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Auf der anderen Seite der Parkplätze am Ende einer Reihe leerer Buchten stand ein alter Ford Pick-up. Die Ladefläche war mit einem Campingaufbau überdacht, der wirkte wie ein Schildkrötenpanzer. Die selbst ernannte Meisterin des Versteckspiels suchte nach einem Versteck, und diese Stelle war die coolste Möglichkeit im ganzen Apartmentkomplex.

Was die Aufmerksamkeit der kleinen Delilah fesselte, war die hellgrüne Schlange. Die rautenförmigen Schuppen schlangen sich von Tür zu Tür über die Karosserie. Jede Schuppe hatte ihre eigene glänzende Farbe und reflektierte das Licht. Am vorderen Ende des drachenartigen Körpers befand sich ein großes Maul voller Zähne und mit einer schlängelnden Zunge. Weiße Giftzähne, so groß wie Bananen, zogen den Blick an.

Ein honiggelber Schraubenkopf in Faustgröße bildete das Auge. Als sie ihn drehte, entdeckte sie die Tanköffnung darunter. Der Tankdeckel war das Schlangenauge! Echt clever.

Sie ging ums hintere Ende, wo sich der Körper auch über die Heckklappe erstreckte, und erreichte am Schlusslicht vorbei den Kotflügel auf der Beifahrerseite.

Hier ringelte sich die Schlange zweimal, und den Schwanz hatte eine barbusige Frau in einem Wikingeroutfit gepackt, deren riesige Brüste zwischen ihren ausgestreckten Armen zusammengedrückt wurden. Die barbarische Barbie hielt den letzten dünnen Rest des Schlangenschwanzes wie einen Baseballschläger und stemmte sich mit den Hacken in den Boden.

Dafür, dass es eine richtige Schrottkarre war, war die Bemalung ziemlich aufwendig und kitschig geraten. Das Mädchen fragte sich, wem der Wagen wohl gehörte und wie er sein mochte, während sie die Hand auf das Metall legte, das vom Sonnenschein noch warm war. Die muskulösen Arme der Barbarin, ihre weinkorkengroßen Nippel und die leuchtenden Augen, wie die einer Blitzgöttin, hoben sich von der Karosserie ab, fast wie ein Relief.

»Ich komme und finde di-ich!«, rief Ginny von irgendwoher mit ihrer singenden Stimme.

Delilah machte die Heckklappe auf und stieg auf die Ladefläche des Trucks. Die hydraulischen Heber seufzten, als sich die Klappe schloss.

Im vorderen Bereich des Laderaums hatten sich Kiefernnadeln in einem lockeren schwarzen Haufen gesammelt. Weitere Nadeln bedeckten den Boden mit einem dünnen knisternden Teppich. Unter dem Campingaufbau schien die Luft keinen Sauerstoff zu enthalten – es war heiß und roch nach Erde und bitterer Kiefer. Die Seitenfenster waren rot lackiert und tönten das Licht der Straßenlaternen zu einem Boudoir-Purpur.

Rechts von sich sah Delilah einen Jutesack, auf den DÜNGER gestempelt war und der mit etwas Bulligem gefüllt war, das so groß war wie das Mädchen selbst. Daneben stand eine Motorsense mit angeknabbertem Schneidfaden, auf der sich eine Graskruste gebildet hatte und die nach Benzin roch. Ein Gärtner, dachte sie, watschelte im Entengang hinüber zu dem Haufen aus Kiefernnadeln und setzte sich daneben. Ob er Tulpen pflanzt? Sie mochte Tulpen gern, mit ihrem leichten süßen Duft.

»Ich finde dich«, sagte Ginny irgendwo vor dem Wagen. Der war mit der Schnauze zu einem Wohnhaus geparkt, das Heck zeigte zur dunklen Straße. Delilah hörte die neuen Schuhe des Mädchens, die über das Pflaster trappelten, während Ginny von Wagen zu Wagen hüpfte. »Ah-ha! Oh, wohl doch nicht.«

Delilah bewegte sich nicht und atmete ganz ruhig. Ihr Bauch hob und senkte sich unter dem T-Shirt. Sie zupfte an den Nähten ihrer Jeans, während sie in dem heißen dunklen Wagen auf ihre Entdeckung wartete, und erkundete den rauen Stoff mit den Fingerspitzen, während sie lauschte.

»Bist du hier drin?«, fragte Ginny. Eine Autotür ein Stück entfernt knarrte, als sie geöffnet wurde. Zwei Herzschläge vergingen. »Nee.« Die Tür schlug zu, krawumm!

Delilah saß in der nach Benzin riechenden Dunkelheit und spitzte die Ohren. Kiefernnadeln bohrten sich durch die Jeans. So leise wie möglich rutschte sie ein Stück nach links und drückte sich an den piksenden Strohballen. Es klang, als wäre Ginny näher gekommen. Sie gab ein »Wow« von sich und kam zum Schlangen-Truck. »Wahnsinn.« Delilah hörte sie um den Wagen schleichen, und vermutlich schaute sie sich in aller Ruhe das Kunstwerk an. Eine winzige Hand strich leise an der Karosserie entlang und klang mehr nach Schlange, als es Delilah lieb war. Delilah schob sich von den Kiefernnadeln weg und lehnte die Füße an den Jutesack.

Der Inhalt des Sacks war fest. Was auch immer es sein mochte, Dünger war es bestimmt nicht.

»Wow«, sagte Ginny wieder, diesmal von der Beifahrerseite des Wagens. »Mann, sieh dir diese Titten an. Die sieht ja aus wie Thor.«

Delilah konnte jetzt sogar ihren Atem hören. Ginny war hochgewachsen, ein nordisch aussehendes blondes Mädchen, und es hatte nie Schwierigkeiten, beim Essen seinenTeller leer zu bekommen. Sie blieb stämmig und behielt ihr Mondgesicht, obwohl sie sich ständig bewegte und Kickball spielte. Delilah sah Ginny vor ihrem inneren Auge, wie sie sich grinsend eine dünne Haarlocke aus dem großen rosa Gesicht strich.

Aus dem Wohnhaus rief jemand: »Regina! Zeit, reinzukommen!«

Ginny seufzte. »Okay, Mama«, rief sie zurück. Delilah wollte schon rausspringen und ihre Freundin überraschen, doch eigentlich könnte sie das Versteck beim nächsten Mal noch einmal benutzen. Warum sollte sie es jetzt schon verraten? »Okay, Lilah! Du kannst rauskommen!«, rief Ginny. »Ich muss nach Hause!«

Delilah wartete, bis Ginny gegangen war, und verhielt sich ruhig. Sie war echt ein Ninja! Sie war nicht entdeckt worden. Jetzt stand sie von der Ladefläche auf und nahm eine Kung-Fu-Pose ein. »Kiai!« Sie flüsterte den Kampfschrei vor sich hin. »Kiai! Hiai!« Sie führte einen Schlag aus, dann mit der anderen noch einen und versuchte zu treten, doch wegen der niedrigen Decke konnte sie die Balance nicht halten und landete auf dem Allerwertesten. Sie fing sich mit den Händen ab und scharrte dabei mit der Innenseite des Unterarms an der zerkratzten Kante der Motorsense entlang. »Autsch.«

Ihre Hand landete auf einem eckigen Gegenstand in dem Jutesack. Auf einer Seite war er flach. Im trüben Licht hob sie den Arm. Die Sense hatte die Haut zwar nicht aufgerissen, aber sie entdeckte einen zehn Zentimeter langen schmerzenden Striemen.

Als Delilah den Jutesack aufzog, sah sie einen New BalanceTennisschuh.

Abrupt blieb die Zeit stehen. Sogar die Zikaden verstummten, wenn auch nicht alle auf einmal – erst waren es noch drei oder vier, und dann verhallte ihr nerviges Sägen. Jeder Gedanke an Ninjas war vergessen. Sie war wieder das siebenjährige Mädchen, verunsichert, verwundbar, allein.

Angst verspürte sie nicht, nicht sofort. Die Logik erklärte ihr, der Sack sei voller alter Schuhe; voll mit Kleidung für den Secondhandladen. Vielleicht war der Besitzer des Wagens ein guter Mann, der Kleiderspenden für die Kirche gesammelt hatte oder so. Sie drückte mit der Fingerspitze gegen den Jutesack und fühlte einen weiteren Schuh.

Gut.

Eine großer Sack Schuhe für die Kirche. Sie entspannte sich und zog den Sack noch ein bisschen weiter auf. Aus dem Schuh und aus einer gestreiften Socke ragte ein dürrer Knöchel, bleich, unbehaart.

Delilah bewegte die Lippen, brachte aber kein Wort hervor.

Wenn etwas aus ihrem Mund gekommen wäre, hätte es sich wohl um »Mama, Mama, Mama« gehandelt, doch aus irgendeinem Grund versagte der Kehlkopf seinen Dienst, die Luft brachte die Stimmbänder nicht zum Schwingen, die Kehle reagierte nicht. Delilah bewegte einfach nur die Lippen, wieder und wieder. Ihre Beine gehorchten ihr ebenfalls nicht. Sie wollte von der Ladefläche steigen, zur Luke krabbeln und sie aufstoßen, sich aus dem Campingaufsatz werfen und nach Hause rennen. Aber sie konnte einfach nicht verstehen, warum sie das Bein eines kleinen Jungen vor sich hatte, das aus einem Düngersack im Laderaum des Lieferwagens eines Fremden ragte, und diese Verwirrung sorgte für Erstarrung. Anstatt die Füße in Gang zu setzen und auszusteigen, drehten sich ihre Kindergedanken im Kreis und versuchten, eins mit dem anderen in Übereinstimmung zu bringen und wie Reifen im Schlamm Halt zu finden.

Sie berührte das Bein. Kalt.

Kalt wie der Tod.

Das war nicht richtig, nicht wahr, nicht wirklich. Das ergab keinen Sinn. So starben Menschen doch nicht. Menschen starben in Krankenhäusern, wenn sie uralt waren, und dann weinten die Familien in Bestattungsinstituten am Sarg, Leute in grauen Anzügen mit Gleitsichtbrillen. Sie wurden auf Friedhöfen beerdigt, mit Blumen und hübschen Grabsteinen mit Statuen von Engeln und Tieren. Man tritt nicht auf Gräber. Das ist ungezogen, Miss Delilah Lee. Geh drum herum.

»Geht es dir gut da drin?« Die Worte kamen irgendwie falsch heraus. Gepresst, feucht. »Junge? Alles oh … alles okay?«

Sie schob den Sack mit beiden Händen auf und zog ihn bis über die Knie des Jungen. Er trug eine schwarze Sporthose. Sie hätte den Sack weiter aufgezogen, aber er hatte sich an der Schuhspitze verhakt. Mit respektvollem Entsetzen zog Delilah die Jute zurück, bedeckte die Beine des Jungen und begann zu schluchzen. Das Innere des bemalten Campingaufbaus verschwamm in rotem Chaos und verwandelte sich in einen Backofen voll Blut. Sie ging zur Heckklappe.

Aber wo der Griff hätte sein sollen, befand sich nur ein rundes Loch.

Zum zweiten Mal innerhalb ebenso vieler Minuten hörte die Realität auf, sich an ihre Regeln zu halten. Delilah strich über der Mitte der Tür hin und her und suchte einen Griff, aber da gab es keinen. Auf seine einstige Existenz deutete nur das runde Loch in der Türverkleidung hin. Darin sah sie den Mechanismus, mit dem man den Riegel lösen konnte, doch sie verstand nicht, wie man die Teile bewegen musste.

In der Fahrerkabine setzte sich jemand auf den Beifahrersitz.

Sie erstarrte, wurde mucksmäuschenstill, wollte sich nicht verraten, wie ein Kitz im Gras. Der Mann seufzte tief, entriegelte das hintere Fenster der Kabine und schob es auf. Er drehte sich im Sitz um und spähte herein. Seine Silhouette war von dichtem leuchtendem Kupferhaar gekrönt. Das Gesicht konnte sie nicht genau erkennen, aber der Kopf war groß. Er hatte eine Haltung wie eine Grubenotter, ein breites Kinn und einen schmalen Hals.

»Hallöchen«, sagte der Mann mit hoher trockener Stimme wie Schmirgelpapier, das über Sandstein kratzt.

Delilah antwortete nicht.

»Ich weiß, dass du dahinten bist, deine Freundin hat mich geweckt, als sie nach dir gesucht hat.«

Delilahs Augen brannten, doch sie wollte nicht blinzeln. Sie hatte Angst, den Blick von dem breiten Schatten auf dem Vordersitz zu lösen. Rotz rann über ihre Oberlippe.

»Wie heißt du?«, fragte er.

Nichts.

»Sprichst du nicht mit mir? Kann ich verstehen«, sagte er und betonte den Satz mit einer zurückhaltenden Geste. »Clever. Weißt du, in deinem Alter war ich der Champion im Versteckenspielen. Meine Freunde haben mich Schlange genannt – weil ich mich in die engsten Verstecke zwängen konnte.«

»Lilah«, antwortete das Mädchen. Zitternd hockte sie an der Heckklappe.

»Hm?«

»Ich heiße Delilah.«

»Delilah«, erwiderte der Mann freundlich. »Hübscher Name. Ich bin Roy. Vielleicht kann ich dir ein paar Dinge über Verstecke beibringen, ja? Man springt doch nicht einfach hinten in einen Truck, der so verrückt aussieht wie dieser. Das ist ein schlechtes Versteck. Ich kann dir Plätze zeigen, wo dich nie-nie-niemals jemand finden wird.« Er nahm einen Kabelbinder zwischen die Lippen und ließ ihn baumeln wie ein Cowboy einen Grashalm. Das sah aus wie eine Schlangenzunge, fand Delilah.

Piep-piep. Die Stille wurde von einem elektronischen Klingelton zerrissen. Roy holte ein Telefon aus der Tasche und betrachtete das Display, das sein Gesicht beleuchtete. Seine Nase war spitz, die Nasenlöcher groß, die Augen waren schmal und wirkten irgendwie gleichzeitig schlau und dumm. Während er die Nachricht las, bildete sein fieser Mund lautlos die Worte mit.

»Ich muss dann wohl zurück zum Haus. Keinen Frieden gibt es für die Gottlosen.« Er warf Delilah einen Blick zu und stieg aus. Die Hecktür öffnete sich knarrend, und kalte Abendluft strömte herein wie frisches Quellwasser. Der Mann starrte sie streng an. »Raus mit dir, Prinzessin«, sagte Roy und zeigte mit dem Daumen über die Schulter. »Das Spiel ist vorbei.«

Delilah stieg aus und stolperte auf das Pflaster.

Der rothaarige Mann beugte sich vor und lächelte. »Lauf nach Hause. Und wenn du irgendwem verrätst, dass ich hier war, also … ich weiß ja, wo du wohnst. Und ich kann dir eins versprechen: Mit mir willst du bestimmt nicht Verstecken spielen. Ich weiß ja, wo du wohnst.« Er stieg wieder in den Wagen. Seine kleinen Augen versprühten Gift. »Halt dich von fremden Autos fern, Kind. Dann lebst du länger.«