Joel hatte das Gefühl, er würde den Geruch der dreckigen Garage niemals von seiner Haut abwaschen können, den Geruch nach Blut und den Gestank von altem Schmierfett. Er duschte noch einmal und stand fast eine Stunde unter dem heißen Wasser, trank billigen Wein aus der Flasche und rieb sich ab, bis seine Haut rot wurde.
Wie angekündigt hatte er bis weit in den Nachmittag hinein geschlafen. Nach dem Aufwachen hatte er alles an Junkfood verschlungen, was er im Küchenschrank finden konnte (eine halbe Tüte Cool Ranch Doritos, drei Zebra-Kuchen und ein Erdbeer-Pop-Tart), ehe er unter die Dusche gegangen war.
Grrrrruhuhuhuhuh.
Er hatte Kenways Sanitätsverband abgenommen, damit er die Kratzer säubern konnte, und das Duschgel brannte auf der Brust.
Joel zuckte zusammen, verteilte den Schaum überall und tupfte die Wunden vorsichtig mit einem Waschlappen ab.
(da ist ein Dämon im Zimmer da ist ein Dämon im Zimmer DA IST EIN DÄMON)
Blut lief in rosa Rinnsalen um seine Füße. Er sang Billie Holidays »Strange Fruit« wieder und wieder, näselnd und zögerlich. Jedes Mal, wenn er aufhörte zu singen, sah er den toten Mann kopfüber mit durchgeschnittener Kehle dahängen, während der aufgeschlitzte Kehlkopf im Licht der Werkbanklampe glänzte.
Joel streckte die Hand aus dem Wasservorhang, drehte den Hahn zu, quietsch, quietsch, quietsch, und lauschte aufmerksam.
»Hallo?« Er horchte angestrengt.
Er hätte schwören mögen, draußen vor dem Badezimmer etwas gehört zu haben. Die Uhr an der Wand tickte, Sekunde für Sekunde. Er zog ein sauberes Handtuch von der Vorhangstange und legte es sich um den Hals.
Mamas Schrotflinte stand zwischen Toilette und Waschtisch, ein Weatherby-Upland-Vorderschaftrepetierer mit Walnussschaft. Gegenüber der Toilette lagen frische Unterwäsche und eine Pyjamahose. Joel riss den Vorhang zur Seite und tauschte (erleichtert, niemanden auf der anderen Seite zu sehen) den Wein gegen die Flinte. Er stieg aus der Badewanne, zog sich Unterhose und Pyjama an und betätigte den Repetiermechanismus, TSCH-THUCK!, wobei eine Schrotpatrone in die Toilette ausgeworfen wurde.
»Shit.« Kurz überlegte er, ob er die Patrone herausfischen sollte, entschied sich jedoch dagegen, die Hand in das Toilettenwasser zu stecken.
Eine Dr Pepper-Plastikflasche balancierte, mit Steinen gefüllt, kopfüber auf dem Türknauf. Er nahm sie herunter und stellte sie aufs Waschbecken. Dann riss er die Tür auf, richtete die Schrotflinte in den Flur und legte den Finger an den Abzug.
Niemand da.
Er entspannte sich, aber nur ein wenig.
Jemand donnerte an die Haustür, und er zuckte zusammen. Joel tappte den Flur entlang und sah durch den Spion. Ein Mann in schwarzer Uniform stand draußen auf der Veranda. Lieutenant Bowker salutierte, als würde er sich an die Krempe eines unsichtbaren Cowboyhutes tippen.
»Der Fettsack sollte mal besser meinen Velvet gefunden haben«, murmelte Joel leise vor sich hin und stellte die Schrotflinte hinter das Sofa. Dann öffnete er die Tür.
Von der Herbstbrise, die um den beträchtlichen Leib des Officers wehte, bekam Joel eine Gänsehaut. »Hallo«, sagte Bowker und salutierte erneut. »Ich dachte, ich fahre auf dem Heimweg mal bei Ihnen vorbei und sehe nach dem Rechten. Alles klar bei Ihnen, Junge?«
Joel zitterte. »J-ja, alles gut.«
»Was zum Teufel ist mit Ihrer Brust passiert?«
Er sah an sich hinunter, als hätte er die Kratzer vergessen.
»Bin gestürzt.«
»Scheiße, worauf sind Sie gefallen, auf einen verdammten Berglöwen?« Der Officer beobachtete Joel beim Zittern und Schlottern. »Haben Sie was dagegen, wenn ich kurz reinkomme? Sieht aus, als würde der Wind Ihnen zusetzen.«
»Oh Gott, j-ja. Kommen Sie rein.«
Er trat in den Flur, und Joel schloss die Tür hinter ihm. Als er sich umdrehte, hielt Bowker ein Gerät in der Hand, das aussah wie ein Scanner von einer Supermarktkasse, und richtete es auf ihn. Nachdem Joel mit einer Verzögerung von drei Sekunden begriffen hatte, was es war (ein Taser), wich er zurück und hob die Hände.
»Wofür wollten Sie mich denn tasern?«
»Tut mir leid«, sagte Bowker, trat vor und drängte Joel rückwärts ins Wohnzimmer. »Das war so nicht geplant. Und ehrlich, ich tue Ihnen das nicht gern an. Ist vermutlich das erste Mal, dass wir so ein Problem haben. Normalerweise arbeitet er so astrein, dass wir uns nicht die Hände schmutzig machen.«
»Was meinen Sie? Wer ist astrein? Mann …«, jammerte Joel. »Ich hätte mit meinem Arsch in der Underwood Road bleiben sollen. Zumindest hätte mich die alte Hexe nicht in meinem eigenen Haus abgeknallt.«
Die Kante des Sofatisches drückte Joel in die Waden. Er zog das Handtuch von seinem Hals, verdrehte es hektisch und umklammerte es mit den Fäusten. Bowker hatte ihn so weit gedrängt, dass der Cop jetzt zwischen ihm und dem Sofa stand, wo die Schrotflinte versteckt war. Der Cop sah sich im Zimmer um und begutachtete die Vorhänge. Sie waren zugezogen, und die Jalousien waren blickdicht. Was jetzt passieren würde, bliebe zwischen Joel und ihm. »Sie sollten eigentlich gar nicht mehr leben.« Mit seinem Südstaaten-Akzent dehnte er die Worte ausgiebig wie Foghorn Leghorn. »Blut für den Garten, Junge, die Schlange hat den Job, die Herde auszudünnen. Und wir haben den Job, ihm die Leute vom Leib zu halten.«
»Die Schlange?«
»Ihrem Handlanger. Er macht, was sie ihm auftragen, wir beschützen ihn vor neugierigen Blicken. Im Gegenzug lassen sie uns leben.«
»Wer ist ›sie‹?«
»Tu doch nicht so, Junge. Du weißt genau, wen ich meine.«
»Die Hexen?« Joel starrte ihn mit offenem Mund an. Seine Hände sanken und entspannten sich. Das Handtuch drehte sich vor seinen Beinen auf wie bei einem Matador, der in der Arena vor einem Stier steht. »Sie stecken mit den Hexen unter einer Decke, die Annie Martine umgebracht haben? Mit Marilyn Cutty?«
»Ich weiß nichts über irgendwelche ›Hexen‹, aber die haben hier in der Stadt das Sagen. Die haben überall das Sagen. Das war so, und das wird so bleiben.« Bowker entsicherte den Taser. »Und wie gesagt, ich mache es nicht gern, aber einer muss es ja tun. Keine unerledigten Sachen, Junge. Sie können ja nicht rumlaufen und Geschichten erzählen, nicht?«
»Alter, wenn Sie mich noch einmal Junge nennen, reiße ich Ihnen ein Bein ab und verprügele Sie damit.«
»Glaube ich kaum«, sagte Bowker und feuerte den Taser ab.
Im gleichen Moment riss Joel das Handtuch hoch. Toro, toro!
Metallisches Konfetti schoss aus dem Taser, eine grelle Wolke in Rosa und Gelb. Die elektrischen Widerhaken verwickelten sich im Frotteetuch, tak-tak-tak-tak, und Joel stürzte sich durch das seltsame glänzende Konfetti, beide Fäuste erhoben. Er prallte gegen Bowkers kugelsichere Weste, als würde er ihn mit den Paddles eines Defibrillators treffen. Bowker verlor die Balance, kämpfte ums Gleichgewicht, stolperte rücklings in den Flur und rutschte auf einem Läufer aus.
Joel griff hinter das Sofa, schnappte sich die Schrotflinte und tänzelte davon. Bowker zog seine Glock, feuerte in einer einzigen geschmeidigen Bewegung ins Wohnzimmer und zerschoss ein Fenster.
Joel stürmte durch das Wohnzimmer, stürzte durch die Tür am anderen Ende und kam auf der anderen Seite des Flurs gegenüber von Bowker heraus. PENG! Ein Spiegel an der Wand zersprang in tausend Stücke und ließ Scherben regnen. Joel schrie und rannte weiter zum Ende des Flurs. PENG! Das Glas der Hintertür explodierte über seinen Händen, als er sie aufriss. »Oh! Scheiße!«
Wieder bellte die Glock und blitzte im Schatten auf. Joel stürzte hinaus, und etwas schlug ihm in den rechten Oberschenkel.
Blut spritzte über den Stoff.
Als Joel die hintere Treppe hinuntersprang, gab ein Knie unter ihm nach, und er ließ die Schrotflinte ins taunasse Gras fallen. Glücklicherweise löste sich kein Schuss. Die kalte Luft schlug um seinem nassen Körper zusammen, er bekam eine Gänsehaut und begann zu zittern. Der Garten war nur ein schmaler Streifen Gras entlang eines gepflasterten Wegs, und hinter einem Bretterzaun ragte schon das nächste Haus auf. Joel taumelte auf den Weg, zog die Weatherby am Lauf hinter sich her und stützte sich darauf. Der Kies drückte sich in seine nackten Füße.
PENG! Vom Zaun spritzten Splitter in alle Richtungen.
Er riss einen Arm hoch, um sein Gesicht zu schützen, und rannte barfuß und halb nackt in die Nacht. In der Ferne bellten Hunde.
»Polizei!«, brüllte Bowker. »Stehen bleiben!«
In dem Haus auf der anderen Seite des Wegs ging Licht an, flutete in die Schatten und machte alle Verstecke zunichte. Joel lief weiter, seine Füße klatschten auf den unebenen Asphalt.
Ein Tor im Zaun. Er zerrte es auf und PENG!, die nächste Kugel krachte in die Latten und hätte es ihm fast aus der Hand gerissen. Er stürmte hindurch, wieder in die Dunkelheit, wobei diesmal von beiden Seiten immer wieder Lampen den Weg erhellten. Eine Klimaanlage brummte im Dunkeln. Joel rannte, so schnell er konnte, über Kies und Gras und sprang über die Außeneinheit der Klimaanlage.
Als er landete, blieb er stehen, drehte sich um und zielte auf das Tor, durch das er gerade gestürmt war. Sobald Bowker es aufzog, gab Joel einen Schuss auf ihn ab.
Die Schrotmunition krachte mit ohrenbetäubendem Knall durch die Lücke. Bowker fluchte laut und zog sich in die Dunkelheit zurück. Joel betätigte den Vorderschaft und warf die leere Hülse an der Seite des Hauses aus. Er drehte sich um, rannte, jagte zwischen zwei Veranden in den kränklich blauen Schein einer Straßenlampe und wäre fast auf dem taufeuchten Gras ausgerutscht. Er lief schräg nach links und warf sich wie einer der Dukes über die Haube eines Wagens. PENG-KRACH! Die Windschutzscheibe hinter ihm zersplitterte.
Halb rannte, halb krabbelte er zum Haus, wobei die Schrotflinte über den Boden schepperte, während der Nachtwind ihm über Schultern und Beine strich. Bowkers Pistole ging erneut los; die Kugel traf den Weg, jedoch so nahe, dass kleine Teersplitter an Joels Bein spritzten. Zwischen der Garage und dem Haus befand sich ein Holztor. Er warf sich im vollem Lauf dagegen und stieß es auf.
In der Sekunde, als er sich umdrehte und es zuschlug, sah er Bowker, der ihm in dieser mühsam schwerfälligen Art, die mittelalten Cops eigen ist, hinterherhetzte, und dabei wankte und schnaufte.
Hinter dem Zaun befand sich ein Swimmingpool, dessen Wasser im Licht einer einzelnen Sicherheitslampe silbern leuchtete. Verzweifelt und blutend schob sich Joel in die Ecke zwischen Zaun und Mauer. Kaum, dass er das getan hatte, erreichte Bowker den Garten und kam schwerfällig neben dem Pool zum Stehen.
Das Tor stand offen, verdeckte Joels Versteck und tauchte ihn in Schatten. »Wo zum Teufel steckst du?«, rief der Cop und schnaubte wie ein Ackergaul.
Joel drückte die Weatherby an die Wangen, bemühte sich, ruhig zu atmen und sich so leise wie möglich zu verhalten. Der Alkohol in seinem Körper war vom Adrenalin verbrannt worden, daher war er zwar zittrig, hatte jedoch einen klaren Kopf. Blut rann warm an seinem Bein hinunter wie eine krabbelnde Spinne. Er machte sich bereit, das Tor zuzustoßen und sich aus dem Hinterhalt auf Bowker zu stürzen, als der Officer sich umdrehte und das Tor selbst zumachte.
»Ooo!«, schrie Joel voller Angst und feuerte aus der Hüfte auf Bowkers Brust. Der Cop kippte rückwärts in den Pool.
Joel blinzelte wegen des Mündungsblitzes. Mit klingelnden Ohren stand er vor dem Pool, drückte die Schrotflinte an die Schulter und richtete die Kimme auf den Mann, der im Wasser planschte und nach Luft schnappte.
Kinderspiel.
Klick. Leer. Der Rückstoß, auf den er sich eingestellt hatte, blieb aus, und er wankte. Er betrachtete die Schrotflinte säuerlich, als hätte sie ihn persönlich beleidigt, dann zog er die Tür auf. »Ich bin raus, Bulle«, sagte er und rannte den Weg zurück, den er gekommen war.
»Ich … kriege … dich …«, zeterte Bowker und spuckte Wasser aus, während er strampelte und paddelte.
Joel lief über den Weg zurück, nahm eine Abkürzung zwischen den Häusern und sah Licht in den Fenstern. Der Schusswechsel hatte die halbe Stadt geweckt. Er machte sich nicht die Mühe abzuschließen, als er Mamas Haus erreichte; Bowker würde die Tür auftreten und die Schlösser ruinieren. Er lief in sein Schlafzimmer, zog sich das T-Shirt und die Jeans an, die er zu fassen kriegte, dazu ein Paar Segelschuhe. Er schnappte sich Handy, Portemonnaie und Schlüssel.
Gewehr oder Wein? Gewehr oder Wein?
Er ließ die Weatherby Upland auf dem Bett liegen und holte sich stattdessen den Wein aus dem Badezimmer – den Schießprügel mitzuschleppen hatte keinen Sinn, denn ihm fehlte die Zeit, das Haus nach Munition zu durchsuchen und nachzuladen.
In der Vase an der Haustür stand der verzierte Baseballschläger, den Kenway dort abgestellt hatte. Er schnappte ihn sich.
»Brüderchen, du musst mich abholen«, sagte er, als Fish ans Telefon ging. Joel machte die Haustür zu und hätte sie beinahe abgeschlossen, besann sich im letzten Moment eines Besseren, sprang die Stufen hinunter und schwang sich über den Zaun, in der einen Hand das Handy, in der anderen Wein und Baseballschläger. Der Dodge Charger stand parallel zur Straße geparkt. Die Schlüssel steckten nicht.
»Was ist …«, setzte Fish an.
Blut sickerte durch die Jeans, wo die Glock Joel erwischt hatte. Seine Stimme wankte bei jedem Auftreten. »Ich bin angeschossen worden. Ein Cop ist in Mamas Haus aufgetaucht und wollte meinen Arsch, mich umbringen. Ich renne gerade den Berg runter.«
»Bin schon unterwegs«, antwortete Fish. »Warum …«
»Weil ich sterben sollte«, sagte er atemlos. Der Hang wurde steiler, und Joel rannte über den Gehweg an verwinkelten Reihenhäusern vorbei, während das Mondlicht durch die Mimosenbäume schien. »Gestern Abend bin ich in die Klauen eines verfickten Serienmörders geraten, und …«
»Eines was?«
»Der Arsch hat mich betäubt und in einer Garage neben einem Toten aufgehängt. Ein kleiner Junge hat mich gerettet. Ich bin rausgekommen.«
»Was zur Hölle?«, brüllte Fish. »Warum hast du mich nicht angerufen?«
Joel zuckte zusammen, weil die Stimme seines Bruders so schockiert klang. »Wollte nicht, dass du dir Gedanken machst. Du hast ja genug mit dir selbst zu tun …«
»Dass ich mir Gedanken mache? Bist du bekloppt?«
»Bekloppt – könnte man drüber diskutieren.« Joel sah über die Schulter und erwartete jede Sekunde, dass die Scheinwerfer von Bowkers Streifenwagen aufflammten. »Jedenfalls stand dieser Killer offensichtlich auf der Gehaltsliste der Bullen, und ein Kerl in Uniform kam bei Mamas Haus vorbei und wollte die Sache zu Ende bringen.« Am Ende des Blocks bog Joel rechts ab und lief die Querstraße entlang. »Ich verstecke mich im Park. Unten am Hügel, wo immer der Farmer-Markt ist. Hol mich da ab.«
»In was für ein Schlamassel bist du jetzt wieder geraten, großer Bruder?«
»Ich erzähle dir alles, wenn du hier bist. Friede sei mit dir.« Er wurde etwas langsamer, schob das iPhone in die Tasche, zog es wieder heraus und nahm den Glitzerschläger in die freie Hand. Während er weiterlief, überlegte er, wie er damit auf einen Baum klettern sollte, ohne ihn fallen zu lassen.