Mit dem Apfel bis zum Mond und zurück

Die nun endlich zu Papier gebrachten Berechnungen Newtons beruhten auf den Gedanken und Experimenten, die er etwa 20 Jahre zuvor in der häuslichen Isolation von 1665 /66 in Woolsthorpe Manor angestellt hatte. Die Rede ist selbstverständlich von dem legendären Apfel, der ihm auf den Kopf fiel. Nun, ob das wirklich exakt so passiert ist, darüber streiten sich Historikerinnen und Historiker noch heute, aber fest steht, dass sich Newton damals Gedanken über Objekte wie Äpfel oder den Mond machte. Denn Äpfel hängen an Bäumen und fallen in Richtung Erde. Der Mond hängt am Himmel, über der Erde, und bewegt sich um sie herum. Newton verstand, dass auf beide Körper, den Apfel im Garten von Woolsthorpe Manor und den Mond am Himmel, dieselbe Kraft wirkt: die Schwerkraft oder auch Gravitation. Wobei sich deren Wirkung, wie von Halley vermutet, mit dem Abstand zum Quadrat verändert. Sprich: Wäre uns der Mond doppelt so nahe, wie er es tatsächlich ist, würde sich die Anziehungskraft, mit der die Erde auf ihn wirkt, nicht verdoppeln, sondern vervierfachen. Diesen Effekt beschrieb Newton in seinen Principia mit dem allgemeinen Gravitationsgesetz, der Formel, die wir heute kennen als:

Was man alles Tolles mit dieser Formel anstellen kann, damit beschäftigen wir uns noch intensiv im nächsten Kapitel. Aber vorher wollen wir die Frage klären: Zieht die Erde wirklich den Mond an? Und falls ja, warum fällt er dann nicht auf die Erde? Er schwebt doch in der Schwerelosigkeit vor sich hin, von einer »Anziehungskraft« bemerkt man da herzlich wenig, oder? Nun, das Konzept der Schwerelosigkeit widerspricht ein Stück weit unserer Intuition. Man denkt immer, wenn man weit genug von der Erde wegfliegt, dann setzt irgendwann automatisch die Schwerelosigkeit ein. So funktioniert das aber nicht. Hier ein Beispiel zur Veranschaulichung, was wirklich passiert: Stellen wir uns eine Kugel vor, die von einer Kanone abgefeuert wird. In diesem Beispiel ist der Kugel nichts im Weg, sie fliegt ein paar Hundert Meter, bis die Anziehungskraft der Erde sie wieder herunterzieht und sie zu Boden stürzt.

Abbildung 3.1:
Schuss aus einer Kanone

Angenommen, wir würden eine immer stärkere Kanone bauen, die unsere Kugel mit immer größerer Kraft aus dem Rohr ballert, dann wäre es theoretisch möglich, die Flugstrecke dieser Kanonenkugel immer länger zu machen. Erst fliegt sie ein paar Hundert, dann ein paar Tausend Kilometer. Und wenn wir sie mit genug Kraft abfeuern, dann könnten wir es sogar schaffen, dass ihre Flugzeit unendlich lang wird. Wir schießen dafür die Kugel mit so viel Power in die Luft, dass sie auf 28000 km/h beschleunigt wird und damit auf eine Umlaufbahn um die Erde gelangt.

Das klingt jetzt erst mal komplett bescheuert, aber nichts anderes machen wir mit Satelliten oder Raumstationen, die wir auf eine Umlaufbahn um die Erde schicken. Aber wenn wir jetzt die Kugel mit einer solchen Geschwindigkeit in den Orbit knüppeln, warum fällt sie dann nicht wieder zurück auf die Erde? Nun, sie befindet sich im Grunde durchgängig in einem perfekten Gleichgewicht zwischen ihrer Fluggeschwindigkeit und der Anziehungskraft der Erde. Stellen wir uns, um das Ganze einfacher zu machen, die Situation zweidimensional vor:

In Abbildung 3 .2 ist die Wirkung der Schwerkraft der Erde auf die Kanonenkugel mit blauen Pfeilen dargestellt. Die schwarzen Pfeile zeigen die Richtung an, in die die Kugel fliegen würde, wenn sie ohne Einwirkung von Schwerkraft dem Pfad folgen könnte, auf den die Kanone sie beim Abschuss gebracht hat. Die gestrichelte Linie markiert die tatsächliche Umlaufbahn: Die Kugel wird abgefeuert, fliegt nach links und verlässt die Erdoberfläche. Die Anziehungskraft der Erde hindert sie nun daran, weiter geradeaus ins Weltall zu fliegen. Ihre Geschwindigkeit ist dabei so hoch, dass sie in der Luft bleibt, statt wieder komplett zur Erde zurückgezogen zu werden. Die Kugel fällt also weiter, nur eben um die Erde herum, und bleibt durch die konstant auf sie einwirkende Schwerkraft auf einer beständigen Umlaufbahn. Das heißt, eigentlich sind Objekte im Orbit um unsere Erde nicht wirklich »schwerelos«, sondern befinden sich im freien Fall um unseren Planeten. Wobei, diese Formulierung ist so auch nicht ganz richtig. Astronautinnen und Astronauten sind schwerelos, weil sie sich im freien Fall befinden.

Abbildung 3.2:
Kanonenkugel auf einer Umlaufbahn um die Erde

Schwerelosigkeit ist keine magische Eigenschaft des Universums, die beginnt, wenn wir x Kilometer nach oben fliegen; Schwerelosigkeit wird durch den freien Fall ausgelöst. Und genau das klingt irgendwie unlogisch. Wie können wir denn bitte fallen, wenn wir schwerelos sind? Dann müssten wir doch schweben?! Aber das stimmt eben nicht. Sondern: Wir sind schwerelos, wenn wir unser Gewicht nicht mehr spüren können. Das heißt, auch auf einem Trampolin können wir Schwerelosigkeit erfahren. In dem Moment, wo unsere Füße das Sprungnetz verlassen, sind wir schwerelos. Die Astronauten auf der ISS fallen zwar mit über 28000 km/h um die Erde herum, aber sie empfinden dieselbe Schwerelosigkeit wie Kinder, die 400 Kilometer unter ihnen auf einem Trampolin jauchzend in die Höhe springen. Jeder und jede von uns hat also schon einmal Schwerelosigkeit erlebt, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick.

Wenn wir jetzt aber eine Kanonenkugel nicht nur auf eine Umlaufbahn um die Erde bringen, sondern sie tatsächlich ins Weltall schießen wollten, dann müssten wir sie auf kosmische Geschwindigkeiten beschleunigen, und zwar auf ca. 40000 km/h. Dann würde die Schwerkraft der Erde sie nicht mehr von ihrem Kurs abbringen, frei wäre sie aber noch lange nicht. Denn jetzt befände sie sich auf einer Umlaufbahn um die Sonne. Um auch deren Anziehungskraft zu entkommen, müsste sie noch schneller werden und eine Geschwindigkeit von über 60000 km/h erreichen. Erst dann könnte sie unser Sonnensystem verlassen. Doch die Gravitation zu 100 Prozent abschütteln, das könnte sie nie. Alle Körper im Universum stehen in Wechselwirkung miteinander, sind verbunden durch die Schwerkraft. Deren Reichweite ist unendlich, das heißt, in jedem Moment wirkt alles im Universum mit seiner Schwerkraft auf euch, und umgekehrt, auch ihr wirkt auf alles andere. Egal, ob dieses Buch, das supermassive schwarze Loch in der Mitte unserer Galaxie oder ein explodierender Stern viele Milliarden Lichtjahre von uns entfernt: Alles zieht euch an, und ihr zieht alles an. Wenn auch nur sehr, sehr schwach. Zu behaupten, dass wir mit allem im Universum in Verbindung stehen, klingt zwar erst mal nach esoterischem Firlefanz, ist aber tatsächlich physikalische Realität.