Von genialen Griechen und randalierenden Römern

Ein paar Jahrzehnte nach Eratosthenes’ Weltvermessung beginnt der römische Eroberungsfeldzug. Ganz Italien wird besetzt. Ganz Italien? Nein! Eine von unbeugsamen Griechen bewohnte Insel hört nicht auf, den Eindringlingen Widerstand zu leisten. Der Legende nach werden etwa 200 Jahre v.u.Z. die Kriegsschiffe des römischen Feldherrn Marcus Claudius Marcellus vor der Küste Siziliens in Stücke gerissen. Die damals griechische Stadt Syrakus wäre dem Angriff der Römer zwar eigentlich nicht gewachsen, doch dank der Kriegsmaschinerie, mit der sie ausgestattet ist, kann sie das Schlimmste vorerst verhindern. Riesige mechanische Krallen packen die Schiffe der Römer an der Spitze und versenken sie im Meer, quasi im Handumdrehen. Mächtige Katapulte schleudern Gesteinsbrocken Hunderte Meter durch die Luft und zerquetschen die anstürmenden römischen Soldaten wie Fliegen. 96

Abbildung 4.3:
Die Schlacht von Syrakus

Die Römer ergriffen vorerst die Flucht, fluchend und angsterfüllt. Wie hatten die Bewohner von Syrakus es geschafft, ihren Angriff abzuwehren? Wer hatte dieses unglaubliche Kriegswerkzeug konstruiert, das seiner Zeit um Jahrzehnte voraus war? Der Befehlshaber Marcellus fand schnell den Namen des Mannes heraus, der dafür verantwortlich war: Archimedes.

Archimedes war ein genialer Erfinder, Mathematiker und Ingenieur. Unter anderem hatte er ein umfassendes Werk mit dem Titel Über das Gleichgewicht ebener Flächen geschrieben, in dem es um die Schwerpunkte von Objekten und den Effekt der Hebelwirkung ging. 97 Mit seinem Verständnis der Physik des Hebeleffekts konnte er mehrere praktische Anwendungen entwickeln, wie zum Beispiel die riesigen Schiffskrallen, die den Angriff der Römer abwehrten, was ihn schnell zu einem reichen und angesehenen Mann in Syrakus machte. »Gib mir einen festen Punkt, und ich hebe die Welt aus den Angeln«, soll er einmal zu König Hieron, dem Herrscher von Syrakus, gesagt haben. 98 In dessen Auftrag baute Archimedes einen Flaschenzug, mit dem ein einzelner Mensch ein komplett beladenes Schiff zu Wasser lassen konnte. Und dann entdeckte er noch das später nach ihm benannte Archimedische Prinzip.

Das kam so: Der Legende nach betraute König Hieron ihn mit der Aufgabe, den Goldgehalt einer Krone zu überprüfen, ohne sie zu zerstören. Der König hatte einen Goldschmied gebeten, ihm eine Krone anzufertigen, und ihm das dafür nötige Gold in unbearbeiteter Form übergeben. Nun, da er das fertige Werk in Händen hielt, argwöhnte er, der Goldschmied könnte ihn übers Ohr gehauen haben, indem er die Krone mit billigerem Material gestreckt und den Rest des Goldes für sich behalten hatte. König Hieron bat also den klügsten Mann, den er kannte, herauszufinden, ob sein Verdacht zutraf.

Archimedes zerbrach sich über die Problemstellung tagelang den Kopf. Als er seinen Körper eines Abends zum Baden in eine volle Wanne ließ und das warme Wasser über den Rand schwappte, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Er konnte den tatsächlichen Goldgehalt der Krone feststellen, indem er überprüfte, wie viel Wasser sie verdrängte, und dann diesen Wert mit dem eines Goldbarren verglich. Euphorisiert von seiner Erkenntnis, sprang Archimedes auf, rannte splitterfasernackt durch die Straßen von Syrakus und schrie wieder und wieder: »Heureka!« Ich hab’s gefunden! Ob das wirklich genauso passiert ist oder ob es sich hier wie beim newtonschen Apfel eher um ein Märchen der Wissenschaftsgeschichte handelt, lässt sich nicht mehr feststellen. Eine gute Story ist es aber auf jeden Fall. 6

Wie sich herausstellen sollte, besaß Archimedes auch erstaunlich präzise Kenntnisse über die wahre Natur unseres Universums. Im antiken Griechenland hatte bekanntlich bereits die Auffassung vorgeherrscht, dass wir auf einem kugelförmigen Planeten leben. Die Erde aber, so glaubte man, stehe im Zentrum von allem. Wobei nicht alle Gelehrten damals dieses geozentrische Weltbild vertraten. Niemand Geringeres als Archimedes beispielsweise lehrte, die Sonne befinde sich im Zentrum des Universums, nicht die Erde. Wow! Ein heliozentrisches Weltbild? Vier Jahrhunderte bevor Claudius Ptomeläus, der Verfasser des Almagest, geboren wurde? 1700 Jahre vor Kopernikus? Unfassbar!

Abbildung 4.4:
Parallaxe Bewegung

Die Idee hatte Archimedes von einem Philosophen namens Aristarchos von Samos übernommen. Aristarchos, der von derselben Insel stammte wie unser geliebter Zahlenfanatiker Pythagoras, berechnete die Größe von Erde, Mond und Sonne sowie die Entfernungen zwischen ihnen. Zwar lagen seine Ergebnisse deutlich unter den tatsächlichen Werten (beim Abstand Mond–Erde verschätzte er sich um den Faktor 20 , bei der Größe der Sonne um das 15 -Fache 99 ), dennoch war er einer der Ersten, die verstanden, dass das Universum weitaus größer sein musste als bislang angenommen.

Viele antike Kulturen glaubten ja, die Himmelskörper seien fast schon zum Greifen nahe. Die alten Ägypter stellten sich den Himmel als eine Art Zeltdach vor, das an vier Ecken der Erde durch vier Bergspitzen aufgespannt wurde. 100 In der griechischen Mythologie war die Entfernung der Sonne von der Erde angeblich so kurz, dass Ikarus ihr mit seinen Flügeln aus Wachs zu nahe kam, sodass sie schmolzen und er ins Meer stürzte. 101 Und als Phaethon, der Sohn des griechischen Sonnengottes, einst die Kontrolle über den Sonnenwagen seines Vaters verlor, krachte er an die nordafrikanische Küste und verbrannte dabei Land und Leute, womit die griechische Mythologie die dunkle Hautfarbe der Afrikaner und Afrikanerinnen erklärte. 102

Aristarchos’ Annahme, die Erde drehe sich um die Sonne, führte zu einem kleinen Dilemma. Denn wenn uns die Sterne derart nahe sind, dann müsste man die Tatsache, dass sich die Erde bewegt, ganz einfach am Himmel erkennen können. Und zwar an einer scheinbaren Bewegung der Sterne: einer sogenannten Parallaxe. Was das ist? Zur Veranschaulichung dieses Phänomens blicken wir einmal auf ein Objekt in der Ferne, zum Beispiel eine Baumgruppe, und halten uns dieses Buch etwa eine Armlänge entfernt vors Gesicht. Jetzt bewegen wir unseren Kopf von rechts nach links.

Abbildung 4.5:
Stellare Parallaxe

Während sich das uns nahe Objekt, das Buch, von links nach rechts bewegt, geht der Baum im Hintergrund mit unserem Kopf von rechts nach links. Genau so eine parallaxe Bewegung müsste auch am Nachthimmel zu sehen sein, wenn sich die Erde (analog unserem Kopf) bewegt. Dabei würden sich Sterne, die uns näher sind, langsam in die eine und weiter entfernte Sterne in die andere Richtung bewegen.

Da die Griechen diese Bewegung aber nicht wahrnehmen konnten, glaubten die meisten von ihnen, die Erde stehe still. Was sie nicht wussten: Man kann die stellare Parallaxe tatsächlich sehen, aber sie ist unglaublich winzig, weil die Sterne so unglaublich weit weg sind. Tatsächlich ließ sie sich erst feststellen, als astronomische Werkzeuge zur Verfügung standen, die weitaus präziser waren, als es die Augen der alten Griechen je hätten sein können. Das erste Mal wurde die stellare Parallaxe im Jahr 1838 gemessen. 103 Deshalb war es ganz schön mutig, dass Aristarchos von Samos behauptete, die Erde würde sich bewegen.

Auch Archimedes war wie gesagt davon überzeugt und berechnete daraufhin den Durchmesser des kompletten Universums auf etwa zwei Lichtjahre. 104 Das war ziemlich beeindruckend, vor allem, da es so etwas wie ein Lichtjahr als Größenangabe nicht gab und Archimedes diesen Wert in Stadien angeben musste. 105 Und auch wenn seine Schätzung weit unter dem heute bekannten Wert liegt, 7 war er seinen Kollegen damit um Lichtjahre (ha!) voraus.

Um diese schwer vorstellbare Größe etwas greifbarer zu machen, ging Archimedes einer bizarren Fragestellung nach: Wie viele Sandkörner braucht es, um das Universum komplett auszufüllen? Für die Ausführung dieser Rechenaufgabe benötigte er erst mal eine neue Schreibweise, um große Zahlen miteinander multiplizieren zu können. Also erfand er eine: 106 Er nahm die größte ihm bekannte Zahl – 10000 , im Griechischen Myriade genannt – und multiplizierte sie mit sich selbst. Heraus kam eine Myriade Myriaden, geschrieben:

10 8

Diese Schreibweise wird in der Wissenschaft bis heute benutzt, um große Zahlen abzubilden. So wird eine Million (1000000 ) dargestellt als: 10 6 (10 *10 *10 *10 *10 *10 ). Auf dieser Grundlage errechnete Archimedes nun, dass man 10 63 Sandkörner bräuchte, um das komplette Universum auszufüllen. 107 Obwohl er dabei mit einem – verglichen mit unserem heutigen Wissen – viel zu kleinen Universum rechnete, ist sein Ergebnis überraschenderweise ziemlich nah an der Zahl, auf die der britische Astrophysiker Arthur Eddington im Jahr 1936 kam, als er berechnete, wie viele Protonen sich im sichtbaren Universum befinden, nämlich etwa 10 80 Konvertiert man Archimedes’ Anzahl von Sandkörnern in die Anzahl ihrer Atomkerne, kommt man auf denselben Wert, obwohl die beiden Wissenschaftler von komplett unterschiedlich großen Universen ausgegangen waren. 108 Irgendwie creepy.

Archimedes’ Leben war also voll unglaublicher Entdeckungen und Erkenntnisse. Doch trotz seines guten Rufes und seiner Erfindungen schaffte er es letztlich nicht, die Stadt Syrakus vor dem Untergang zu bewahren. Nach dem ersten erfolglosen Angriff auf die sizilianische Küstenstadt starteten die Römer einen weiteren Versuch, wieder unter Führung von Marcus Claudius Marcellus. Er war erpicht darauf, Syrakus zu zerstören und Archimedes gefangen zu nehmen, damit der seine legendären Kriegsmaschinen in Zukunft für das römische Imperium baute. Als einer von Marcellus’ Soldaten Archimedes aufspürte, hockte der angeblich völlig in Gedanken versunken am Strand und zeichnete geometrische Figuren in den Sand. Der Soldat forderte ihn in ruppigem Ton auf mitzukommen. Der damals schon 75 Jahre alte Archimedes, der es absolut nicht gewohnt war, dass man im Befehlston mit ihm sprach, antwortete mit dem legendären Satz: »Noli turbare circulos meos «, 109 was so viel heißt wie: Versau mir meine Kreise nicht. Daraufhin streckte der Soldat ihn nieder und tötete so einen der letzten großen Denker der Antike.

Die Menschheit verlor an diesem Tag nicht nur einen genialen Erfinder, sondern auch einen der wenigen Gelehrten, die die Idee eines heliozentrischen Weltbilds hätten weitergeben können. Die Römer interessierte nämlich herzlich wenig, wie viele Sandkörner ins Universum passen, und noch viel weniger, ob Sonne, Erde oder Mond das Zentrum desselben darstellen. Für Wissenschaft und Forschung gab es keinen Platz in ihrem Kaiserreich. Und als sich dann das Christentum rasant in ganz Europa ausbreitete, wurde dem Studium der materiellen Welt immer weniger Wert beigemessen. Die Bibliothek von Alexandria wurde niedergebrannt, der größte Wissensschatz der Antike ging der Menschheit verloren.

Es war Claudius Ptolemäus, einer der letzten griechisch-römischen Denker, der mit seinem Almagest die Chance gehabt hätte, das antike Wissen der Griechen in die Neuzeit zu überführen. Doch er stellte nicht nur wieder die Erde ins Zentrum des Universums, er machte sie auch noch viel zu klein. 29000 Kilometer betrug seiner Auffassung nach ihr Umfang, was 25 Prozent unter dem tatsächlichen Wert liegt, und das, obwohl Eratosthenes den Erdumfang bereits ein halbes Jahrtausend zuvor korrekt ausgerechnet hatte!

Durch den Aufstieg des Römischen Reiches und der römischen Kirche brach ein dunkles Zeitalter an, und es sollten noch viele, viele Jahre vergehen, bevor Neugier wieder eine gern gesehene Eigenschaft war.