kopf musste mit einigen schmutzigen Sachen fertigwerden, und meine Lunge ist wahrscheinlich so schwarz wie meine Haut – aber eigentlich bin ich immer noch der kleine Junge in den alten Kleidern und den High Heels deiner Mutter, die viel zu groß für mich waren.«
Alle Härte war aus Robins Gesicht gewichen, obwohl sie weiterhin ein wenig verloren klang, als würde sie von der anderen Seite einer anderen Welt sprechen. Doch mit jedem Wort schien sie sich besser in den Griff zu bekommen.
»Ja. Wir sind immer noch die gleichen«, sagte sie mit Leuchten in den Augen. »Okay.«
Er ließ die Dämonenhand los, und sie ballte sie wieder zur Faust. Dabei gab sie ein Geräusch von sich wie das Knarren von altem Leder gemischt mit dem Knacken von Weidenruten.
»Das ist nicht er«, sagte Joel zu ihr und nahm ihre hölzernen Finger erneut in die Hand. »Nein. Das bist du, Mädchen. Es ist nur ein bisschen abgefahrener als der Rest von dir.«
Sie nickte und wischte sich die Wangen mit dem rechten menschlichen Handrücken.
»Man kommt nicht durchs Leben, ohne hier und da ein bisschen Scheiße aufzuladen. Wir alle sind die Summe unseres Lebens, Süße … und wir müssen bis zum Ende den Wahnsinn mit uns herumschleppen.« Joel drückte sich mit dem Glitzerkolben hoch. Die Schusswunde war im Krankenhaus wieder versorgt worden und schmerzte nur noch, wenn er das Knie beugte. Natürlich waren auch die Schmerzmittel hilfreich. »Ja, du hast ziemlich viel Wahnsinn zu schleppen. Aber ich helfe dir beim Tragen, okay?«
Sie nickte wieder, und die Härte kehrte in sie zurück, aber nicht mehr der verrückte Blick des Lords auf dem Thron, der Köpfe rollen lassen will; vielmehr war es positive und eiserne Entschlossenheit. Die Abgedrehtheit war verschwunden. Joel spürte, dass er seine Kindheitsfreundin vom Rand eines dunklen, zerstörerischen Abgrunds zurückgeholt hatte.
»Ich mag dich, ja?« Seine Stimme verriet, dass es keine Frage war. »Und der Bursche da drüben« – er zeigte mit dem Schläger auf Kenway –, »der mag dich genauso. Merk dir das.«
Robin wischte sich erneut das Gesicht. »Ich merke es mir. Ja.«
Dong. Dong. Dong.
Jemand klopfte an der Vordertür. Alle nahmen sofort Kampfhaltung ein. Kenway drehte sich um und spähte zwischen den Regalen hindurch. »Wer zum Teufel …«
»Ich dachte, ich hätte eben Sirenen gehört«, sagte Sara. »Vielleicht treibt die Polizei die Hexischen auseinander. Vielleicht sind die Hexischen sogar wieder zu Verstand gekommen.«
»Nein, das glaube ich nicht …«
Ein Mann stand auf der anderen Seite der Scheibe und hatte die Hände an den Kopf gelegt, damit er in die Dunkelheit starren konnte.
Der Mutant mit dem Gewehr. Roy Euchiss.
»He, irgendwer da drin?«, rief der verunstaltete Mann, um dessen säureverätzten Schädel dünne Haarbüschel abstanden. »Ich weiß, dass ihr da drin seid.« Er hustete heftig. »Ich habe eine Bewegung gesehen. Ist schon geöffnet? Habt ihr das neue Batman-Heft? Ich bin nämlich Fan.« Er hob das Gewehr und legte es an die Schulter. »Bleibt ruhig sitzen. Ich habe einen Schlüssel.«
Der erste Schuss donnerte durch den Comicladen wie der Hammer eines Richters. In der Plexiglastür war ein Loch. »Scheiße, wir müssen hier raus«, sagte Lucas, und die Magier rannten durch den Kinobereich zur hinteren Tür. Kenway packte Robins Hand und zog sie mit sich, doch im letzten Moment riss sie sich los und drehte sich um.
»Was machst du denn? Komm mit!«
Joel legte seinen Glitzerkolben auf den Verkaufstresen, packte seinen Ärmel und riss ihn vom Sweater ab. »Ihr verschwindet hinten raus. Der Typ hat meinen Bruder auf dem Gewissen.« Er riss den anderen Ärmel ab und enthüllte Oberarme, die noch ziemlich muskulös waren aus der Zeit, als er Steinplatten und Düngersäcke durch die Sommerhitze geschleppt hatte. Mit dem verschwitzten Gesicht und den nackten Muskeln hatte er eine gewisse Ähnlichkeit mit den Frauen auf den Filmplakaten. Rocky und Zula wären stolz auf ihn gewesen. Er nahm den Schläger und schwang ihn. »Die Sache wird hier und jetzt zu Ende gebracht.«
BUM! Roy schoss erneut durch das Glas und begann, gegen die Tür zu treten und daran zu rütteln. Ein Kartonaufsteller von Ironman kippte um und machte klapp.
»Sicher?«
»Ich habe das im Griff, Baby.«
Kenway lehnte sich durch die Tür und reckte dem Pizzamann eine Faust entgegen. »Monstermodus, Alter.«
Joel tippte mit seiner Faust dagegen. »Monstermodus.«
»Apropos Monster«, sagte Sara Amundson, während die anderen nach hinten flohen. »Ich bleibe hier und gehe Ihnen ein bisschen zur Hand, wenn es recht ist. Ich habe da noch ein Monster auf Lager.«
Joel zuckte mit den Schultern. »Wenn Sie …«
KRAWUMM! Die Vordertür implodierte. Im gleichen Augenblick verschwand Sara.
Roy Euchiss bückte sich unter der Querstrebe in der Mitte der Tür hindurch, zwängte sich durch die Lücke und trat auf glitzernde Scherben. Der kräftige Geruch von Schießpulver vermischte sich mit dem schwachen Vanilleduft alter Comic-hefte.
Aus der Nähe war Roy ein entsetzlicher Anblick. Von seinen Ohren waren nur zerfetzte Hautstummel geblieben, die schwarze Ränder zeigten. Zwei klaffende Löcher, wo die Nase gewesen war, erinnerten an Lon Chaney in The Phantom of the Opera. Eins der Augen war milchig weiß. Seine gesamte Haut sah aus wie der schlimmste Sonnenbrand der Welt. Er zog den Repetierhebel der Flinte durch. Eine leere Messinghülse wurde ausgeworfen und landete klimpernd auf dem Glastresen.
»Wo steckst du, du Scheißaffe, du brudermordender Hurensohn!«, brüllte er zornig.
»Du hast meinen Bruder zuerst umgebracht …«, rief Joel, als die Wut ihn übermannte, und er wusste sofort, dass er einen Riesenfehler begangen hatte, noch bevor das Wort Bruder über seine Lippen gekommen war. Roy riss den Kopf herum und legte das Gewehr an. Über Joel explodierte eine Schachtel und ließ Plastik- und Papierfetzen auf ihn niederhageln. Roy lud durch und stürmte zu Joels Versteck, sah sich um, entdeckte ihn, wie er geduckt davonrannte, und schoss erneut.
BUM! Eine Walking-Dead-Kaffeetasse explodierte.
Joel humpelte durch die Gänge mit Spielzeug und Spielen. Das Gewehr spuckte abermals Feuer, und in der Monopoly-Schachtel hinter ihm erschien ein Loch. So leise er konnte, schlich er davon und versuchte, so viel Entfernung wie möglich zwischen sich und die Waffe zu bringen.
Mit der Schulter stieß er gegen ein Knie und schaute zum langen Kinn eines Aliens hoch. Joel hätte fast aufgeschrien, bis er begriff, dass es Fishers Xenomorph-Replik war.
»Achtung!«, brüllte draußen eine Stimme aus einem Lautsprecher. »Hier spricht die Polizei! Wir fordern Sie auf, die Versammlung aufzulösen!«
Die Cops? Joel kroch hinter die Alien-Statue. Waren die Cops gekommen, um sich den Mob draußen vorzuknöpfen? Die Menge begann chaotisch und wütend zu schreien. Rennende Schritte waren durch die kaputte Tür zu hören. Hexendiener fauchten aggressiv.
»Bewegen Sie Ihre Ärsche hier weg!«, warnte die Megafonstimme. »Und zwar …«
Sie wurde vom dumpfen Krachen eines Schusses unterbrochen.
»Du brauchst gar nicht wegzulaufen«, warnte Roy, drehte sich um, ging den Weg zurück, den er gekommen war, und folgte dem Geräusch von Joels Schlurfen auf dem Teppich. Er lud wieder durch.
Überall im Comicladen flogen Schachteln auf und warfen Spielkarten in die Luft, erst eine oder zwei, wie Popcorn, wenn man die Tüte aufreißt. Roy verharrte und blickte sich verwirrt um. Sie gingen in einer perkussiven Symphonie auf, POPP-POPP-POPP! Actionfiguren prasselten zu Boden, ein Hagel von Plastikarmen und -beinen.
Roy checkte seine Waffe und nahm sie wieder in Anschlag. »Hör mal zu, Afrokadabra: Gegen Miss Cutty bist du gar nichts, das kann ich dir sagen. Sie hat mehr Magie im kleinen Finger als du in deinem ganzen queeren Körper.«
»Du wirst nie gewinnen, Rotkopf«, sagte eine dünne Stimme.
Instinktiv fuhr Roy herum und feuerte. BUM!
Captain America wurde in den Schatten gewirbelt. »Ich bin die Rache!«, sagte eine andere Stimme hinter ihm. »Ich bin die Nacht.« Andere gesellten sich dazu und schwollen zu einer Kakophonie zirpender Schlachtrufe an.
»Hier kommt das Ende, Skeletor!«
»Thundercats, Thundercats, Thundercats, huuuu!«
»Transformers! Mehr als der erste Blick enthüllt!«
Kurz darauf vereinten sich die Sprach-Chip-Aufnahmen dutzender, hunderter Actionfiguren zu einem wütenden Roboterchor, einem dissonanten Lynchmob. Vibrationen gingen von einem seltsamen Epizentrum mitten im Laden aus, ein Grollen, das sich langsam zu einem Tosen aufbaute.
Zwischen den Regalen erhob sich ein riesiger Berg von Figuren und bildete einen Kopf, Schultern und schließlich eine hohe bunte Gestalt, ein Meter fünfzig, ein Meter siebzig, zwei Meter, ein Grendel aus Actionpuppen. Auf zwei verschwommenen Elefantenfüßen schlingerte das Ding durch den Gang auf Roy zu, als würde es durch tiefen Schlamm waten. Licht funkelte an Schienbeinen und Bizeps, blinde elektrische Augen blinkten überall, rote und grüne Laserpunkte blitzten und flackerten wie Weihnachtslichterketten. Die synthetischen Zerrlaute von batteriebetriebenen Strahlenkanonen und Lichtschwertern zischten tief aus dem Innenleben: piu piu piu! Bzzz-bzzz! Bum! Pling-pling-pling! Das verklingende elektronische Iiuuuuuhhhh-BKSSHH einer Minenbombe. Roy verzog das Gesicht und zuckte beinahe verlegen zusammen. »Willst du mir damit Angst machen, Pizzamann?«
Joel trat hinter einem Regal hervor, schwang den Glitzerkolben gegen das Gewehr und brach Roy alle Finger der linken Hand.
Falsche Diamanten lösten sich und flogen funkelnd auf den Teppichboden. Unwillkürlich zog die rechte Hand der Schlange den Abzug, BUM!, und feuerte durch Spielzeugkartons, dann schrie er vor Schmerz und Wut. Joel holte mit dem Schläger aus und ließ ihn mitten auf der Stirn des Schützen niedergehen. Der Aufprall schoss ihm wie ein Stromschlag in die Unterarme und betäubte seine Hände. Roy taumelte zurück gegen ein Regal, das umkippte und überall Comichefte verteilte.
Ehe er sich erheben konnte, sprang Joel zu ihm und hämmerte ihm auf die Brust. Rippen brachen mit gedämpftem, leisem Krachen.
»Urggh!« Roy schob sich aus dem Weg und BAMM!, schlug Joel ein Loch in die Rückwand eines Holzregals. Diamanten prasselten auf das Holz. Roy wälzte sich herum, das Gewehr im Arm, und sobald er auf den Rücken fiel, kam er wieder hoch und richtete den Lauf auf Joel. Mit erhobenem Glitzerschläger verharrte Joel voller Schreck, als er in die schwarze Mündung sah.
Wahnsinn brodelte in ihm auf und übermannte ihn mit einer Art Kamikaze-Mut. »Schieß doch, Alter!«, brüllte Joel den auf dem Rücken liegenden Killer an. »Schieß doch, du verätzter Scheißkerl!«
Roy drückte ab. Klick.
»Mist!«, zischte er und lud durch.
Joel schlug das Gewehr aus dem Weg, stieg über das umgefallene Regal und trat Roy auf die Brust, als wollte er ein besonders ekliges Insekt töten. Knochen bogen sich widerstrebend unter seinem Fuß.
»UGGGHHH-UUGGGHHH!«, stöhnte Roy und spuckte Speichel. Er wälzte sich herum, ließ das Gewehr los und krabbelte über den Teppich.
»Du siehst aus wie ein gepelltes Würstchen«, rief Joel ihm hinterher.
Nachdem sich so viele Diamanten gelöst hatten, sah der Glitzerkolben fast schon wieder aus wie ein normaler Baseballschläger. Joel stieg von dem umgekippten Regal und ging fast heiter neben dem krabbelnden Serienkiller her. Er wirbelte den Schläger unbeschwert und sorglos hin und her, doch sein Gesicht zeigte nichts als Wut und knallharten Zorn.
»Das ist für die ganzen Katzen, die du verbrannt hast«, sagte Joel und ließ den Schläger auf den Rücken des Killers krachen.
Die Wirbelsäule brach mit leichtem Knacken. Die Schlange schrie in die Dunkelheit des Comicladens. Der Mann drehte sich um, hob die Hände, zitterte und riss die Augen flehend auf. Nur der Oberkörper bewegte sich, die Taille bog sich wie eine Helix. Die Beine lagen nutzlos da. Joel stieß mit dem Schläger die Hände aus dem Weg.
»Nein!«, schrie Roy. »Bitte!«
»Das ist für meinen Bruder«, knurrte Joel. Der Schläger ging diagonal auf Roys Gesicht nieder, traf mit einem klatschenden Patsch und erstickte den Schrei.
Das vordere Ende blieb in der Ruine von Roy Euchiss’ Gesicht hängen. Ein Augapfel drängte sich unter dem Holz hervor und starrte auf den Boden. Joel erhob sich, wachsam, als könnte der Boden einbrechen.
»Anpassen und überwinden«, sagte er zu der Leiche.