Henry Westphal und Mario Renner waren Hobby-Schatzsucher. Ausgerüstet mit ihren Metalldetektoren, durchstreiften sie am 4 . Juli 1999 den Ziegelrodaer Forst bei Nebra. Eigentlich hatten die zwei an diesem Sonntag nach Teupitz bei Berlin fahren wollen, eine Art Goldgrube für Metallsammler aller Art. Hier starben gegen Ende des Zweiten Weltkriegs etwa 60000 Menschen in der Kesselschlacht bei Halbe. Wer sich nicht davor fürchtet, Knochen auszugraben, und auch ansonsten wenig Pietät und Anstand besitzt, kann hier jede Menge Nazischätze bergen. Abzeichen, Helme und Waffen, damit lässt sich auf dem Sammlermarkt ordentlich Knete machen. Dies war das Ziel von Henry Westphal und Mario Renner, doch es sollte anders kommen. Ihre Schädel dröhnten, da sie in der vergangenen Nacht einen über den Durst getrunken hatten. Sie wachten erst gegen Mittag auf und entschieden sich gegen die lange Fahrt nach Teupitz und für eine entspannte Entdeckungstour am Mittelberg, ganz in der Nähe ihres Heimatortes Röblingen.
Von diesem heißen Sommertag erwarteten die beiden nicht allzu viel. In der Regel findet man auf solchen Touren nämlich vor allem eines: massenhaft Schrott. Die Metallsonden blieben in den ersten Stunden ihrer Exkursion auch erst mal still. Kein Piepen, keine Entdeckung. Fast auf dem Gipfel des Mittelbergs angekommen, bemerkte Henry Westphal dann jedoch eine Art Plateau im Boden, das er genauer untersuchte. Und siehe da, der Detektor schlug lauthals Alarm, das Piepen auf seinen Kopfhörern dröhnte in seinen Ohrmuscheln, sein Puls stieg an. Er legte die Metallsonde mit Bedacht weg, zückte sein Feuerwehrbeil und begann, die Erde aufzulockern. Als Mario Renner registrierte, dass sein Kompagnon mit Hacken und Graben beschäftigt war, stoppte er seine eigene Suche und stieß zu ihm. Renner bemerkte, dass Westphal schon etwas mit seiner Hacke getroffen hatte, und rief: »Stopp! Da ist Gold!« Doch was auch immer Westphal mit der Axt freigelegt hatte, es wollte sich partout nicht von der Stelle bewegen. Etwas Rundes, Flaches war zwischen ein paar Steinen verkeilt, so fest, dass sie es mühsam und vorsichtig freigraben mussten. Drei Stunden dauerte es, bis sie das Ding endlich aus dem Boden ziehen konnten. Die Scheibe, die sie entdeckt hatten, war so stark verschmutzt, dass sie die Verzierungen darauf zunächst nicht erkennen konnten. Das Ding hatte eine Delle, vermutlich von einem Schlag mit dem Feuerwehrbeil. Die beiden Männer packten ihre Beute – neben der Scheibe fanden sie noch zwei Schwerter, einen Meißel und zwei Armringe – in eine Plastiktüte, schütteten das Ausgrabungsloch zu und verteilten etwas Laub darauf. Euphorisiert von ihrem Fund, stiegen sie in ihren Trabi und fuhren nach Hause. 33
Die Scheibe selbst misst 32 Zentimeter im Durchmesser und wiegt rund zwei Kilogramm. Sie wurde vor rund 4000 Jahren aus Bronze geschmiedet und mit goldenen Applikationen versehen. Sie zeigt das Abbild eines Nachthimmels: eine kreisrunde, goldene Sonne neben einem ebenfalls goldenen Sichelmond vor einem Netz aus goldenen Sternen (siehe Abbildung 2 .1 ). Darunter ein Bogen, den man als Sonnenbarke verstehen könnte, also als ein Schiff, auf dem die Sonne über den Himmel fährt. Die Sterne zwischen Sonne und Mond interpretierte der Astronom Wolfhard Schlosser als den Sternenhaufen der Plejaden, 34 den man mit bloßem Auge im Sternbild Stier sehen kann. Doch noch interessanter ist der Sinn und Zweck des goldenen Bogens, der die Scheibe am rechten Rand ziert und bei dem es sich höchstwahrscheinlich um einen Horizontbogen handelt. Er ist ein klares Indiz dafür, dass wir es hier nicht nur mit einem netten Kunstwerk, sondern mit einem präzisen astronomischen Werkzeug zu tun haben.
Hält man die Scheibe horizontal vor sich (siehe Abbildung 2 .2 ), kann man die bogenförmige Markierung am Rand nutzen, um den Sonnenaufgang zu untersuchen. Die Sonne geht im Verlauf eines Jahres nämlich immer früher und zunehmend nördlicher auf, bis sie am 21 . Juni den Punkt der Sommersonnenwende erreicht. Genau dieser Tag ist mit dem unteren Ende des Horizontbogens markiert (Abbildung 2 .2 , links). Wenn die Sonne an diesem Punkt am Horizont aufgeht, werden die Tage fortan wieder kürzer, bis zur Wintersonnenwende am 21 . Dezember, dem kürzesten Tag des Jahres. Die Position des Sonnenaufgangs an diesem Tag ist mit dem anderen Ende des Bogens markiert (Abbildung 2 .2 , rechts). Die Sonnenuntergänge konnte man ebenfalls untersuchen, dafür war ein weiterer goldener Horizontbogen auf der gegenüberliegenden Seite der Scheibe angebracht, der mittlerweile jedoch fehlt. Man erkennt noch schwach die Umrisse der Applikation, wo er einst befestigt war (Abbildung 2 .1 , linker Rand). Die Himmelsscheibe von Nebra diente also als Sonnenkalender. Mit ihr konnte man jederzeit feststellen, wie weit das Jahr vorangeschritten war, und mit diesem Wissen ließ sich bestimmen, wann man beispielsweise mit der nächsten Aussaat beginnen musste.
Steht man nun auf dem Mittelberg, der vor etwa 4000 Jahren komplett unbewaldet war und sich dadurch hervorragend als Sonnenobservatorium eignete, dann kann man die Platte mithilfe der Bergspitze des 1142 Meter hohen Brockens perfekt nach Norden ausrichten. Die Himmelsscheibe ist folglich keine Handelsware, die irgendwie ihren Weg aus einem anderen Winkel der Welt nach Deutschland gefunden hat, sondern wurde von bronzezeitlichen Astronomen und Schmieden passend für diese Region, genau für diesen Berg, geschaffen. Was für eine Beute! 35
Wer hätte gedacht, dass wir jemals einen so großartigen archäologischen Fund, nein, »einen der bedeutendsten archäologischen Funde des letzten Jahrhunderts«, 36 zwei verkaterten Sondengängern zu verdanken haben würden! Eigentlich sollten wir froh sein, dass sich die beiden am Vorabend ihrer Expedition das eine oder andere Bier zu viel bestellt hatten, sonst wäre die Scheibe vermutlich bis heute noch nicht entdeckt.
2003 , vier Jahre später, wurden Mario Renner und Henry Westphal wegen Hehlerei zu Bewährungsstrafen verurteilt. Warum? Was war passiert? Hatten sie etwas falsch gemacht? Tatsächlich begann ihre Straftat gleich nach dem Fund der Scheibe. Denn in Sachsen-Anhalt, wo sie sie bargen, gilt ein sogenanntes Schatzregal. Das bedeutet: Alle Schätze, die man dort findet, gehören automatisch dem Bundesland. Westphal und Renner hätten ihre Entdeckung umgehend den Behörden übergeben müssen, doch das taten sie nicht. Sie verkauften sie gleich am nächsten Tag weiter, für 31000 Deutsche Mark. Ein stolzer Preis für die Sondengänger, tatsächlich aber eine lächerliche Summe, denn 2006 wurde die Himmelsscheibe mit 100 Millionen Euro versichert. Ihr wahrer Wert: schlicht unschätzbar.
Vom ersten Käufer wechselte sie in den kommenden Jahren in die Hände verschiedener Interessenten und wurde zwischenzeitlich auch einigen deutschen Landesmuseen angeboten. 37 Doch sobald diese erfuhren, dass das Fundstück aus einem Bundesland mit Schatzregal stammte, lehnten sie ab, denn so ein Kauf wäre illegal gewesen. Schließlich fand die Scheibe ihren Weg zu einem Paar in der Schweiz, das dann dem Landesarchäologen von Sachsen-Anhalt, Harald Meller, und der Schweizer Polizei ins Netz ging. Meller gab sich als Experte für Edelmetalle aus und sollte den beiden Hehlern die Echtheit der Scheibe bestätigen. Man traf sich am 23 . Februar 2002 in der Kellerbar eines Luxushotels in Basel, 38 wo Meller die Scheibe mittels Natriumsulfit und Salpetersäure auf ihren Bronzegehalt testete. Er selbst hatte eigentlich keine Ahnung von solchen chemischen Verfahren, war aber kurz vorher von einem Restaurator in deren Benutzung eingeweiht worden, damit seine Undercover-Identität als Edelmetallexperte nicht aufflog. Schließlich griff die Baseler Polizei zu und stellte die Hehlerware sicher. Durch Unterstützung einiger Mittelsmänner konnten die Verkaufs- und Fundgeschichte der Himmelsscheibe aufgearbeitet, die Ausgrabungsstelle von den Behörden identifiziert und Mario Renner und Henry Westphal als ursprüngliche Raubgräber überführt werden. 39
Die kreisrunde Bronzescheibe gilt heute als älteste konkrete astronomische Aufzeichnung aus einer frühen europäischen Hochkultur. Bevor Westphal und Renner sie bei ihren Grabungen aufspürten, ruhte sie 3600 Jahre lang in der Erde. Man vermutet, dass sie gemeinsam mit den Schwertern und dem Rest des Fundes als Opfergabe vergraben wurde.
Diese archäologische Entdeckung beweist, dass Menschen schon in der Bronzezeit ein sehr gutes Verständnis des Nachthimmels, der Himmelskörper und des jährlichen Rhythmus der Sonne zwischen Winter- und Sommersonnenwende hatten. Unsere Vorfahren beschäftigten sich intensiv mit den verschiedenen Konstellationen und konnten Himmelsrichtungen benennen, Tausende Jahre vor Erfindung des Magnetkompasses. Aber wie viel genau sie damals schon wussten, ob sie sich die Jahreszeiten erklären oder die Bewegung der Planeten nachvollziehen konnten, werden wir vermutlich nie erfahren. Fest steht jedoch: Die Neugier des Menschen, der Wille, seine Umgebung zu verstehen und deren versteckte Botschaften zu entschlüsseln, begann nicht erst mit dem Zeitalter der wissenschaftlichen Revolution im 16 . Jahrhundert, sondern schon viele, viele Jahre zuvor.