3

Die Parkins hatten nichts fürs Frühstück da, aber Leon musste sowieso die Steaks einkaufen, daher ließ er die Kinder bei Kenway und Robin.

»Ich fahre mit, wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte Joel, als der ältere Parkin zur Tür ging. »Vielleicht können Sie mich bei mir zu Hause absetzen? Nach dieser Begegnung mit Granny Clampett da draußen habe ich für heute erst mal die Nase voll von Hexen. Ich habe heute bei Miguel’s frei, also werde ich nachmittags eine Runde schlafen, danach lange duschen, mich ordentlich besaufen und Netflix gucken.«

»Das versteh ich.« Robin nahm ihn in die Arme. »Alles Gute, Bruder.«

Er erwiderte die Umarmung. »Dir auch, Schwester. Viel Glück mit deinem Ding. Lass dich nicht von ihm erwischen. Ich möchte deinen zarten Arsch morgen in einem Stück wiedersehen.«

Zur Überraschung der Jungen war der Veteran Kenway ein ziemlich guter Gamer, und sie hingen mit ihm vor Waynes Playstation. Heinrich, saß den größten Teil des Morgens auf der Hintertreppe, rauchte seine Zigarillos und starrte in den Wald. Wayne mochte den Alten irgendwie – er war unnahbar und unheimlich, aber auf eine coole, selbstbewusste Art, als wäre es eine Fassade, die er über Jahre hinweg entwickelt hatte.

»Ihr erzählt uns doch, wie es gelaufen ist?«, fragte Amanda, als sich die Kids auf den Heimweg nach Chevalier Village machten. Sie standen auf der vorderen Veranda des viktorianischen Hauses. Es war kühl geworden; der wolkenverhangene Himmel präsentierte ein leeres, formloses Weiß wie ein unbeschriebenes Blatt. »Das Abendessen mit den Hexen? Und lasst nichts aus, egal wie krass.«

»Warum kommt ihr nicht mit?«, bot Wayne an.

Sowohl Pete als auch Amanda erbleichten sichtlich allein bei dem Gedanken.

»Wie, habt ihr etwa Angst?«

»Verdammt, ja«, sagte Pete.

»Die sind voll gruselig.« Amanda verschränkte die Arme und sah zu Pete hinüber, als ob sie auf Zustimmung hoffte. »Ich glaube, du verstehst nicht ganz, Wayne. Wir wohnen schon unser ganzes Leben in der Nachbarschaft dieser Frauen. Unsere Eltern – also, keine Ahnung, ob die Angst vor denen haben, aber … in Chevalier Village geht nach Einbruch der Dunkelheit niemand mehr nach draußen, wenn es nicht gerade ein Notfall ist, ja? Die Frauen sprechen nicht mit uns; wir sprechen nicht mit ihnen.« Ihr Blick suchte die Hazienda oben auf dem Hügel. »Heute Morgen habe ich zum ersten Mal Karen Weavers Stimme gehört.«

»Die sind wohl so was wie euer Dracula, was?«, fragte Wayne.

Pete legte den Kopf schief. »Was meinst du damit?«

»Der geheimnisvolle Graf Dracula, der auf einem Berg oberhalb des Ortes wohnt. Niemand wagt sich hinauf, und das Dorf warnt jeden, der herumschnüffelt. Chevalier kommt mir fast vor wie eine Art Mini-Transsylvanien, oder? Ihr fürchtet euch vor denen wie vor Vampiren.«

Amanda nickte, sagte aber nichts.

»Scharfsinnig beobachtet«, meinte Robin und erschreckte Wayne. Sie saß auf der Schaukelbank am Ende der Veranda.

»Wir sollten jetzt lieber gehen, denke ich«, sagte Amanda und hüpfte die Vordertreppe hinunter. Auf dem Rasen drehte sie sich noch einmal zu ihm um. »Sei vorsichtig. Wenn die echt Hexen sind, sind sie gefährlich. Pass gut auf deinen Dad auf, okay?«

»Ich geb mir Mühe. Ich glaube, die werden nichts machen. Wir wollen doch bloß Steaks essen. Es gibt nur Abendessen bei denen. Die können doch nicht gegen die Gastfreundschaft verstoßen.«

»Das wahre Leben ist nicht wie Game of Thrones.«

Wayne schluckte nervös, setzte sich auf die Treppe und schaute seinen neuen Freunden hinterher, die zum Wohnwagenpark trotteten.

Die Frau, die sich Malus Domestica nannte, gesellte sich zu ihm. Sie hielt eine kleine Kamera in der Hand, über der Schulter trug sie ihre Messengertasche. Robin stellte die Kamera auf den Treppenpfosten am Ende des Geländers und richtete sie auf ihn. Das rote Licht verriet, dass sie aufzeichnete.

»Also, du hast einen YouTube-Kanal?«, fragte er sie.

»Genau. Da kann man sich meine gesamte Ermittlungsarbeit und alle Einsätze anschauen. Jeden meiner bisherigen Kämpfe. Also, fast jeden. Ein paar Mal bin ich in einen Hinterhalt geraten.« Sie setzte sich zu ihm und stützte die Ellbogen auf die Knie. »Du und dein Dad, ihr solltet euch mal ein paar davon anschauen. Damit – keine Ahnung, vielleicht hilft es, damit ihr mir vertraut.«

»Ich denke, nachdem wir ihm das Monster in der Tür gezeigt haben, glaubt er daran«, erwiderte Wayne.

Robins Augen funkelten selbst im trüben Licht des wolkigen Tages. Sie war ungemein hübsch, dachte er, hatte feine Gesichtszüge und helle Haut, aber ihre Augen waren alt. Oder vielleicht müde. In ihnen lauerte eine scharfe Intelligenz, die Nervosität auslöste wie bei einem Krokodil.

Er seufzte. »Ich weiß jedenfalls, dass ich daran glaube.«

»Ich habe einen Plan«, verriet sie ihm.

»Einen Plan wofür?«

»Ich möchte deinen Ring benutzen, um in ihr Haus zu gelangen, ohne durch die Vordertür gehen zu müssen. Damit ich sie überraschen kann.«

»Und warum?«

»Irgendwo in dem Haus gibt es noch eine vierte Hexe«, sagte sie und sah hinauf zum Lazenbury-Anwesen. »Ich bin ziemlich sicher, dass sie auf dem Dachboden wohnt. Sie ist viel älter als die anderen drei. Diese vierte Hexe verstärkt die Kräfte des Zirkels. Hexen können sich zusammenschließen und ihre Kräfte untereinander teilen – das ist im Grunde der Zweck eines Hexenzirkels.«

Sie kramte in ihrer Messengertasche und holte einen wunderschönen Silberdolch hervor. »Der ist aus reinem Silber. Das ganze Teil, von der Spitze bis zum Knauf. Damit werde ich sie töten.«

»Ich dachte, Silber sei für Werwölfe.«

»Dieses Silber …« Sie drehte das Stilett so, dass sich der weiße Himmel darin spiegelte und die symmetrische Klinge wie Elfenbein schimmerte. »Um eine Comic-Analogie zu benutzen: Es ist spirituelles Adamantium. Hexen können es nicht verändern und sich nicht dagegen verteidigen. Die Klinge reagiert nicht auf Magie. Energieneutral. Wenn man genug von diesen Dolchen hätte, könnte man einen ganzen Hexenzirkel auf den Boden pinnen. und sie könnten nichts dagegen unternehmen. Nur daliegen und dich verfluchen.«

»Echt?« Er nahm den Dolch aus ihrer Hand und schaute ihn sich an. »Hast du genug?«

»Heinrich sagt, auf der ganzen Welt gibt es nur zwei weitere, aber ich habe bislang nur diesen gesehen.«

»Kann man noch mehr herstellen?«

»Laut Heinrich wurden beim Schmieden die Nägel benutzt, mit denen die Römer Jesus Christus in Golgatha gekreuzigt haben. Ein Nagel bildet den Kern der Klinge. Ob das jetzt totaler Bullshit ist oder nicht, keine Ahnung. Heinrich redet eine Menge Zeug daher. Die Hälfte der Zeit hat er nur Mist im Kopf – genauso gut könnten sie auch Elvis Presleys Zahnfüllungen benutzt haben. Doch der Dolch funktioniert, so viel kann ich dir sagen. Er hat mir geholfen, eine Menge Hexen umzubringen.«

»Wie machst du das, stichst du ihnen ins Herz?«

»Hexen haben kein Herz, in das man stechen könnte.« Robin erklärte das Ritual des Opfers an Ereshkigal, wie sie der Göttin des Todes ihr Herz hingaben, um direkt an ihrer Macht teilzuhaben. »Du nagelst sie irgendwo damit fest und setzt sie dann in Brand, während sie sich nicht bewegen kann. Mit Waffen kann man sie schwächen, aber nur mit Feuer kann man sie aufhalten. Eigentlich kann man sie nicht töten, nur vernichten. Und wenn ich zu der vierten Hexe gelangen und sie damit festpinnen kann, kann ich sie auch verbrennen. Wenn sie aus dem Spiel ist, sind die anderen drei deutlich leichter zu bewältigen. Wenn ich es richtig anstelle, kann ich sie hoffentlich eine nach der anderen ausschalten.«

Leon brachte Mittagessen aus der Stadt mit, und die beiden Hexenjäger unterhielten sich am Küchentisch mit den anderen, während sie Fastfood von Taco Bell aßen. Die GoPro lag auf dem Tisch und starrte ausgeschaltet an die Decke. Leon hatte sich ins Wohnzimmer gesetzt, bereitete den Unterricht für die nächste Woche vor und korrigierte einen unangekündigten Test vom letzten Freitag. Wegen Waynes Aufenthalt im Krankenhaus war er noch nicht dazu gekommen. »Hexen und Monster lassen die Arbeit leider nicht verschwinden«, sagte er und stürzte sich auf seine Aufgaben.

Doch das war nicht das Einzige, was seinen Dad beschäftigte, so viel war Wayne klar. Leon wollte offensichtlich nicht darüber reden. Wayne überließ ihn erst einmal sich selbst, setzte sich in die Küche, knabberte an einem Burrito und lauschte der Unterhaltung der Hexenjäger.

Auf dem Tisch stapelten sich Dutzende von alten Büchern, zerfledderte Packen vergilbter Seiten. Auf den Buchdeckeln bargen lateinische Buchstaben und geometrische Formen in verblasstem Gold ihre Geheimnisse. Die englischen Bände hatten teils protzige, teils langweilige Titel, Chronologie der kabbalistischen Philosophie, Grundlegende Klassifizierung von Dämonen, Unsichtbare Wissenschaft, Beschwörung im Abendland. Er hätte sie ohne Probleme mit Lehrbüchern aus dem College verwechseln können. Die Titel klangen ganz ähnlich wie die Bücher im Zimmer seines Dads.

Robin schilderte Heinrich ihren Plan, mithilfe von Waynes Ring in das oberste Stockwerk des Lazenbury-Hauses zur vierten Hexe zu gelangen, ohne dass Cutty sie bemerken würde.

»Gefährlich«, sagte er. »Dieser Dämon wartet nur darauf, dass wir ihm uns wieder zeigen.«

»Was hältst du überhaupt von dem Ring? Hast du so etwas schon einmal gesehen?«, fragte Robin. »Ich habe von Reliquien mit symbolischer Bedeutung und heiligen Eigenschaften gehört – zum Beispiel das Turiner Grabtuch, die Lanze von Longinus, der heilige Mantel des Propheten, der Osdathregar. Und ich weiß, dass man die Eigenschaften von Hexenmagie manipulieren kann, wenn man Runen und andere Zeichen wie das Algiz auf sich selbst, auf sein Auto oder sein Haus zeichnet. Aber hier habe ich zum ersten Mal ein zeitgenössisches Objekt außer dem Osdathregar gesehen, das nur für einen bestimmten Zweck geschaffen wurde.«

»Ich hätte da schon eine Idee«, sagte Heinrich. Er nahm eins der Bücher, Beschwörung im Abendland, und blätterte es durch.

»Und?«

Heinrich blickte sie an. Er klappte das staubige Buch zu, sah Wayne an und sagte: »Ich wollte niemanden beunruhigen oder den Jungen hier in einen tiefen, dunklen Kaninchenbau führen. Aber es gab mal einen ähnlichen Vorfall. Die Organisation, in der ich früher tätig war, produziert, sammelt und verwendet Reliquien wie den Osdathregar und Waynes Ring, und die Leute, die diese Sammlung führen, nennen sich Wächter. Sie sind eine Art esoterische Zeugmeister.«

»Willst du sagen, der Ring wurde von einem dieser Wächter hergestellt?«

Die Haare auf Waynes Armen stellten sich bei dem Gedanken auf, dass Haruko, seine Mutter, möglicherweise mit diesen Leuten und ihrem geheimen Krieg gegen Hexen und Dämonen zu tun gehabt hatte.

»Ich sage lediglich, dass es jahrelange Ausbildung, Meditation, Einstimmung und Forschung erfordert, wenn man Wächter werden will. Einige Wächter werden jedoch wegen ihres natürlichen Talents für den Umgang mit und die Herstellung von Relikten ausgewählt. Wer diesen Ring erschaffen hat, könnte eine solche latente Fähigkeit besessen haben, Gegenstände zu fertigen, die in der der Lage sind, paranormale Energien zu beeinflussen. Und angesichts der Kräfte dieser Eheringe dürfte der- oder diejenige einen außergewöhnlichen Wächter abgegeben haben.«

»Mir dämmert langsam, dass du mit irgendetwas nicht rausrücken willst«, sagte Robin. Sie zog einen schweren Hoodie über und hing zusammengesunken in ihrem Stuhl, eine Hand in der Tasche, in der anderen Hand einen Burrito.

»Das ist eine lange Geschichte, und wir haben eine lange Reise zurück nach Texas vor uns.« Heinrich nahm ein anderes Buch und schlug es in der Mitte auf. »Im Augenblick ist es nicht so wichtig. Du musst dich viel mehr darauf konzentrieren, wie du in das Haus gelangst und diesen Hexenzirkel auslöschst, und anschließend musst du dich um dieses grünäugige Monster kümmern. Über die Vergangenheit können wir uns Gedanken machen, wenn wir mit der Gegenwart fertig sind.«

»Nein, ich denke, ich möchte es jetzt wissen.« Es war der einzige weiße Fleck in Robins Bild von Heinrich Hammer, dem abtrünnigen Hexenjäger und Dieb esoterischer Gegenstände – die dem Kult gehörten, aus dem er vor fast zwanzig Jahren geflohen war. Er hatte ihr nie etwas darüber erzählt, nur dass es eine üble Geschichte gewesen war.

»Sie waren unglaublich gefährlich«, sagte Heinrich, sichtlich aufgewühlt. »Ich habe dir schon hundertmal gesagt, dass ich denen nur um Haaresbreite entkommen bin. Du solltest dich davor hüten, ihnen über den Weg zu laufen, und je weniger du weißt, desto besser. Ich habe mir ein Bein ausgerissen, damit du in den vergangenen Jahren nicht bei ihnen auf dem Radar erschienen bist – wenn ich dir jetzt Einzelheiten verrate, wirst du ohne Frage losziehen und nach ihnen suchen, denn das wäre typisch für dich, und von denen hast du nur Ärger zu erwarten.«

»Früher vielleicht.« Robin schrie beinahe und gestikulierte wild. »Aber jetzt geht es um solche Dinge wie Waynes Ring, den seine Mom gemacht hat, die vielleicht bei diesem Kult so eine Art Wächter gewesen sein könnte, und du willst mir weiterhin weismachen, dass es nicht wichtig ist?«

»Ja!«

»Verdammt! Wie wär’s, wenn ich dir so lange in die Eier trete, bis du zu plaudern anfängst?«

Heinrich lachte, was ihm unter dem Tisch einen Stiefeltritt ans Schienbein einbrachte. »Aua!«

»Hey, achtet bitte mal ein bisschen auf eure Ausdrucksweise«, rief Leon aus dem anderen Zimmer.

»Pass auf«, sagte Heinrich, »wir kümmern uns später um Wächter und Ringe. Im Augenblick wissen wir, dass der Ring wie gewünscht funktioniert, und wir wissen, dass wir es mit einem gefährlichen Hexenzirkel zu tun haben. Wie und warum der Ring gemacht wurde, ist nicht von Belang. Hör zu, ich erzähle dir die Geschichte über diesen Kult auf dem Weg nach Hause. Und wenn wir zurück in Texas bei unseren Büchern sind, schauen wir uns an, was es mit diesem seltsamen Ring auf sich hat.«

Robin schlug eins der Bücher auf dem Tisch auf und tippte mit dem Finger auf ein groteskes Bild oben auf der Seite. »Ich habe über den Dämon recherchiert«, sagte Robin. »Okay, Wayne nennt ihn Eulenkopf.«

Er spähte über ihre Schulter auf das Bild. Auf der linken Seite befand sich die detaillierte, wenn auch primitive Zeichnung eines Mannes mit Vogelkopf und riesigen starren Augen. Mit der rechten Hand umklammerte er ein Breitschwert, die linke reckte er in die Höhe, als wollte er jemandes Aufmerksamkeit erregen. Es hatte nicht sehr viel Ähnlichkeit mit dem Ding im Düsterhaus, aber Wayne war schon klar, wie man auf diese Zeichnung kommen konnte.

»Dieser Kerl kommt dem, was wir gesehen haben, am nächsten«, sagte sie und hielt das Buch in die Höhe, damit alle das Bild sehen konnten. »Er ist ein mordender Geist, er erzeugt pures Chaos.«

»Ein Kakodämon«, sagte Heinrich.

Auf der rechten Seite stand eine lange Textpassage. »Der dreiundsechzigste Geist ist Andras«, sagte sie und las weiter vor: »Er ist ein Großfürst und Marquis der Hölle und erscheint in Gestalt eines Engels mit dem Kopf eines Waldkauzes, reitet auf einem starken schwarzen Wolf und schwingt ein scharfes glänzendes Schwert.«

»Wenn das der Körper eines Engels war«, meinte Wayne dazu angewidert, »sind Engel schrecklich behaart.«

»Seine Aufgabe ist es, Zwietracht zu säen. Wenn der Exorzist das nicht beachtet, wird der Dämon sowohl ihn als auch seine Helfer töten. Er befiehlt über dreißig Legionen von Geistern. Aus der Ars Goetia. Und dies ist sein Siegel«, fügte Robin hinzu, hielt das Buch in die Höhe und zeigte ihnen ein verschlungenes Pentagramm voll verwinkelter Schnörkel.

»Was ist die Ars Goetia?«, fragte Wayne.

»Es ist ein Teil eines Buches mit dem Titel Schlüsselchen Salomons. Im Grunde ist es eine Enzyklopädie der Dämonen. Nicht das Original allerdings. Dies hier ist vier Abschriften vom Original entfernt.«

»Und Eulenkopf heißt eigentlich Andras?«

»Keine Ahnung«, antwortete Robin. »Vielleicht.«

Sie starrte bedeutungsvoll in die Ecke der Küche, neben der sich die Tür befand. Heinrich drehte sich um und sah hinüber, und Wayne spürte einen Adrenalinstoß. »Ist er da?«, fragte der Junge kaum im Flüsterton. »Kannst du ihn sehen?«

»Nein, aber ich spüre ihn. Weißt du noch, als wir im Badezimmer waren? Ich konnte ihn im Haus fühlen. Wie Hitze, die von einem Ofen abstrahlt.«

»Ich habe eine Theorie«, sagte Heinrich. Während der letzten Minuten hatte er ein Stück Papier gefaltet, das nun die Form eines Hundes angenommen hatte.

»Lass hören.«

»Es erklärt, warum Cutty einen Vertrauten benutzt hat, um deine Mutter zu ermorden, und warum sie dich nicht präventiv attackiert haben.« Wie um seine Meinung zu betonen, schnippte er den Papierhund in den Raum. Er landete im Waschbecken und fiel in den Abfluss. »Die haben Angst vor dem Dämon.«

»Weaver ist trotzdem ins Haus gekommen. Sie hatte keine Angst vor ihm. Und ich habe ihn gefühlt, wie er sie gemustert hat wie ein billiges Stück Fleisch.«

Er hob einen Arm und ballte die Faust. »Dämonen ernähren sich von ihrer Energie. Sie sind psychische Vampire. So wie ein Poltergeist emotionale Energie aufsaugt, verschlingen Dämonen paranormale Energie.«

»Sie verschlingen die Hexe nicht körperlich?«

»Nicht dass ich wüsste. Ich müsste mir natürlich erst mal anschauen, was Andras machen würde, wenn er und die Hexen den gleichen physischen Raum teilen, aber solange sie ihre Magie nicht im Haus anwendet, kann er sie von dort, wo er sich aufhält, nicht erreichen. Was ich übrigens die Traumlande nenne. Nach den Büchern des alten H. P. Lovecraft.« Heinrich nahm eins der Bücher und betrachtete den Einband. »Jedenfalls sorgt der Dämon für unsere Sicherheit. Ich glaube, Andras kann uns auf dieser Seite nicht sehen – er kann dich nur aufspüren, wenn du Spektralenergie ausstrahlst. Weaver hat sie nicht benutzt, deshalb konnte er sie nicht sehen. Wenn eine von den Hohlköpfen dort oben versuchen würde, ihre Kräfte im Haus einzusetzen, würde sich Andras in ihren Herzweg drängen. Und das ist ihnen bewusst.«

»Wenn wir Andras nur dort herausholen könnten«, sagte Kenway kauend mit vollem Mund. »Vielleicht könnten wir ihn in deren Haus führen, damit er sie sich mal richtig vorknöpft. Ihn auf sie hetzen wie einen Hund.«

Robin grinste feist. »Du willst einen ›Marquis der Hölle‹ in der materiellen Welt freisetzen?«

Er zögerte. »Na ja, so betrachtet klingt es vielleicht doch nicht wie eine gute Idee. Vielleicht könnten wir die Hexen in eine von Waynes Türen locken?«

Robin sah Heinrich von der Seite an. »Der Gedanke ist nicht schlecht.«

»Vielleicht.« Seine Augen wirkten abwesend.

»Was ist ein Herzweg?«, fragte Wayne. »Ihr sprecht dauernd darüber, und ich weiß nicht, was es ist.«

»Dadurch bekommen die Hexen ihre Kräfte, Kleiner.« Heinrich griff sich an die Brust, als hätte er einen Herzinfarkt. »Wenn sie Hexen werden, unterziehen sie sich einem Ritual, bei dem sie ihr Herz opfern, Kali-Ma!, und zwar der Göttin des Todes, Ereshkigal. Dafür stellt sie eine direkte Verbindung zu ihrer Macht her.«

»Und was hat sie davon? Wozu ist das gut?«

»Die Frage ist berechtigt«, meinte Robin. »Diese Sache mit den Herzen habe ich noch nie geglaubt. Als hätte sie eine große Truhe mit Herzen irgendwo im Fegefeuer stehen oder so.«

Heinrich knüllte das Papier von einem Taco zu einer Kugel. »Je mehr Macht Ereshkigal in der realen Welt ausüben kann, desto leichter wird es für sie, sich hier zu manifestieren. Sie ebnet den Boden dafür, in die physische Ebene zurückzukehren. Je ausgedehnter ihr Netzwerk hier ist, desto stärker wird sie sein, wenn sie einen Weg zurückfindet. Und auf ihre Rückkehr seid ihr sicherlich nicht scharf – all diese Hexen mit ihren Begabungen? Illusion, Heilen, Telekinese, Transformation, Wahrsagen, Körperwechsel, Elementarmanipulation … Das alles sind nur Versatzstücke, Splitter der Macht Ereshkigals. Sie wäre eine Kombination aller Hexen in einem Wesen. Die Megahexe. Eine echte Göttin.«

Er warf die Papierkugel in den Mülleimer. »Und das möchten wir uns doch gern ersparen.«