Knapp 16 Jahrhunderte nach Archimedes’ Tod begann eine neue Epoche der Entdeckungen, losgetreten von einem der vielleicht größten Idioten in der Geschichte der Seefahrt: Christoph Kolumbus. Der italienische Kapitän und »Entdecker« des amerikanischen Kontinents wird in Kinderbüchern gerne als mutiger, cleverer Abenteurer dargestellt, der, ausgerüstet mit Fernglas und Dreieckshut, die Besiedlung eines neuen Kontinents ermöglichte.
Die Wahrheit sieht leider etwas anders aus. Weder mit der Mathematik noch mit der Navigation nach Karten vertraut, setzte er sein Leben und das seiner kompletten Crew aufs Spiel, als er am 13 . August 1476 den Hafen der portugiesischen Küstenstadt Sagres verließ. Der strenggläubige Navigator hatte laut eigener Aussage sämtliche Schriften über Geografie und Geschichte studiert und ausgerechnet, dass es von den Kanarischen Inseln bis zu den »Indies«, einer Ansammlung von Inseln südöstlich der Küste von Indien, 3550 nautische Meilen seien. Tatsächlich ist die Entfernung mehr als dreimal so groß! Obwohl alle Karten damals etwas anderes behaupteten, setzte Kolumbus Vertrauen in seinen Gott – und richtete sich bei seinen Berechnungen nach dem Almagest, legte also bei der Größe der Erde einen Wert zugrunde, der, wie wir heute wissen, über 11000 Kilometer zu klein war.
Ein weiterer beliebter Mythos lautet, dass Kolumbus damals auf der Suche nach dem Rand der Erde war, da er angeblich glaubte, sie sei flach. Doch das stimmt nicht. Das Wissen der Griechen über die Kugelform unserer Erde wurde dank Ptolemäus ins Mittelalter hinübergerettet. Experten und Historikerinnen sind sich heute einig, dass die Entdeckergeneration um Christoph Kolumbus keineswegs davon ausging, die Erde sei eine Scheibe. 110 Dass viele von uns meinen, im Mittelalter sei es Konsens gewesen, dass die Erde flach ist, haben wir vermutlich einer hitzigen Debatte zwischen Religion und Wissenschaft Ende des 19 . Jahrhunderts zu verdanken. 111 Wissenschaftsnahe Autoren verbreiteten damals die These vom angeblichen Glauben an eine flache Erde, um Gegner der Evolutionstheorie zu diffamieren und Öl ins ewig lodernde Feuer des Konflikts zwischen Kirche und Wissenschaft zu gießen. Ihnen haben wir es zu »verdanken«, dass diese Falschinformation noch heute sogar in vielen Schulbüchern zu finden ist.
Kolumbus glaubte aber auch nicht unbedingt an die kugelförmige Erde der Griechen, sondern hatte eine ganz eigene Vorstellung von der Gestalt unseres Planeten. Bei seiner dritten Reise nach Amerika stellte er die These auf, die Erde sei vielleicht birnenförmig oder wie eine Kugel mit Beule, so wie die Brust einer Frau. 112 Den Nippel glaubte er entdeckt zu haben, als er »Indien« erreichte.
Heute wissen wir natürlich, dass er am 12 . Oktober 1492 mit seinen Schiffen nicht in Indien, sondern in Amerika anlegte. Der Kontinent rettete ihn und seine Crew, denn sie hätten niemals genug Proviant an Bord gehabt, um die lange Reise bis nach Indien zu überleben. In Amerika angekommen, begann Kolumbus mit dem, wofür er die Reise angetreten hatte: Er versuchte, die Ureinwohner zu missionieren, und schickte die Unbeugsamen als Sklaven nach Hause zur spanischen Königin.
Mit der Zeit wurden Zweifel laut, ob Kolumbus tatsächlich in Indien war oder ob er nicht etwas wesentlich Größeres entdeckt hatte. Doch der »unfehlbare« Seefahrer wollte keinen Fehler eingestehen. Erst neun Jahre später, als mehr und mehr spanische Entdecker sich die neue Seeroute nach Indien genauer anschauten, umsegelte der italienische Kaufmann Amerigo Vespucci das Kap Hoorn, den südlichsten Zipfel Südamerikas, und realisierte, dass es sich bei dem, was Kolumbus entdeckt hatte, um einen komplett neuen Kontinent handelte. 113 Von wegen Indien! Deshalb trägt dieser Kontinent auch bis heute Amerigos Namen, also »Amerika«, und nicht den von Kolumbus.
Letzterer bedrohte übrigens jeden, der sich seinen Überzeugungen entgegenstellte, mit dem Tod und starb schließlich im Jahr 1506 , immer noch der Ansicht, er habe eine neue Abkürzung nach Asien entdeckt.
Die nachfolgenden europäischen Eroberer des amerikanischen Kontinents sorgten dafür, dass über 50 Millionen Ureinwohner getötet wurden oder an eingeschleppten Krankheiten starben. Ein weiterer Wissensschatz alter Kulturen, in diesem Fall der der Mayas, Inkas und Azteken (sozusagen die Griechen Amerikas), zerstört durch die Gier weißer Kriegsherren und fehlgeleiteter Missionare. Bis heute versuchen Archäologinnen und Historiker zu rekonstruieren, wie viel genau die Urvölker Amerikas über unsere Welt und den Kosmos wussten. Die Mayas hatten nämlich schon früh recht genaue Kenntnisse über die Regelmäßigkeit der Bewegungen am Himmel. Sie bauten unterirdische Observatorien, mit denen sie die Himmelskörper genauestens untersuchen konnten. Ihr Mondkalender war sogar präziser als der des Ptolemäus. 114 Und: Sie entwickelten ein ausgeklügeltes Schrift- und Symbolsystem, mit dem sie ihr Wissen aufzeichnen und weitergeben konnten. Nur leider sahen die spanischen Eroberer sämtliche Aufzeichnungen der mesoamerikanischen Urvölker als Bedrohung für ihre religiöse Mission an und zertrümmerten den Großteil von deren Steintafeln. Wer weiß, wo die Menschheit heute stünde, wenn wir das Wissen der Griechen, der Mayas und anderer Hochkulturen nicht zerstört hätten!