Nachdem sich Gendreau verabschiedet hatte, zog sich Robin eine Jogginghose an und ging in die Cafeteria, weil sie etwas trinken musste, und sie hätte sich gewünscht, das Krankenhaus würde Whiskey anbieten. An einem Tisch im hinteren Bereich saß Joel Ellis. Er war komplett angezogen, Jeans und Pullover, obwohl seine Haut überall mit kleinen Schnitten und Kratzern bedeckt war. Das Durag auf dem Kopf passte zu seinem Unterhemd.
»Hey, Mann«, sagte sie und setzte sich zu ihm an den Tisch.
»Was machst du hier …«, setzte er an und fuhr dann schockiert hoch. »Was zum Teufel ist mit deinem Arm passiert?«
Robin sah auf den Verband. »Ach das?«
»Ja, das, Mädchen. Dein besch… Arm ist weg.« Er stand auf und rückte näher an ihre linke Seite.
Wieder rieb sie den Baumwollstoff. Wenn der Arm noch da wäre, könnte ich das verdammte Ding wenigstens kratzen. »Scheint ja, als hätten wir beide eine Geschichte zu erzählen.« Sie trank einen Schluck Soda, um ihre Kehle anzufeuchten. »Vielleicht sollte ich anfangen, du bist ja völlig aus dem Häuschen wegen meines Arms.« Sie erzählte ihm, wie sie zurück ins Düsterhaus gegangen und die Vision des Dämons empfangen habe, dann von der verdammten Dinnerparty und dem Riesenschwein, das ihr den Arm abgebissen hatte.
»Heilige Mutter Maria«, sagte Joel. »Du bist die Tochter dieses Dings?« Er zog einen Frühstücksbeutel mit Aufkleber hervor, in dem gelbe Pillen waren, und spülte eine davon mit seinem Getränk hinunter. »Tut mir leid.« Er rülpste. »Ich bin noch nicht breit genug für solchen Scheiß.« Diese Erklärung leitete über zu seiner eigenen Geschichte, wie er in seinem Haus von Bowker überrascht wurde, über den Schuss ins Bein und den Unfall des LKWs, das Katzenfeuer, Fishers Hinrichtung und die Queen-Attacke am Sulfitteich im Steinbruch.
Verdammt, dachte sie. Ein Haufen toter Katzen.
Die Hexen planen eine Belagerung.
»Mein Beileid wegen deines Bruders.« Robin drückte mit ihrer verbliebenen Hand Joels.
Sein Blick sank auf die beiden Hände, und er starrte auf die Knöchel. Nachdem er sich einen Augenblick Zeit genommen hatte, um die Fassung wiederzuerlangen, konnte er weitersprechen, ohne zu schluchzen, und nun erzählte er ihr vom gestrigen Tag. »Die Cops vom Bezirk sind vorbeigekommen und haben mit uns geredet, nachdem wir den Krankenschwestern erklärt haben, wie wir verwundet wurden … Ich schätze, das Krankenhaus hat es gemeldet. Ich bin mit zwei Beamten raus in die Pilz-Minen gefahren, habe ihnen den Katzen-LKW und Bowkers Leiche gezeigt und ihnen erzählt, was im Steinbruch passiert ist. Natürlich habe ich es so dargestellt, dass es Notwehr war, und ihnen die Sache mit Fish berichtet. Sie ermitteln jetzt, nehme ich an. Wir werden nicht angeklagt – noch nicht jedenfalls – , aber wir dürfen die Stadt nicht verlassen, bis die Sache aufgeklärt ist. Sie haben gesagt, sie wollen den Teich absuchen, aber angesichts der ganzen Säure halte ich das für unmöglich.
Immerhin scheint es, als wären Bowker und Euchiss die einzigen beiden Cops gewesen, die die Hand aufgehalten haben. Von den anderen wusste niemand darüber Bescheid. Oder zumindest hat niemand etwas zugegeben.« Joel zog die Hand zurück und betrachtete sie grimmig. »Allerdings haben sie mir nicht geglaubt, als ich ihnen gesagt habe, wer hinter der ganzen Sache steckt. Aber natürlich könnten die alle mit von der Partie sein, und sie schieben den zwei Clowns jetzt den Schwarzen Peter zu und waschen selbst ihre Hände in Unschuld.« Joels Miene verfinsterte sich. »Vielleicht kommen sie und reden auch mit dir.«
»Das ist okay.« Sie nahm den Deckel von ihrem Styroporbecher und zerkaute das Eis. »Und die haben behauptet, sie hätten seit Jahren verwilderte Katzen in diesem Entwässerungsteich versenkt?«
»Euchiss meinte, es müssten zwei- bis dreitausend gewesen sein.«
Robin schaute sich um – Krankenschwestern, Ärzte, Patienten. Sie fragte sich, wie viele von ihnen insgeheim eine Katze in sich trugen. Gott, das klingt komplett verrückt, dachte sie. Nicht zum ersten Mal ging ihr der Gedanke durch den Kopf, dass die Sache genauso irrsinnig klang wie die Geschichten von Mike/Mark in der Psychiatrie von Medina. Zehntausend Schilling in einem Kartoffelsack. »Sie haben die Einwohner der ganzen Stadt zu hexischen Wesen gemacht. Bei der Zahl von toten Katzen dürften sie sich ein Drittel der Bevölkerung von Blackfield gekrallt haben.«
Ein Mann in weißem Laborkittel stand in der Schlange für die Hamburger und starrte sie an. Selbst von hier sah sie seine bernsteinfarbenen Augen und die vertikalen Schlitze seiner Pupillen.
Vielleicht doch nicht so verrückt.
»Meine Mom hat mir und meinem Bruder die eingebrannt, als wir klein waren.« Joel zeigte Robin das Algiz. »Das hat mich und Fish vermutlich davor bewahrt, hexische Wesen zu werden.« Er setzte einen Ellbogen auf den Tisch und stützte sein Kinn mit einer Hand. Joel wirkte erschöpft. »Was ist denn eigentlich mit Fishs Katze passiert?«
»Das muss Cutty gewesen sein.« Robin stibitzte eine Pommes von ihm. »Sie ist in die Katze gefahren und hat versucht, einen von euch mit ihrem Kamikaze zum hexischen Wesen zu machen. Das habe ich schon einmal gesehen. Aber es hat wegen des Algiz nicht funktioniert. Aber wenn sie nicht in dich und nicht in deinen Bruder gelangt ist, wohin dann? Wer war noch in der Nähe?«
»Dein lieber Kenway.«
»Kenway?«, fragte sie und riss die Augen auf. »Echt? Er hat kein Wort zu mir gesagt.«
»Ich glaube, er hat es nicht so mitbekommen. Vermutlich hat er es verdrängt oder so.«
»Da seid ihr ja«, sagte der große Veteran wie aufs Stichwort und setzte sich. Wayne Parkin war bei ihm und trug eine Schultasche. Der Junge starrte auf den Tisch und verspeiste einen Müsliriegel mit kleinen niedergeschlagenen Bissen.
»Wenn man vom Teufel spricht.« Robin streckte den Arm aus und drückte Waynes Schulter. »Keine Sorge, Alter«, sagte sie zu ihm und blickte ihm in die Augen. »Wir werden deinen Dad retten, auf alle Fälle.« Sie wandte sich an den ganzen Tisch. »Heute Nacht. Ich gehe da hoch und beende die Geschichte. Heute Nacht.«
Kenway runzelte die Stirn. »Bist du sicher, dass du dazu schon wieder in der Lage bist?«
Alle sahen sie an. Ein Gefühl jämmerlicher Wut befiel sie, wurde aber von beklommener Verantwortung vertrieben. Es überraschte sie, dass sie sich fast darüber freute, eine Bestimmung und eine Aufgabe zu haben. Das hätte eigentlich nicht sein sollen. Sie war daran gewöhnt, für ihre YouTube-Abonnenten in den Einsatz zu gehen.
Aber hier lag der Fall anders. Diese Leute waren real, körperlich anwesend, nahe genug, um sie zu berühren, und diesmal stand tatsächlich etwas auf dem Spiel. Robin holte tief Luft und seufzte, als sie die Bürde spürte.
»Ich komme mit.« Joel schlug auf den Tisch, als wollte er ein Pokerblatt hinlegen. In seinen Augen stand kalte Entschlossenheit, eine stählerne Härte, die Robin ihm gar nicht zugetraut hätte. Sie war stolz auf ihn. »Die haben meinen Bruder auf dem Gewissen. Ich könnte nicht mehr in den Spiegel schauen, wenn ich ihnen das einfach ungestraft durchgehen lasse.«
»Ich komme sowieso mit, wie du weißt.« Kenway verschränkte die Arme und setzte die Ellbogen auf den Tisch. »Da ich jetzt als Kameramann dein Partner bin und so.«
Die Kugel rollte. Robin sah die beiden voller Respekt und Sorge an und hoffte, sie würde alle lebend durchbringen. »Ich bin daran gewöhnt, allein zu arbeiten«, sagte sie wie Batman. »Ich kann euch nicht alle beschützen.«
Mist, ich kann gar nicht glauben, dass ich vergessen habe, Kenway eine Rune aufzumalen.
»Wo wir von Schutz reden, ich habe es vermasselt«, sagte sie, schnappte sich Waynes Rucksack und holte einen schwarzen Filzstift heraus. Sie zog Kenways Hemd hoch und zeichnete eine Algiz-Rune auf seine Brust. »Bei dem ganzen Durcheinander habe ich ganz vergessen, dir in der Underwood Road eine Rune aufzumalen. Die Sache mit der Katze geht allein auf meine Kappe.«
»Wir können selbst auf uns aufpassen – das dürften wir doch inzwischen unter Beweis gestellt haben.« Joel lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »Ich habe keine Angst, einem bescheuerten Dämon mit meinem Telefon eins auf die Nase zu geben. Klingel-lingeling.«
»Vielleicht«, sagte Robin, zeichnete ein weiteres Algiz und schließlich für alle Fälle noch jeweils eins auf Waynes Hände. »Aber die hier helfen.«
»Du hast gesagt, du hättest am Wochenende deine Antipsychotika abgesetzt«, sagte Kenway, als sie wieder im Krankenzimmer waren. »Wie lange hast du das Zeug genommen? Und was genau noch mal?«
»Aripiprazol.« Robin stieg ins Bett und setzte sich auf die Decke. Der Fernseher lief, und zwar immer noch ein Horrorfilm, diesmal Psycho. Anthony Perkins’ schwarz-weißes Gesicht füllte den Bildschirm aus, während sie redeten.
»Was bewirkt das?«
Wayne saß im Stuhl neben dem Bett und wühlte in seiner Schultasche, die ziemlich voll aussah. Die Kinder haben heutzutage eine Menge Hausaufgaben, dachte Robin und beobachtete ihn. Er wirkte niedergeschlagen und starrte ständig stirnrunzelnd auf den Boden. Unwillkürlich hatte sie Mitleid mit ihm. Er kommt nicht drüber weg, dass sein Vater nicht hier ist. Mann, ich muss die Sache durchziehen, allein für den Jungen.
»Ähm …« Nachdenklich rieb sie sich das Gesicht. »Das ist ein Dopaminagonist.«
Kenway zuckte hilflos mit den Schultern. »Äh, kannst du das auch für Normalsterbliche ausdrücken?«
»Okay: Dopamin ist der Belohnungs-Botenstoff. Dein Körper schüttet ihn aus, wenn du angenehme Dinge machst, Kokain nimmst, Sex hast, wenn du eine Gänsehaut bei klassischer Musik bekommst. Ein Agonist steigert die Aufnahmebereitschaft. Das Medikament wird bei niedrigem Dopaminwert eingesetzt.«
»Du weißt aber gut über diesen Kram Bescheid«, sagte Kenway.
Robin zuckte mit den Schultern. »Wenn du das Zeug ein paar Jahre regelmäßig genommen hast, kennst du dich irgendwann zwangsläufig aus.«
Er schritt zwischen Bett und Fernseher hin und her. »Da wir jetzt herausgefunden haben, dass du gar nicht unter Schizophrenie leidest – die Stimmen und die Halluzinationen waren das Werk von Andras, der dich herholen wollte, zurück zum Haus deiner Kindheit –, dann dürfte das Aripiprazol deinen Dopaminwert zusätzlich gesteigert haben? Ist das überhaupt möglich?«
»Ich glaube schon. Vielleicht? Keine Ahnung.« Sie lachte. »Dann bin ich wohl doppelt breit, Alter.«
Kenway verlagerte sein Gewicht auf einen Fuß und lehnte sich auf das Fußteil des Bettes. Das machte er gelegentlich, wohl um dem Bein mit der Prothese eine Pause zu gönnen. Er sah aus, als könnte er selbst auch ein bisschen Ruhe vertragen. Total fertig, Ringe unter den Augen. »Vielleicht hat es ja deine Dämonenseite die ganze Zeit unterdrückt. Vielleicht hat der hohe Dopaminwert in deinem Körper einen Deckel auf dem Teil von dir gehalten.«
Wieder so ein Juckanfall. Robin rieb sich den Verband und zuckte angesichts des Schmerzes zusammen. »Als du dein Bein verloren hast …« Sie zögerte. »Hast es danach auch so verdammt gejuckt?«
»Ja«, sagte Kenway und zupfte an seiner Jeans, sodass die Fußprothese in der Sonne glänzte, die durch das Fenster hereinschien. »Manchmal juckt es immer noch. Ich kann dir einen Trick verraten, den sie mir bei den Kriegsveteranen gezeigt haben. Wenn du möchtest.«
»Bitte. Es treibt mich in den Wahnsinn.«
»Wenn mein Phantomfuß juckt, nehme ich einen Spiegel und halte ihn so neben meinen Fuß, dass mein guter Fuß meinen falschen überdeckt. Dann sieht es so aus, als hätte ich noch zwei richtige Füße. Und dann kratzte ich mich am richtigen Fuß.«
Robin verdrehte den Kopf so weit, dass sie die Schulter aus den Augenwinkeln sehen konnte. »Wo soll ich den Spiegel hinhalten? Zwischen meine Brüste?«
»Hm. Guter Einwand, schätze ich.«
Es klopfte. Eine Ärztin trat ein und schaute auf die Armbanduhr. »Guten Tag, Leute«, sagte sie leise. Trotz des strengen weißen Kittels und dem Klemmbrett sah die Besucherin wegen ihres dunklen Haares und des jugendlichen Gesichts wie ein Teenager aus.
Zu ihrer Überraschung war es Fishers Freundin Marissa Baker. Robin war froh zu sehen, dass ihre Augen normal waren und nicht so stechend wie die eines hexischen Wesens, aber ihr Gesicht war abgespannt und dunkel. »Ich bin Dr. – oh. Hi.«
»Hi«, sagte Robin.
»Du bist … Joel Ellis’ Freundin, nicht? Robin? Wir kennen uns doch von dem Spieleabend.« Marissa bemerkte die anderen Anwesenden. »Hi, Kenny. Schön, dich zu sehen.«
»Hey«, sagte Kenway. Er ging zu ihr und umarmte sie, was Marissa steif über sich ergehen ließ. »Alles klar bei dir? Hey, warum bist du hier? Ich meine …«
»Bitte.« Marissa wehrte jede weitere Frage mit der Hand ab. »So gehe ich mit solchen Sachen um. Ich arbeite. Wenn ich nach Hause gehe, bin ich allein, vor allem allein mit meinen Gedanken, und das wäre für niemanden gut, am wenigsten für mich.« Im Zimmer wurde es still, jeder beäugte verlegen den anderen. Marissa starrte auf Robins Krankenakte, als wäre sie in einer fremden Sprache verfasst, dann blickte sie auf. »Miss Baker wird später eine harte Zeit haben. Im Moment hat Dr. Baker aber anderen Scheiß zu tun.« Sie sah Wayne an. »Entschuldigung – andere Dinge zu tun.«
Der Junge zuckte mit den Schultern.
»Ich werde mir dich gleich anschauen.« Ihre sehr menschlichen Augen kehrten aufs Klemmbrett zurück und wurden groß, und die Brille steigerte die Wirkung extrem. »Wow, du bist schon auf den Beinen und läufst herum?«
»Ich stamme von wackeren Iren ab«, sagte Robin und klappte das MacBook zu.
»Offensichtlich. Laut Akte hattest du einen … Autounfall?«
»Ja.«
»Himmel.« Marissa hängte das Klemmbrett zurück ans Fußteil. »Wie schnell bist du gefahren?«
»Offensichtlich nicht schnell genug.«
Sie warf Robin einen grimmig besorgten Blick zu und betrachtete die Narben am Handgelenk der Hexenjägerin. »Ich frage das nicht gern, und du möchtest es vermutlich nicht hören, aber … du hast doch keine Suizidgedanken?«
»In letzter Zeit nicht.« Robin saugte an ihrer Oberlippe und bemerkte die Narben. »Und wenn schon, es hat mich einfach total fertiggemacht, als sie aufgehört haben, Doritos 3D herzustellen.«
»Du müsstest dich mal freimachen, damit ich dich untersuchen kann.« Marissa steckte die Hände in die Kitteltaschen und sah zu Kenway und Wayne. »Ist es okay für dich, wenn deine Freunde dabei sind?«
Wayne drehte sich in seinem Stuhl und sah zur Wand. »Ich kann ja wegschauen.« Er schlug das Schulbuch auf und las weiter. »Ist das okay?«
»Bestens«, erwiderte Robin.
Sie sah Kenway in die Augen, und er stand selbstvergessen einen Moment lang da. »Ach ja.« Er drehte sich zum Fernseher um und schaute sich die Werbung an.
Während Robin sich das Krankenhausnachthemd auszog, sah Marissa über die Brille hinweg zu Wayne und runzelte die Stirn, als sie ihn erkannte. Sie suchte in ihrer Tasche, holte ein paar lila Nitrilhandschuhe hervor und schlängelte ihre Hände hinein, schnapp, schnapp. »Du kamst mir gleich so bekannt vor. So bald habe ich dich nicht wieder hier erwartet, Mr. Parkin. Was macht das Bein? Ich nehme an, du hältst dich inzwischen lieber von Schlangen fern.«
»Ist viel besser«, sagte Wayne über die Schulter und schob die Brille auf die Nase. »Danke. Nein, keine Schlangen mehr.«
»Robin, du nimmst nicht zufällig auch irgendwelche Hausmittel, oder?« Marissa machte sich an die Arbeit, zog das Pflaster ab und löste den Verband. Oranges Betadin und getrocknetes Blut bedeckten eine Kuhle in der Mitte der Saugeinlage. »Es war ein schreckliches Wochenende«, sagte sie in ihrem schneidigen Midwest-Tonfall. »Ich frage mich schon, ob ich meine Approbation zurückgeben soll. Zuerst bringt eine alte Lady einen Jungen mit einem Schlangenbiss, auf den sie eine Hexensalbe geschmiert hatte, und in der gleichen Nacht läuft er schon wieder durch die Gegend und verlässt sogar das Krankenhaus. Ich meine, ehrlich jetzt? Und jetzt habe ich hier ein Mädchen, das den Arm in einem Autounfall verloren hat, und sie ist zwei Tage später wieder auf den Beinen, macht dumme Scherze … oh. Was zum Teufel ist das?«
Ein Eisberg bildete sich in Robins Magengrube.
Obwohl sie immer noch mit nackter Brust dastand, fuhren Wayne und Kenway zu ihr herum. Marissa hatte den Verband komplett abgenommen und darunter kam die rote knotige Haut zum Vorschein, wo die Wunde mit einem großen U mit Fäden und glitzernden Klammern verschlossen worden war.
Ein schwarzes Tentakel schob sich aus der Wunde und entrollte sich wie der Sprössling eines Baums, nur in Zeitraffergeschwindigkeit.
»Hhhää!«, grunzte Kenway. »Scheiße!«
Wayne erstarrte. »Woah.«
Das Tentakel schlängelte sich, als wäre es ein Regenwurm, der die Umgebung erkundet und Wasser sucht, und tastete Robins Achsel ab.
Bei näherer Betrachtung war es so dunkelrot wie Rotwein oder getrocknete Kidneybohnen. Das Wurmding stank nicht – hatte eigentlich gar keinen Geruch – , aber allein beim Anblick drehte sich ihr der Magen um. Robin hielt sich die Augen zu und wandte sich um wie ein kleines Mädchen, das eine Spritze bekommt, aber sie spürte, wie es sich bewegte und tückisch an ihren Rippen und an der Rundung ihrer linken Brust entlangstrich. Es fühlte sich an wie das schwache Kitzeln eines Geisterfingers.
Voller Schrecken schloss sie die Augen und zitterte. »Was in aller Welt ist das? Warum ist es in mir?«
»Verflucht, ich habe keine Ahnung!« Marissas Stimme brach.
Panik überfiel sie, und dann bekam sie nicht mehr genug Luft. Im ganzen Raum war nicht ausreichend Sauerstoff, und sie schnappte danach. »Um Gottes willen, hol es aus mir raus. Hol es raus, hol es raus, hol es raus!«
Marissa fuhr sich nachdenklich mit der Zunge über die Lippen und sah sich suchend um. »Verdammt«, sagte sie und tastete sich ab. »Ich habe nichts, womit ich es packen könnte.«
»Nimm deine Hände!«, schrie Kenway.
»Ja, also, gut, ja«, sagte die Ärztin, legte die linke Hand auf Robins Rippen, packte das Tentakel vorsichtig mit der Rechten wie einen Stift, als wollte sie ihren Namen auf die Wundnaht schreiben. Das Ding fuhr hin und her und wickelte sich um ihren Finger, und sie drückte das Gesicht an ihre eigene Schulter, um sich zu konzentrieren.
»So wahr mir Gott helfe«, sagte Marissa, hustete gedämpft und zog an dem Tentakel.
Selbst unter dem Einfluss des Oxycodons tat es weh, als wäre das Ding an ihr Herz geklammert. Robin schrie in das stille Krankenzimmer, und Tränen stiegen ihr in die Augen. »RRHHAAAAAAAAHHHH!!«
Die Ärztin ließ los, trat kapitulierend mit erhobenen Händen zurück und zitterte, als hätte man auf sie geschossen. »Warte hier«, sagte sie, riss sich die Handschuhe herunter und lief in ihrer Eile beinahe gegen die Tür. »Ich bin sofort wieder da.« Sie riss die Tür auf, trat hindurch und schloss sie hinter sich.
»Los.« Robin rutschte aus dem Bett, schob ihre Füße in die Kampfstiefel und kramte in der Reisetasche, die Kenway aus ihrem Wagen mitgebracht hatte. Sie zog sich ein T-Shirt und Jeans über, machte den Reißverschluss der Tasche zu und nahm sie hoch. »Wir müssen hier weg.«
»Was? Warum?«, fragte Kenway.
»Ich weiß zwar nicht, was das für ein Ding in meiner Schulter ist, aber ich habe so das starke Gefühl, die werden es hier nicht rausbekommen, ohne mir höllisch wehzutun.« Robin ging zur Tür, machte sie einen Spalt auf und spähte hinaus, obwohl sie gar nicht wusste, wen sie erwartete. Oder ob überhaupt jemanden. »Außerdem … ich glaube, es hat etwas mit Andras zu tun, und deshalb möchte ich nicht, dass die, äh, dass die … Ärzte sich daran zu schaffen machen.«
Gütiger Gott. Ihr lief es kalt über den Rücken. Beinahe hätte sie menschliche Ärzte gesagt.
Im Gang waren nur ein paar Schwestern unterwegs, und am Ende saß ein Mann im Rollstuhl. Ansonsten war niemand zu sehen. Sie blickte sich zu dem Mann um, der ihr bis hierher gefolgt war, und gab ihm mit den Augen zu verstehen, dass er noch ein wenig weiter gehen musste. Auf Kenways Gesicht wechselten sich Sorge und Verwirrung ab, bis sich grimmige Zustimmung einstellte. Er stopfte Waynes Kram in die Schultasche und schnappte sich die Tüte mit Schmerzmitteln vom Nachttisch.
»Okay«, sagte er und schob die Tabletten in die Tasche. »Auf geht’s, Lady.«
Sie huschten lässig den Gang entlang und am Tresen der Schwestern vorbei. Es war überhaupt nicht so aufregend, wie Robin erwartet hatte, obwohl sie auch nicht wusste, wer sie eigentlich aufhalten sollte. Vier Stockwerke mit dem Fahrstuhl nach unten zu fahren war eine Übung in Selbstbeherrschung, denn das Tentakel wand sich im Ärmel ihres T-Shirts herum wie eine Katze, die sich in einem Bettlaken verwickelt hat. Bei dem Anblick hätte sie sich am liebsten übergeben. Wayne bemerkte es aus den Augenwinkeln, verschränkte die Arme vor der Brust und schob sich an die Wand.
»Hat es wirklich so wehgetan, als du geschrien hast?«, fragte Kenway. »Hängt es irgendwo fest?«
»Ich glaube schon. So fühlte es sich jedenfalls an.«
Die Fahrstuhltür schob sich auf, und die drei eilten durch den Eingangsbereich. »Ma’am?«, fragte eine Frau hinter einem Tresen. Sie rief noch einmal, mit ein wenig mehr Nachdruck. »Ma’am?« Robin schob die Tür auf.
Zu ihrer Überraschung brachte sie die Sonne zum Niesen, und mit dem Oxycodon im Körper wirkte das wie ein Schlag gegen den Kopf. Sie musste sich an einem der Signalpfosten neben dem Zebrastreifen abstützen. Sobald sie sich erholt hatte, rannte sie zum Parkplatz. Ihre Kampfstiefel donnerten über den Asphalt. Sie hatte vergessen, dass Kenway sein Schiff von einem Pick-up in den Säureteich gefahren hatte, deshalb hatte sie die Karre auf dem Parkplatz erwartet, stattdessen stand da nun ihr Conlin-Sanitär-Lieferwagen.
Der Scheitel von Waynes schmalem Kopf tauchte in dem Labyrinth von Autos auf, dann kam Kenway tapsig auf seinem falschen Bein angelaufen wie ein Fahrrad mit viereckigen Rädern. Er schloss auf, und die drei huschten hinein. »Retten wir jetzt meinen Dad?«, fragte Wayne von seinem Platz hinten im Wagen.
Die aufgeregte Hoffnung in seiner Stimme ließ Robins Mut ein bisschen sinken. »Noch nicht, Kumpel. Ich muss zuerst jemanden treffen.«
Er verkniff sich ein Stirnrunzeln. »Wo fahren wir denn hin?«
»Zu den Hütten am Lake Craddock«, sagte Robin und legte den Sicherheitsgurt an. Das grauenhafte Wurmding, das sich aus den Stichen schlängelte, war inzwischen fast zwanzig Zentimeter lang, was genügte, um sich lasziv um den Sicherheitsgurt zu schlingen. »Ich kenne jemanden, der uns helfen kann, deinen Dad zu retten … und der vielleicht auch weiß, was für ein verdammtes Ding das ist.«