Kapitel 3

Ein Genie kommt selten sympathisch

Im Jahr 1665 kehrte Isaac Newton nach Hause zurück, mit 22 Jahren. Es war allerdings keine freiwillige Entscheidung. Er hatte gerade an der Universität in Cambridge seinen Abschluss in Naturphilosophie gemacht und wollte eigentlich nun mit seiner wissenschaftlichen Laufbahn so richtig durchstarten, als die Pest ausbrach. Die Universität wurde geschlossen, und Newton zog wieder nach Woolsthorpe Manor, wo er seine Kindheit und Jugend verbracht hatte.

Man kann über Isaac Newton so einiges sagen, aber leicht hatte er es zu Anfang seines Lebens nicht. Sein Vater, der ebenfalls Isaac hieß, war schon vor seiner Geburt gestorben. Seine Mutter ließ ihn im Alter von drei Jahren zurück, als sie wieder heiratete und zu ihrem neuen Gatten zog. Newton wuchs in der Obhut seiner Großeltern auf. Doch die Zwangsisolation von 1665 , die auch noch das ganze nächste Jahr andauerte, war rückblickend womöglich das Beste, was ihm und der Welt der Wissenschaft jemals passiert ist. In dieser Zeit konzentrierte er sich nämlich voll und ganz auf seine Forschungen und verfasste seine wichtigsten Arbeiten: Er entwickelte eine völlig neue Mathematik, führte bahnbrechende Experimente zu den Eigenschaften von Licht und Farben durch und dachte ausführlich über die Bewegung der Himmelskörper und die Schwerkraft nach.

Newtons Art zu arbeiten bewegte sich damals schon an der Grenze zum Manischen. Er »vergaß manchmal komplett, zu essen«, ging erst »gegen zwei oder drei ins Bett, manchmal sogar erst um vier oder fünf« und erschien zu gesellschaftlichen Anlässen, wenn überhaupt, »in schäbigen Schuhen, zerrissenen Strümpfen und mit ungekämmtem Haar«, 69 schrieb sein späterer Assistent in Cambridge einmal in einem Brief über ihn. Dabei ging Newton, der heute als der Urgroßvater der modernen Physik gefeiert wird, nicht selten Ideen nach, die wir heute als Humbug abtun würden. Die meiste Lebenszeit verbrachte er nicht mit der Ergründung physikalischer Naturgesetze, sondern mit dem Durchforsten religiöser Texte auf übernatürliche Bedeutungen und versteckte numerologische Nachrichten. »In seiner privaten Bibliothek fanden sich fast 500 Bücher über Theologie, aber nur 52 Bücher über Physik. Als die (meisten der) Papiere aus seinem Nachlass im Jahr 1936 versteigert wurden, umfasste der Katalog insgesamt Texte mit mehr als drei Millionen von Newton geschriebenen Worten. Fast die Hälfte beschäftigte sich mit Theologie, Religion und der Auslegung der Bibel. Ungefähr 650000 Worte widmete Newton der Alchemie«, 70 schreibt der Wissenschaftsjournalist Florian Freistetter über ihn. Newton war also eigentlich gar nicht der erste moderne Wissenschaftler, sondern vielmehr »der letzte Zauberer«, 71 wie es der Ökonom und Newton-Fanboy John Maynard Keynes ausdrückte, der einen Großteil von dessen Unterlagen ersteigerte. Dass Newton trotz aller Energie, die er der Entdeckung des Steins der Weisen oder des Tranks der Unsterblichkeit widmete, bis heute mit seinen physikalischen Experimenten, Formeln und Theorien einen unantastbaren Legendenstatus innehat, damit hätte vermutlich nicht mal er selbst gerechnet.

Einen Namen machte sich Newton aber auch als Exzentriker, der alles in seiner Macht Stehende tat, um seine Forschungen voranzutreiben. Berühmt-berüchtigt ist hier unter anderem sein Streit mit dem englischen Astronomen John Flamsteed, den er fast in die Vergessenheit gemobbt hätte. Er klaute Flamsteeds Daten, veröffentlichte sie ohne dessen Zustimmung und nutzte seinen Einfluss am englischen Königshof, um die Forschungsgelder für Flamsteed streichen zu lassen. Warum er das tat? Dazu später in Ruhe mehr. Auch der deutsche Mathematiker Gottfried Wilhelm Leibniz bekam sein Fett weg: Bei einer der wohl intensivsten Auseinandersetzungen in der Geschichte der Wissenschaft diskutierten die beiden darüber, wer von ihnen der Erste war, der eine bestimmte neue Rechenart entwickelt hatte. Ihr Streit war so heftig, dass er bis heute fortgeführt wird, obwohl Newton und Leibniz schon 300 Jahre tot sind.

Dabei war Newton eigentlich selten darauf erpicht, seine Forschungen und Errungenschaften mit der Welt zu teilen. Die Personen, mit denen er sich nicht zerstritten hatte, mussten ihn teilweise geradezu anflehen, sie zu veröffentlichen. Er selbst sagte dazu einmal: »Ich kann nicht erkennen, was an öffentlicher Wertschätzung so erstrebenswert ist. Es würde die Zahl meiner Bekanntschaften erhöhen, was ich nach Möglichkeit zu vermeiden suche.« 72

Genie und Wahnsinn liegen ja bekanntermaßen oft nah beieinander, und niemand verkörpert diese Beobachtung wohl so gut wie Isaac Newton. Einmal versuchte er zu erforschen, wie das menschliche Auge funktioniert, und führte deshalb eine Reihe höchst fragwürdiger Experimente durch. Zum Beispiel schaute er mit einem Auge so lange in die Sonne, bis er nichts mehr sehen konnte. Eigentlich wollte er auf diese Weise ein Nachbild erschaffen, eine optische Illusion, die anhält, auch wenn man das Auge schließt. Sein Auge wurde dabei aber ganz schön in Mitleidenschaft gezogen, und um sich von den Strapazen zu erholen, musste er mehrere Tage in einem abgedunkelten Raum verbringen. Ein Jahr später war er auf der Mission, die Natur seiner Netzhaut näher zu untersuchen, und schob sich dafür eine Nadel in den Hohlraum zwischen Augapfel und Augenhöhle. 73 Spannende Anekdoten, die gut veranschaulichen, mit wem wir es hier zu tun haben: dem vielleicht wahnsinnigsten Genie aller Zeiten. Aber bevor wir tiefer in seine Arbeiten einsteigen, ist es Zeit für eine Tasse Tee.