Vom Korallenriff bis zum Anfang der Erde

Als Charles Darwin im Dezember 1831 seine fünfjährige Weltumseglung an Bord der HMS Beagle begann, war er gerade mal 22 Jahre alt. Der Kapitän des knapp 30 Meter langen Schiffs, Admiral Robert FitzRoy, gilt als Erfinder der Wettervorhersage 147 und hätte Darwin beinahe nicht mitgenommen, weil ihm dessen Nase nicht gefiel. 148 Wir können froh sein, dass er es dann doch tat, denn die nächsten Jahre sollten die eindrucksvollste Zeit in Charles Darwins Leben werden, und zum Glück hatte er sich für die einsamen Nächte in seiner Kajüte die passende Lektüre mitgenommen. Die Rede ist von Charles Lyells Principles of Geology . Lyell war Vertreter einer Gegenbewegung zu Cuviers Katastrophismus, dem sogenannten Aktualismus oder Gleichförmigkeitsprinzip . Er interpretierte die geologischen Funde der vergangenen Jahrzehnte folgendermaßen: Die Veränderung der Erdoberfläche geschehe nicht urplötzlich durch Katastrophen wie gewaltige Vulkanausbrüche oder biblische Sintfluten, sondern eher graduell, im Verlauf langer Zeitabschnitte. Zwar seien Vulkanausbrüche und Erdbeben daran beteiligt, aber eben viel langsamer, als es der Katastrophismus nahelegte. Die Veränderung in den Sedimentschichten und das Aussterben der Spezies begründete Lyell mit Erosion und langsamen Veränderungen des Klimas, wie wir sie auch heute beobachten können.

Die Principles of Geology, dessen ersten Band Lyell 1830 veröffentlichte, veränderten Charles Darwins Sicht auf die Welt, wie er sie von Bord der HMS Beagle aus beobachtete, maßgeblich. Er habe das Gefühl, seine Bücher und damit auch seine Evolutionstheorie entstammten zur Hälfte dem Gehirn von Sir Charles Lyell, gab er einmal sinngemäß zu. 149 Nicht nur der alten Streitfrage zu den bergsteigenden Fischen begegnete er – als er in den Anden Fossilien von Meereslebewesen auf über 3600 Meter fand – mit einer lyellschen Perspektive, wie wir gleich sehen werden. 150 Er hatte auch das »Glück«, am 20 . Februar 1835 in Chile von einem Erdbeben der Stärke 8 ,5 aus dem Mittagsschlaf geweckt zu werden. Bei seinen späteren Untersuchungen stellte er fest, dass nur zwei Minuten des Erdbebens ausgereicht hatten, um die Insel Santa Maria um satte drei Meter anzuheben. 151 Dies sah er als weiteres Indiz für die Richtigkeit des lyellschen Aktualismus: Fischfossilien waren in Bergregionen zu finden, weil diese Bergspitzen einst unter Wasser gelegen und sich durch eine ganze Reihe natürlicher Phänomene wie Erdbeben und Vulkanausbrüche über Tausende, vielleicht sogar Millionen von Jahren nach und nach gen Himmel gehoben hatten.

Abbildung 5.3:
Entstehung eines Korallenatolls

Heute kennen und feiern wir Darwin als den großen Kopf hinter der Evolutionstheorie, zu der wir später noch kommen, aber er hat auch zur Streitfrage rund um das Alter unserer Erde Wichtiges beigetragen. Während seiner Reise staunte er nicht schlecht über Atolle, ringförmige Anordnungen von wunderschönen Korallenriffen, die er vom Schiff aus mitten im Pazifik entdeckte. Wie konnte es sein, dass diese Riffe aus den Tiefen des Meeres bis zur Oberfläche ragten? Korallen können eigentlich nur etwa zehn bis 50 Meter unter Wasser überleben, denn sie brauchen die Nähe zum Sonnenlicht. Dass ein paar waghalsige Exemplare einfach Hunderte Meter vom Grund des Meeres nach oben geklettert sein sollten, war komplett undenkbar. Darwins Kopf brummte. Doch er fand eine Antwort. Seine Theorie? Dass die Atolle fast perfekt ringförmig waren, liege daran, dass sich in ihrer Mitte früher einmal eine Vulkaninsel befunden habe. Nur, wo war diese Insel jetzt? Kurz Zigaretten holen? Fast. Wenn Vulkane sich vom Meeresboden bis an die Wasseroberfläche und darüber hinaus erheben konnten, so musste es auch möglich sein, dass sie wieder darunter verschwanden, und zwar durch sukzessive Erosion. Die Insel wird Stück für Stück von der Witterung abgetragen und sinkt langsam hinab. Wenn sich aber, bevor die Insel erneut im Meer verschwindet, ein Korallenriff um sie herum gebildet hat, kann dieses Riff an der Wasseroberfläche bleiben, während sich die Insel nach unten zurückzieht. Denn Korallen bauen aufeinander auf: Die toten Korallen bleiben unten, die jungen klettern nach oben, um an der Meeresoberfläche zu sein.

Das war nicht nur eine verdammt gute Erklärung, es war auch ein K.-o.-Schlag für den Katastrophismus. Denn damit sich die Korallen an der Oberfläche halten konnten, musste das Absinken der Insel langsam und allmählich passiert sein und nicht urplötzlich. Wären die Vulkaninseln durch ein apokalyptisches Event in die Tiefe gestürzt, hätten die Korallen mit untergehen müssen. Die Korallenriffe im Pazifik waren der Schlüssel zum Alter der Erde, und Darwins Verstand war scharf genug, das zu erkennen. Denn wäre die Erde wirklich nur ein paar Tausend Jahre alt, dann hätten die Korallenriffe niemals genügend Zeit gehabt, sich so zu formen. Ein erstes, gutes Indiz, dass die Erde in Wahrheit viel, viel älter sein musste als bislang angenommen. Doch wie sollte man das beweisen? Dafür brauchte es noch weitaus mehr als nur eine gute Theorie zur Formung von ein paar Korallenriffen.

Darwins Idee

Darwin kehrte 1836 zurück in seine Heimat England. Er hatte die Welt gesehen und viele Prozesse im Zusammenhang mit ihrer Entwicklung so gut verstanden wie kaum jemand zuvor. Währenddessen hatte er Aberhunderte Seiten Notizen gemacht, geologische und zoologische Aufsätze geschrieben und schließlich knapp 4000 Fossilien, Pflanzen, ausgestopfte Tiere, einzelne Felle, Häute und Knochen auf dem Schiff mit nach Hause genommen, eine beachtliche Sammlung, die der Kapitän der Beagle als »wertlosen Plunder« bezeichnete. 152

Merkwürdig nur, dass Darwin die Evolutionstheorie, für die er bis heute weltweiten Ruhm genießt, erst im Jahr 1859 als Buch veröffentlichte, unter dem Titel On the Origin of Species (Über die Entstehung der Arten). Also 23 Jahre später. Und das, obwohl er schon kurz nach seiner Rückkehr einen 230 -seitigen Essay zu dem Thema fertiggestellt hatte, den er aber in einer Schreibtischschublade verstauben ließ, zusammen mit der klaren Anweisung, ihn im Falle seines Todes zu veröffentlichen. Warum also hielt er seine große Theorie so lange geheim? War er ein merkwürdiger Eigenbrötler, so wie Newton, der seine Wissenschaft nur für sich selbst betrieb? Keineswegs. In der Zwischenzeit zeugte er zehn Kinder, schrieb Bücher über seine Reise an Bord der Beagle, einen Aufsatz über seine Theorie zur Entstehung von Korallenriffen und, und, und. Der Grund, warum er seine Evolutionstheorie lange Zeit nicht veröffentlichte? Er hatte Respekt vor der Idee. Denn er ahnte, dass er etwas Monumentales in Gang setzen würde und dass es viele mächtige Leute gab, denen seine Erkenntnisse überhaupt nicht gefallen würden. In einem Brief an einen seiner engsten Vertrauten, den Botaniker Joseph Dalton Hooker, schrieb er, das Verfassen dieser Theorie fühle sich an, »als würde man einen Mord gestehen«. 153

Dass er sich schließlich doch für eine Veröffentlichung entschied, lag daran, dass ihm jemand anderes fast zuvorgekommen wäre. Die Rede ist von Alfred Wallace, einem Naturforscher, der Darwin um die fachliche Einschätzung eines Aufsatzes gebeten hatte. Wallace wusste, dass Darwin der Idee der Evolution nicht ganz abgeneigt war. Schon dessen Großvater Erasmus Darwin hatte in seinem Buch Zoonomia davon gesprochen, er könne sich vorstellen, dass alle Lebewesen von einem einzigen Vorfahren abstammen. 154 Tatsächlich hatte Erasmus Darwin sogar ein ausführliches Manuskript dazu verfasst und eine eigene Evolutionstheorie aufgestellt.

Als das Schreiben von Alfred Wallace bei Charles Darwin eintraf, wäre der fast vom Stuhl gefallen, denn in dem Aufsatz mit dem Titel Über die Neigung der Varietäten, sich unbegrenzt vom ursprünglichen Typus zu entfernen führte Wallace etwas aus, das mit Darwins eigener Theorie fast identisch war. In einem Brief an Lyell, den Autor der Principles of Geology, die ihn so sehr beeindruckt hatten, als er auf der HMS Beagle unterwegs war, schrieb Darwin: »Wenn Wallace meinen handschriftlichen Entwurf von 1842 gehabt hätte, hätte er ihn nicht besser zusammenfassen können. Seine Fachbegriffe stehen nun sogar in meinen Kapitelüberschriften.« 155

Die Lösung des Dilemmas? Um Plagiatsvorwürfe zu vermeiden, werden die Theorien von Wallace und Darwin im Juli des Jahres 1858 der Öffentlichkeit vorgestellt. Danach überlässt Wallace Darwin voll und ganz die Bühne, da Letzterer unzählige Belege für seine Theorie gesammelt hatte und mehr Erfahrung auf dem Gebiet der Evolutionsforschung besaß.

 

Charles Darwins Evolutionstheorie lässt sich auf drei einfache Ideen herunterbrechen. Erstens: Variation. Jedes Exemplar einer Spezies ist einzigartig und minimal anders als seine Artgenossen. Zweitens: Überfluss. Alle Lebewesen zeugen mehr Nachkommen als in ihrer natürlichen Umgebung überleben können. Ein Mechanismus, der dafür sorgt, dass es zu einem Kampf zwischen den Individuen kommt, was uns zu drittens führt: natürliche Selektion. Nur diejenigen überleben, die am besten an ihre Umwelt angepasst sind. »Survival of the fittest« bedeutet nicht, wie oft fälschlich behauptet, »das Überleben des Stärkeren«, sondern »das Überleben des am besten Angepassten«. Mit anderen Worten: Bären mit weißem Fell haben in Schneeregionen bessere Überlebenschancen, da sie vor einer weißen Schneelandschaft optisch verschwinden und so ihre Beute »aus dem Nichts« angreifen können. Braunbären haben den gleichen Vorteil in Wäldern. So sortiert die Natur diejenigen aus, die nicht gut in ihre Umgebung passen.

Darwins Buch On the Origin of Species schlägt ein wie eine Bombe. Gleich am ersten Tag wird die komplette erste Auflage verkauft. 156 Und es folgte exakt das wissenschaftliche Erdbeben, das Darwin antizipiert hatte. Viele seiner Kollegen schlugen sich sofort auf seine Seite. Thomas Henry Huxley, ein britischer Biologe und Mitglied der Royal Society, soll sogar gesagt haben: »Wie extrem blöd, dass ich da nicht draufgekommen bin!« 157 Doch auch die Kritiker ließen nicht lange auf sich warten. Samuel Wilberforce, Bischof der anglikanischen Kirche, sicherte sich mit seinem Auftritt bei einer legendären Debatte über Darwins Theorie einen Platz in den Geschichtsbüchern. Am 30 . Juni 1860 versammelte sich alles, was Rang und Namen hatte, im Oxford University Museum of Natural History, um über Die Entstehung der Arten zu diskutieren. Nur Darwin selbst war nicht vor Ort. Er war so gut wie nie zugegen, wenn über seine Ideen gestritten wurde, denn er litt nach seiner Forschungsreise über 40 Jahre lang an einer unbekannten Krankheit. Mehr als 20 Ärzte behandelten ihn, alle ohne Erfolg, und noch heute, knapp 200 Jahre später, gibt es Versuche, ihn posthum zu diagnostizieren. 158 Statt seiner trat also Thomas Huxley an, der sich dank der Verbissenheit, mit der er die Standpunkte Darwins verteidigte, wenn dieser nicht zugegen war, den Spitznamen »Darwins Bulldogge« 159 erwarb. Bischof Samuel Wilberforce machte sich ausgiebig über die Abstammungstheorie Darwins lustig und fragte Huxley schließlich, ob er glaube, dass er über seine Großmutter oder doch eher über seinen Großvater vom Affen abstamme. 160 Eine Steilvorlage, die Huxley nicht ungenutzt ließ. Er stand auf, hielt ein Plädoyer für die Evolutionstheorie und endete mit der Aussage, er stamme lieber von einem Affen ab als von einem Kirchenmann, der keinen Plan habe, wovon er rede. 161 Daraufhin brach im Saal Tumult los. Männer sprangen von ihren Sitzen auf und protestierten lautstark gegen diese Beleidigung, eine Frau fiel in Ohnmacht, und Admiral Robert FitzRoy, der Kapitän der Beagle, rannte aufgeregt umher, fuchtelte mit einer Bibel und rief, nicht die Schlange, der er Unterschlupf in seinem Schiff gewährt habe, sei die wahre Autorität, sondern »dieses Buch«. 162

Von diesem glorreichen Ereignis gibt es heute zahlreiche Versionen. Wer genau was gesagt hat, lässt sich mittlerweile kaum noch nachvollziehen, klar ist nur, dass die Hysterie über Darwins Evolutionstheorie mit der Huxley-Wilberforce-Debatte einen ihrer vielen Höhepunkte erreichte. (2010 wurde diesem Schlagabtausch auf dem Gelände des Oxford University Museum sogar ein Denkmal gesetzt.)

Doch außer überdrehten Debatten gab es auch wertvolles Feedback, das Darwins Theorie hervorragend ergänzte. Als er seine Ideen formulierte, waren »Gene« in der Welt der Wissenschaft noch gänzlich unbekannt. Fast zeitgleich mit der Entwicklung seiner Evolutionstheorie führte ein katholischer Mönch in einem Kloster in Tschechien eine Reihe von Experimenten zum Thema Vererbung durch. Gregor Mendel, geboren in Österreich, beschrieb 1866 in seinem Werk Versuche über Pflanzen-Hybriden die Ergebnisse seiner jahrelangen Arbeit. 163 Er hatte die Vererbungseigenschaften von 34 verschiedenen Erbsensorten untersucht, die er über Tausende Kreuzungsversuche hinweg penibel überwachte. Dabei prägte er für weitergegebene Merkmale wie Pflanzengröße oder Farbe der Samen die Begriffe »dominant« und »rezessiv«, sprich: Bestimmte Merkmale setzen sich gegenüber anderen eher durch. 164 Dominante Eigenschaften setzen sich gegenüber rezessiven durch. Zwei Jahre später bekam Mendel eine deutsche Übersetzung von Darwins Werk zur Evolutionstheorie in die Hände und erkannte schnell Parallelen zu seinen eigenen Ideen. Gleichzeitig konnte er anhand der unglaublichen Menge an Beobachtungsdaten, die er während seiner »Erbsenzählerei« gesammelt hatte, einige von Darwins Ansätzen auch korrigieren. 165 Beide Theorien wurden später zusammengeführt und ergänzt und bildeten das Fundament der modernen Biologie.