Die Magier wohnten in einer der größeren Lodges unten am Hügel, einer rustikalen Wildwesthütte mit duftenden Zedernholzmöbeln, Quilts und Hirschgeweihen an den Wänden. Robin und Wayne halfen ihnen, ihre Habseligkeiten in ihr Fahrzeug zu laden, während Kenway sich im Badezimmer eine Auszeit nahm. »Wir haben die Hütte für die ganze Woche gemietet«, erklärte Gendreau Robin, als sie das Gepäck hinten in einen Chevy Suburban stopften. »Aber wenn wir Cuttys Zorn nicht überleben, wäre es nicht gut, die Sachen hierzulassen, wo sie Normalsterblichen in die Hände fallen können.«
Robin stupste Wayne mit dem Ellbogen an. »Wenigstens nennen sie uns nicht Muggels. Das wäre echt zu krass.« Der Junge grinste, und die weißen Fenster spiegelten sich auf seiner Brille. »Wir holen deinen Dad da raus, okay?«
Aus seinem Grinsen wurde ein trauriges, aber zuversichtliches Lächeln.
Sara Amundson gesellte sich zu den beiden, während Lucas und Gendreau die letzten Taschen heranschleppten. Robin betrachtete das Horn, das aus ihrem Haar ragte. »Was ist mit, äh …« Sie machte ein OK-Zeichen mit Zeigefinger und Daumen und tat so, als würde sie sich ein imaginäres Horn auf ihren eigenen Kopf setzen.
»Das ist eine Perücke«, sagte Sara und zog an dem Horn. Ihr gesamter Haarschopf hob ab und enthüllte pures Feuerrot darunter. Sie setzte die weiß-pinkfarbene Perücke wieder auf und zupfte sie zurecht. »Beim letzten Halloween bin ich als ›Mordhorn‹ gegangen, und allen hat es so gut gefallen, da dachte ich, dieses Jahr gehe ich wieder so.«
»Glauben Sie ihr kein Wort.« Lucas schlug die Heckklappe des Suburban zu. »Sie trägt es ununterbrochen seitdem.«
Sara senkte den Kopf und pikste ihm mit dem Horn in den Arm. Er wich zurück und machte mit den Zeigefingern das Kreuzzeichen. »Das Mordhorn ist mörderisch.«
Sie stiegen in den SUV. Gendreau fuhr, Lucas saß auf dem Beifahrersitz, Robin mit Sara und Wayne auf der Rückbank und Kenway im Kofferraum beim Gepäck. Gev, der Geisterhund, war verschwunden; Wayne schien verwirrt und enttäuscht, bis Sara ihm erklärte, dass das so Gevs Art sei. Er würde später wieder auftauchen, für gewöhnlich, wenn man am wenigsten mit ihm rechnete. »Er kommt und geht. Wie eine Katze.«
»Eine Katze, die nur minimalst an diese Ebene der Realität gebunden ist«, sagte Lucas.
Als Robin es sich im Wagen gemütlich gemacht hatte, fühlte sie sich plötzlich alt und verbittert. Sie dachte über die letzten zwei Jahre und die Kämpfe und Entbehrungen nach, die ihr die Hexen eingebracht hatten, und irgendwie beschlich sie das dumpfe Gefühl, dass sie die Einzige mit Erfahrung in einem Wagen voller Anfänger war. Sie kam sich vor wie in dieser Clownnummer, in der immer mehr und mehr Clowns aus einem Kleinwagen steigen. Die nehmen die Sache nicht ernst genug, auch Gendreau nicht, dachte sie und sah in die Runde. Saras Mund verzog sich zu einem verkniffen Lächeln, ihre Augen blieben dabei ernst. Für die ist es ein Schulausflug. Willy Wonka, eine Frau mit Einhorn-Perücke, ein abgemagerter Hund und eine Figur aus einem Quentin-Tarantino-Film.
Ich hätte fast Lust, ihnen zu sagen, sie sollen in der Hütte bleiben und Cutty mir überlassen.
Schließlich ist es mein Kampf.
Eine schicksalhafte Ahnung überkam sie, so als hätte sie ein Ticket für die Titanic gekauft. In ihrer Schulter rumorte Schmerz. Sie sah sich im Rückspiegel an und staunte, wie bleich ihr Gesicht war. Ihre Augen lagen in tiefen Kuhlen und glänzten glasig im wässrigen Tageslicht.
Sie fuhren den Berg am Südhang hinunter und folgten der kurvigen Straße entlang der Haarnadelkurven. Das Schwanken des Fahrzeugs verwandelte Robins von Alkohol und Medikamenten mariniertes Inneres in eine wallende Lavalampe. Sie kamen unten an, fuhren an der Rezeption vorbei und hielten vor der großen Straße. Das Subway-Schild leuchtete gelb im schwindenden Licht des Nachmittags. »Letzte Chance«, sagte Gendreau und spähte durch die Windschutzscheibe. »Möchte jemand eine Henkersmahlzeit?«
Lucas knurrte. »Einfach inspirierend, diese Zuversicht.«
»Bringen wir es hinter uns«, drängte Robin. Bei jeder Bewegung des Suburban wollte sie sich übergeben. Dass der Wurm-Arm währenddessen ständig in Bewegung war und sich immer wieder anspannte, war auch nicht gerade hilfreich.
Sie bogen auf den Highway ein und fuhren unter der Interstate hindurch Richtung Blackfield. Robin zog den Ärmel zurück und enthüllte das rot-schwarze Tentakel, und Wayne schob sich unmerklich von ihr weg. Der Anblick, wie er sich ans Fenster drückte, machte ihr zu schaffen und hinterließ ein Gefühl tiefer Verlegenheit.
»Oh, mein Gott«, sagte Sara. »Was zum Teufel ist das?«
»Laut Gendreau ist es mein neuer Arm.« Robin nahm das Tentakel so in die Hand wie Gendreau zuvor, und die Wurstschlange lag über ihre Hand drapiert wie ein Schmuckstück, das präsentiert wird. Nicht nur war es noch mal ein gutes Stück gewachsen, während sie sich zum Aufbruch bereit gemacht hatten, sondern es war jetzt auch so dick wie ein Finger. »Offensichtlich habe ich Theresas Gabe für Verwandlung aufgenommen, als ich ihren Herzweg geschlossen habe, und deshalb wächst jetzt … etwas anstelle meines Arms.« Sie hoffte, es würde nicht ewig ein Tentakel bleiben. Ein zwei Meter langer Tintenfischarm würde die Beziehung zwischen ihr und Kenway definitiv belasten.
»Da sind jetzt noch zwei«, sagte Wayne.
Sara beugte sich vor. »Gott, sie verflechten sich.«
Aus den Augenwinkeln sahen die Ranken aus wie eine Art Zopf aus Salamiwurstpeitschen. Die Übelkeit verwandelte ihren Magen in einen Betonmischer, und saurer Speichel sammelte sich in ihrem Mund.
»Halten Sie an«, schrie sie fast und schnallte sich los.
Sobald Gendreau an den Straßenrand gefahren war, stieß Robin die Tür auf. Sie kniete sich auf den Seitenstreifen und erbrach sich ins trockene braune Grass, beobachtet von einer Wand aus Kiefern und einer verrosteten Getränkedose. Das Tentakel unter ihrem T-Shirt schlängelte und rekelte sich.
Erschöpft hielt sie inne, versuchte, zu Atem zu kommen, keuchte durch die raue Kehle. Jemand stieg aus, und ehe sie sichs versah – oder ihn aufhalten konnte –, ging Kenway neben ihr in die Hocke. »Du hast nicht genug Haar, das man aus dem Weg halten könnte, wenn du dich übergibst«, sagte er. Aus dem Jeansbein ragte die Prothese und leuchtete matt. »Aber zumindest kann ich dir beim Aufstehen helfen.«
Tränen rannen über ihr Gesicht (wann hatte sie angefangen zu weinen?), noch einmal spuckte sie und wischte sich den Mund mit dem T-Shirt-Kragen ab – was man nur tut, wenn man nicht daran gewöhnt ist, sich in Gegenwart zivilisierter Menschen zu bewegen – , aber Kenway hielt schon eine zerknüllte Serviette bereit. Sie wischte sich das Gesicht ab, als würde sie Käfer von einer Stoßstange reiben.
»Abgesehen von Heinrich – und bei dem bin ich mir nicht einmal sicher – , ist die letzte Person, die sich irgendeinen Deut um mich geschert hat, vor Jahren gestorben. Mom war alles, was ich je hatte. Sogar in der Highschool.« Der Wind zupfte und schob an dem zusammengeknüllten Papier in ihrer Hand. »Ich weiß nicht, was ich von dir halten soll. Du bist mir echt ein … ein Rätsel, Mann. Ein Geheimnis, das ich lüften muss. Was siehst du denn in mir?«
»Diese YouTube-Abonnenten«, sagte Kenway. »Wie viele – vier, fünf Millionen Leute? Ich habe niemals auch nur fünf Millionen Leute gesehen. In dieser Stadt leben nicht so viele Menschen. Und du läufst herum und denkt, du bist allein im Leben.« Er schüttelte den Kopf.
Rauchiges, sarkastisches Lachen. »Dieses Leben ist so abgefuckt, Kenway.« Sie blickte zu ihm hoch. »Dämonen. Hexen. Magier. Geisterhunde. Willst du da wirklich dazugehören?«
»Gehöre ich dazu?«
»Ich fände es schön.«
Sein Bart teilte sich und enthüllte ein Lächeln, das so warm war wie Sonnenschein. »Ja. Ich glaube, ich fände es auch schön.«
Robin lachte und strich sich mit ihrer Hand durch den wilden Iro. Das Namenskettchen aus dem Krankenhaus, das sie am Handgelenk trug, kratzte über ihre Stirn. Sie hatte es völlig vergessen. Sie biss in das Papier, bis es riss, hielt es in den Wind und schaute zu, wie es zuckte und tanzte. Ihre Finger ließen los, und das Band flog in den Nachmittag davon und rollte am Straßenrand entlang wie eine Steppenhexe.
»Ich habe mich noch gar nicht für deine Rettung im Weingarten bedankt.« Sie blinzelte in den Wind und betrachtete Kenways Gesicht. »Es wäre zwar nicht nötig gewesen …«
»Offensichtlich.«
»… Offensichtlich, aber mir hat noch nie jemand geholfen.«
Mitgefühl zeichnete sich auf den Gesichtern der Magier ab, die dem Zwischenspiel vom Wagen aus zusahen. »Jetzt hast du jede Menge Hilfe.« Kenway streckte die großen Hände aus, legte sie ihr ans Kinn und wischte die Tränen mit den rauen Daumen von ihren Wangen. »Ob es nun nötig ist oder nicht.«
Underwood Road. Das Straßenschild am Rande des Asphalts zitterte zwischen stoppeligen, abgeknickten Hickory-Sprösslingen im Wind wie ein alter Mann, wie eine Wetterfahne, die in von der Zivilisation übersehene Richtungen zeigt. Der Suburban parkte noch immer am Straßenrand, wo sie ausgestiegen war, um sich zu übergeben. Robin lehnte am Wagen, dessen Tür offen stand, hatte die Stirn auf den Arm gelegt und den Arm auf die Karosserie und versuchte, mit frischer Luft ihren Magen zu beruhigen.
»Alles okay?«, fragte Wayne. Er hatte seine Brille abgenommen und putzte die Gläser mit dem T-Shirt.
»Ja, es war nur … das Oxycodon, der Bourbon, der enge Wagen, dieses Ding …« Sie zuckte mit der Schulter, aus der der Blutwurm hing. »War alles ein bisschen viel für mich. Da brauchte ich frische Luft.«
»Bist du sicher, dass du das wirklich heute erledigen willst?« Kenway stand neben ihr. Er folgte ihrem Blick zu dem Straßenschild und legte ihr die Hand auf den Rücken. Das Tentakel rollte sich zusammen, und sie spürte Kenways Anspannung, aber er zog die Hand nicht weg. Gott, dafür liebte sie ihn. Ehrlich.
Ohne Frage hatte sie ihre Zweifel; ihre Mutter war inzwischen seit einem halben Jahrzehnt in diesem Baum eingesperrt, und ein paar Tage würden keinen Unterschied machen.
Trotzdem …
»Die haben Leon«, sagte sie. »Wir können ihn nicht im Stich lassen.«
Vor Dankbarkeit löste sich Waynes starre Miene. Sie sah, dass er etwas sagen wollte wie: Mein Dad ist hart im Nehmen, er würde es verstehen, wenn du erst mal wieder auf die Beine kommen möchtest, bevor du in die Hölle ziehst, aber vor Erleichterung und weil er seinen Vater unbedingt retten wollte, hielt er den Mund. Sie ließ sich auf ihren Sitz fallen und zog den Gurt über den Schoß. »Auf geht’s. Man muss die Feste feiern, wie sie fallen. Und das Eisen schmieden, solange es heiß ist.«
Kenway hing in der Tür und blickte sie prüfend an.
Schließlich kletterte er hinten in den Suburban, und sie zog die Tür zu, bong. Gendreau setzte den Blinker, ließ einen Camaro vorbeizischen, fuhr zurück auf den Highway, zog über den Mittelstreifen und bog in die Underwood Road ein.
Der Magier fuhr wie in einem Werbespot. Seine blassen schlanken Finger hielten das Lenkrad zart und geschäftsmäßig wie ein Chauffeur und steuerten die gewundene Underwood Road entlang. Georgias allgegenwärtige Baumskelette grenzten sie mit Stämmen ein, die noch vom Wochenendregen erdbeerrot gefärbt waren.
Betreten verboten. Das Schild war an einen Baum genagelt und mit Schusslöchern durchsiebt.
Robin fiel plötzlich auf, dass es im Süden eine Menge dieser Schilder mitten in der Wildnis gab, als hätten die großen Landnahmen der Kolonialzeit nie wirklich geendet, und als wäre die Gegend immer noch in tausend unsichtbare Grundbesitze zerschnitten. Diese Schilder sah man im Norden selten, in New England fast gar nicht, außer in der Wildnis von Maine und in manchen Gebieten des Staates New York. In der Kommune in Oregon hatten ebenfalls welche gestanden, aber vor allem weil die Vorbesitzer, Jäger, sie aufgestellt hatten; die Hexen brauchten sie nicht, wollten sie auch nicht, denn es gefiel ihnen, wenn uneingeladene Besucher vorbeischauten.
Welcome, sir, have a seat, have a beer, welcome to the Hotel California.
Was sie alles gesehen hatte, während sie Heinrichs Führung folgte, seine Befehle ausführte … Die menschlichen Fingerknochen, die als gruselige Windspiele an Veranden hingen, die Schädelschüsseln mit verbranntem Blut, die verrottenden Gestalten, die in Eisenkäfigen an Galgen hingen – wie Mumien, geschrumpelte Papierhaut, die an dünnen Knöchelchen klebt, Hände, die sich um knotige Knie krallen, steife Lippen, die sich über vergilbte Schädel spannen – , die Schreie von Kindern, die in Kellern eingesperrt sind, deren kindliches Denken durch die Gabe der Illusion verdreht war. Ja, es funktionierte in beide Richtungen, die alten Weiber konnten dich Dinge sehen lassen oder dich dazu bringen, Dinge nicht zu sehen.
Aber diese schrecklichen Anblicke blieben zunächst begraben, tief unter der Oberfläche, Erinnerungen wie Haie, die mitten in der Nacht hervorkamen und die Zähne zeigten. Diese Kinder, die sie gerettet hatte, werden eines Tages erwachsen sein und dann mitten in der Nacht neben ihrer Ehefrau oder ihrem Ehemann im Bett hochfahren, während die schäumende Sturmwelle eines Albtraums abklingt und die Dunkelheit des Schlafes hinterlässt. Albträume davon, was sie als Kinder gesehen, aber als Erwachsene vergessen hatten, Kindheiten, die von lächelnden Hexen mit Eis in den Augen gestohlen wurden, von Kobolden, die sie gefressen hätten – oder schlimmer, ihnen das Herz für eine alterslose Leichenkönigin entrissen hätten – , wäre da nicht diese punkige Hexenjägerin aufgetaucht mit dem silberglänzenden Dolch in der Hand.
In solche Gedankengänge war sie vertieft, als Gendreau vor einem Stoppschild hielt.
Ein anderer Highway kreuzte die Underwood Road. Robins Augen schweiften nach Norden, und sie sah, dass die Straße bis zu Miguels Pizzeria in den Bergen führte. Kenway hatte diese »Abkürzung« genommen, als er sie zum ersten Mal zu ihrem Wagen zurückgefahren hatte, wo sie dann elendig geil in Dunkelheit und Kälte gelegen und an die Decke gestarrt hatte.
»Sind wir dran vorbeigefahren?« Vielleicht hatte sie nicht richtig aufgepasst – für ein paar Minuten war sie mit sich selbst beschäftigt gewesen.
Verwirrt drehten sich alle zu ihr um. Robins bleiches Gesicht spiegelte sich in Lucas’ schwarzer Sonnenbrille. »Vorbeigefahren?«, fragte der Magier. »Könnte das sein? Ich kann mich gar nicht daran erinnern, durch die Siedlung gefahren zu sein oder den Wohnwagenpark auf der linken Seite gesehen zu haben.«
Gendreau sagte über die Schulter: »Soll ich wenden und zurückfahren? Oder sind wir auf der falschen Straße?«
»Die Straße ist richtig«, antwortete Lucas. »Underwood Road.« Er griff unter den Sitz, zog einen Ordner hervor und öffnete ihn. »So steht es in der Akte. Ich meine, wir waren kürzlich abends hier, und wir haben uns doch nicht verfahren.«
»Es ist die richtige Straße.« Robin betrachtete die Straße hinter ihnen. »Etwas anderes stimmt nicht.«
Der Suburban setzte auf die Gegenfahrbahn vor und vollführte eine Kehrtwendung zurück auf die Underwood Road. Gendreau steuerte wieder in den Wald. Diesmal hielt sich Robin an der Kopfstütze vor ihr fest und suchte die vorbeiziehende Straße nach bekannten Wegmarken ab.
Strommasten standen in stetem Takt auf der rechten Seite des Wagens, und fast jeder Baum und jedes Schild waren ihr nach fast zwanzig Jahren vertraut. Sie folgten erneut dem bekannten Schwung und der leichten Wellenform der Straße, doch diesmal fuhr Gendreau fast so langsam wie bei einer Beerdigungsprozession; der Asphalt gurrte unter ihren Reifen, die Bäume zogen im Schritttempo vorbei.
»Sekunde mal«, sagte Robin.
Sie starrte links aus dem Suburban, wo ein Strommast am Straßenrand aufragte.
Kenway meldete sich von hinten: »Was gibt es denn?«
»Die Strommasten sind jetzt auf der linken Seite.« Robin drehte sich um und schaute über Kenways Schulter durch das Heckfenster. »Die Leitung überquert die Straße am Lazenbury-Haus. Das weiß ich, weil sie bis zu meinem alten Haus auf unserer Seite und dann über die Straße geht, zu einem Transformatorenhäuschen vor dem Lazenbury, von wo die Leitung zur Hazienda und zum Wohnwagenpark führt. Von dort aus bleibt sie auf der Seite, bis sie am Highway zur Pizzeria geht.«
Gendreau wendete in drei Zügen, und nun war die Leitung auf der rechten Seite.
Nachdem sie ein Stück gefahren waren, stellte Lucas fest: »Hier wechselt die Leitung die Seiten.«
»Karen Weaver versteckt das Haus.« Sara Amundsen spähte durch das graue Fenster nach draußen. Die Tönung überzog die Welt draußen mit einer trüben Düsternis. »Ich weiß es. Sie hat fast fünfhundert Meter einfach aus der Straße rausgeschnitten. Als hätte sie die Mitte aus einer Schnur geschnitten und die beiden Enden wieder verknotet.«
Gendreau legte den Rückwärtsgang ein, und sie fuhren jaulend rückwärts, erst langsam, dann schnell, bis sie fast in westliche Richtung rasten. Der Motor heulte und surrte wie ein elektrischer Rennwagen.
»Stopp«, sagte Sara. »Ich steige mal kurz aus.«
Sie hielten schräg in Richtung Osten. Robin machte die Tür auf und stieg aus. Kenway und Sara folgten ihr. Die Illusionistin zog sich die Mordhorn-Perücke vom Kopf und warf sie auf den Rücksitz. Der Wind fuhr ihr durch das leuchtend rote Haar.
»Dort drüben. Da kann man es sehen.« Sara zeigte nach Osten und auf die südlich gelegene Straßenseite.
In zwanzig Metern Entfernung ragte ein splittriger Holzmast in die Höhe, auf dessen Spitze die elektrischen Komponenten saßen. Die Stromdrähte kamen von den Isolatoren und ragten knapp zehn Meter in die Luft, wo sie dann einfach verschwanden, als hätte Gott sie mit einem riesigen Radiergummi einfach weggerubbelt.
»Was zum Teufel?«, sagte Kenway und beschattete die Augen, weil der weiße Himmel blendete. »Sind wir im Bermudadreieck oder was?«
In der unaufhörlichen Armee von Bäumen um sie herum sah man keinen Unterschied, doch wenn man auf die Stromkabel achtete, entdeckte man die Stelle, wo Weaver das Lazenbury-Haus mit seiner Umgebung herausgeschnitten hatte. Die Kabel erschienen auf der Nordseite der Straße aus dem Nichts und führten zu den Isolatoren am nächsten Mast.
»Kannst du den Spuk beenden?« Gendreaus Stock klackte beim Gehen zweimal auf die Straße, und dann zeigte er mit der Spitze auf die seltsame Brechung. »Oder rückgängig machen?«
Sara holte ein Stück Kreide aus der Tasche und zeichnete eine zunehmend komplizierter werdende Serie von Zeichen und Symbolen auf den Asphalt: konzentrische Kreise, Worte in einer fließenden, unlesbaren Schrift, geometrische Formen und Linien, die sich kreuzten. Je mehr sie zeichnete, desto dunkler färbte sich ihr Gesicht vor Ärger, bis die Kreide zerbrach und Sara aus ihrer knienden Position aufsah. »Ich kann nicht mal die Ränder finden. Bis auf diesen Linseneffekt bei den Kabeln ist das Ganze praktisch nahtlos. Es ist, als wollte ich einen Notausgang von außen aufmachen, nur gibt es hier nicht mal eine Tür. Es ist eine kahle Wand, von der ich weiß, dass auf der anderen Seite eine Tür ist.«
Verzweifelte Befriedigung erfüllte Robin. »Sehen Sie, wie mächtig die sind?«, fragte sie und versuchte, nicht selbstgefällig zu wirken.
»Das war mir immer klar.« Gendreau verzog säuerlich beleidigt das aristokratische Gesicht. »So etwas sehe ich nicht zum ersten Mal, Miss Martine … Aber bisher nie so perfekt. Bei den anderen konnte man gewissermaßen die Finger unter die Illusion schieben und sie wie einen Stein anheben, um die Würmer darunter zu entdecken. Hier … Ich finde nicht den Punkt, wo die Illusion im Geflecht von Raum und Zeit anfängt und endet. Sie ist absolut bündig mit der Realität.«
Ein Vogel segelte über die Bäume, eine große schwarze Krähe. Als sie sich der Stelle näherte, wo das Kabel verschwand, erwartete Robin, dass sie im Nichts verschwinden würde, wenn sie die unsichtbare Grenze überquerte und möglicherweise kurz darauf wiederauftauchte, doch sie flog vorüber und flackerte nicht einmal.
Während sie dem Vogel hinterherstarrte, schoss ihr eine Idee durch den Kopf. Sie drehte sich zu Gendreau um. »Kann man etwas wegzaubern?«
»Davon habe ich noch nie gehört, aber ja, ich denke, es sollte möglich sein. Ich meine, man kann Dinge zaubern …«
»Warum können Sie es dann nicht wegzaubern? Es verschwinden lassen?«
»Das würde erklären, warum die Illusion so fein aufgelöst ist.« Gendreau betrachtete das Ende des Stromkabels und rieb sich die Mundwinkel. »Ja … ja, vielleicht hat sie das gemacht, und nicht … ja …« Er schob eine Hand in die Öffnung seines Anzugblazers, nachdem der Ochsenziemerstock auf dem Boden zur Ruhe gekommen war. »… Es ist gar keine Illusion, nicht? Weaver hat die Umgebung des Hauses weggezaubert. Sie hat eine Tasche aus dem Stoff der Realität genommen und den Schlitz zugenäht, sie sozusagen isoliert wie eine versteckte Tasche im Saum einer Jacke.« Er stand da und starrte in den Himmel, während sein Verstand auf Hochtouren lief. »Wir finden keine Lücke, weil es keine gibt.«
Sara verschränkte die Arme. »Ich habe ein Rätsel: Wie kommt man in ein Haus, das keine Tür hat?«
»Man macht sich eine«, schlug Wayne aus dem Suburban heraus vor.
Robins Kopfhaut kribbelte vor Aufregung. »Ja! Dein Ring!« Sie ging auf ihn zu, während er aus dem Wagen stieg, und drückte den Jungen mit ihrem einen Arm an die Brust. »Dein Ring! Mit dem können wir hineinkommen!«
Er grinste, zog die Kugelkette aus dem T-Shirt und brachte den Ring seiner Mutter Haruko zum Vorschein. Gendreau und Sara kamen dazu, und der dünne Magier beugte sich vor, bis sein Kopf auf einer Höhe mit Waynes war, und stemmte die Hände auf die Knie.
»Das ist er?«, fragte er. »Dieser Ring öffnet magische Türen?«
Aus dem Mund dieser Gestalt klang es unendlich albern, aber es gab keinen anderen Weg. Das Leben ist verrückter als jeder Roman, heißt es. Wayne erklärte, wie es funktionierte. »Und von der dunklen, unheimlichen Version meines Hauses führen Türen zu anderen Orten in der Stadt.«
»Wie bei einem zentralen Flur. Das einzige Problem ist: Im Düsterhaus ist der Dämon eingesperrt und wartet auf Beute, die sich in seinen Käfig verirrt. Und ich wette, er würde nicht nur Magie verschlingen.«
Einige Minuten später waren sie wieder in der Stadt. Als der Suburban über einen Hügel glitt, wurden sie vom Gedränge der Zivilisation begrüßt. Gendreau fuhr zu einem Sonic Drive-in, damit sie etwas zu trinken hatten, während sie ihren nächsten Zug planten. Robin bestellte eine Sprite, um ihren Magen zu beruhigen, lehnte sich zurück, nippte an der Limonade und entspannte sich, als die kühle Flüssigkeit durch die Brust in ihren Bauch rann und das feste Band der Unruhe um ihre Lunge löste.
Ihr Herz rumorte fieberhaft im Käfig ihrer Rippen, pochte bis in den Arm und in die Füße. Gendreau ließ den Suburban an, manövrierte aus der Parklücke beim Sonic und fädelte sich in den Verkehr ein. Sie wusste nicht, wohin er fuhr, er aber auch nicht; scheinbar ziellos fuhr er durch Blackfield und schindete Zeit.
»Sie bluten«, sagte Sara.
Robin schlug die Augen auf und untersuchte ihr T-Shirt. Von oben von der Schulter an der Seite hinunter zog sich ein feuchter roter Streifen, und als sie den Saum zurückzog, sah sie, dass er sich bis zur Jeans ausbreitete. Die Übelkeit kehrte zurück, wurde jedoch von der kühlen Limonade gemildert.
Vom Vordersitz schob sich eine Hand nach hinten und umklammerte einen Stapel Servietten: Lucas, dessen Augen sich weiterhin hinter dieser schwarzen Sonnenbrille verbargen.
Sie nahm die Servietten und drückte sie gegen die Operationsnarbe, tupfte das Blut ab und keuchte, als sich der Schmerz darunter entlud. Der Tentakelzopf zuckte heftig unter ihrem T-Shirt und zeichnete rote Kreise und Striche über ihren Bauch.
»Tut mir leid wegen der Sauerei, die ich in Ihrem Wagen veranstalte, Andy«, zischte sie Gendreau durch die Zähne zu.
»Ist nur gemietet«, erwiderte er ruhig, ohne sich umzudrehen.
Im Wagen breitete sich Stille aus. Robin zog ihr T-Shirt hoch und tupfte das Blut ab, das um das Ding in ihrer Schulter herum austrat. Es hatte jetzt den Durchmesser eines Gartenschlauchs, drückte die Klammern heraus, löste die Naht und dehnte die Wunde auseinander. Der Hautlappen innerhalb der u-förmigen Narbe lag jetzt wie eine verschrumpelte Epaulette über den Tentakeln. Inzwischen waren es fünf, die sich zu einem harten, aber flexiblen Strang verflochten. Es fühlte sich an wie warmes feuchtes Gummi.
Lucas’ Hand erschien abermals, diesmal mit einer Rolle Klebeband.
Robin nahm sie verwirrt entgegen. »Wofür ist das denn?«
Er reichte ihr noch mehr Servietten. »Kleben Sie die über die, äh …« Mit den Fingerspitzen zog er einen Kreis um seine Schulter wie bei Karate Kid.
Robin klemmte sich das T-Shirt unter das Kinn, damit es nicht im Weg hing, und saß grübelnd da, während sie überlegte, wie sie den Verband mit einer Hand anbringen sollte.
»Kommen Sie, ich helfe Ihnen«, sagte Sara und griff nach Klebeband und Servietten.
»Danke.«
Sara drückte die Servietten auf den Stumpf. »Hier, können Sie mal halten?«
Sie presste die Servietten auf die Stelle und sah die Frau an. Sara Amundson hatte die Ausstrahlung einer klassischen Hollywood-Sängerin, sie war vollbusig und hübsch, ihr rotes Haar wallte wie das von Aphrodite auf die Schultern. Offensichtlich hatte sie Robins Blick bemerkt, denn sie sagte trocken: »Schon gut. Ich habe schon Schlimmeres gesehen. Was halten Sie von unserem Angriffsplan?«, fragte sie, um ihre Patientin abzulenken.
Robin dachte kurz darüber nach und trank einen Schluck. »Wayne, wie bist du beim ersten Mal in das Düsterhaus gekommen? Gibt es eine spezielle Methode, um da von hier aus hinzugelangen? Du hast gesagt, du bist von deinem Krankenhauszimmer aus reingegangen.«
»Ja«, antwortete Wayne, den Mund voller Hamburger. Im Mundwinkel klebte ein Stück Salat. Er wischte es mit dem Handrücken weg. »Aber dorthin können wir nicht zurück, weil Marissa und die Sicherheitsleute vom Krankenhaus dich dortbehalten würden, oder?«
»Ja, dahin kann ich nicht zurück. Jedenfalls im Augenblick nicht.«
»Na ja, ich und dieser Joe-elle kamen durch ein Gemälde in Kenways Wohnung.« Er kaute und schluckte ein Stück Hamburger. »Vielleicht kommen wir auch auf dem gleichen Weg wieder hinein.«
Ein alter Mann, der von seinem klapprigen Sanford-and-Sons-Pick-up selbst geerntete Lebensmittel verkaufte, stand von seinem Gartenstuhl auf und schaute zu, wie sie vorbeifuhren. Seine Hände spannten sich zu steifen Krallen an, sein Gesicht verzog sich langsam zu einer wütenden Grimasse. Er blickte nicht durch seine eigenen Augen, sondern durch die leeren Murmeln einer Katze, in denen das Tapetum lucidum kaltes metallisches Licht reflektierte.
»Hi-ho Silver, away«, sang Gendreau und fuhr wieder nach Norden.
»Weiter geradeaus.« Kenway gab dem blonden Magier Richtungsanweisungen zu seinem Atelier im historischen Viertel. Er erschreckte Robin, als er ihr aufmunternd die Hand auf die gesunde Schulter legte. »An der Bojangles fahren Sie rechts auf die Broad Avenue. Meine Wohnung ist ein paar Blocks weiter. Auf dem Fenster steht ›Griffin’s Arts und Signs‹ mit einem großen roten Greif.«
Robin errötete, drehte den Kopf nach hinten und lächelte ihn an. Er zog die Hand nicht sofort zurück. Sein Blick schweifte von einem Auge zum anderen und zur Nase und zum Mund.
Du machst mir Hoffnung, dass ich diese Sache überlebe, dachte sie.
Das Fahrzeug der Magier näherte sich der vierspurigen Kreuzung von Broad und Main, und Gendreau zog auf die rechte Spur. Der Blinker tickte wie ein Metronom. Wie Gasflammen brannten seine Augen im Rückspiegel.
Eine dröhnende Hupe erschütterte den Suburban.
Grelle Scheinwerfer verwandelten das Innere des Fahrzeugs in einen blendenden Leuchtkasten. Robin fuhr herum und sah sich Auge in Auge mit der Front eines Müllwagens. Die Fahrertür ging auf, und ein Mann lehnte sich heraus. Jedenfalls hielt sie ihn für einen Mann: Er war so kahl wie eine Billardkugel, und seine Haut leuchtete in einem quaddeligen Wutrot.
Im welken Mund glänzten Zähne. Die Ohren waren schwarze Löcher, die wirr starrenden Augen lagen tief in ihren knorrigen Höhlen.
Für Robin sah er aus wie der Engel der Pestilenz.