»W ahrscheinlich solltest du jetzt aufbrechen. Die Pflicht ruft in Gestalt eines Wildschweins, das darauf wartet, zerteilt zu werden«, sagte Pamela später, als sie die Pferde durch den Paddock in den Stall führten. »Zusammen können wir im Klub nicht auftauchen. Stell dir nur vor, was da getuschelt wird, und dazu diese wissenden Blicke.«
»Und was sie über deinen Ruf tratschen?«, erwiderte er grinsend. »Ich muss wenigstens noch Hector trocken reiben bevor ich wieder in die Uniform steige. Ich kann dir doch nicht alle Pferde überlassen.«
»Wir sind doch nur auf Hector und Primrose geritten«, erwiderte sie und schaute auf die anderen Pferde, die sie am Strick mitgeführt hatten. »Und selbst die schwitzen nicht übermäßig. Aber gut, wir reiben sie schnell ab, und dann brichst du auf. Füttern und tränken kann ich sie. Ich erscheine dann eine halbe Stunde nach dir im Klub. Wann ist der Wildschweinbraten fertig?«
»Gegen halb neun, so war’s jedenfalls geplant. Jetzt ist es kurz nach sieben«, antwortete er. »Wir haben also noch etwas Zeit.«
Nachdem die Pferde versorgt waren, zog Bruno sein Hemd aus und wusch sich an der Stallspüle. Als er sich abtrocknete, trat Pamela hinter ihn und schlang ihm die Arme um die Taille.
»Was für ein schöner Nachmittag«, murmelte sie. »Genau das Richtige, um unsere Tennispartnerschaft zu feiern. Wir sollten nur keine Gewohnheit daraus machen.«
»Wahrscheinlich hast du recht«, erwiderte er, wobei seine Stimme Bedauern verriet. »Wie immer.«
Sie drehte ihn zu sich, gab ihm einen innigen Kuss und sagte: »Ab mit dir, mein Lieber. In einer halben Stunde sehen wir uns wieder.«
Im Klub erschien Bruno wieder in Uniform, schließlich war er ja »dienstlich« unterwegs gewesen, und ging als Erstes zum Grillfeuer, wo er Balzac und The Bruce vorfand, denen vom Geruch des Bratens die Lefzen trieften. Brunos Freunde piekten Spieße ins Fleisch, um zu sehen, ob klarer Saft abfloss, der anzeigte, dass der Braten fertig war. Die Schwarte war knusprig und dunkelbraun, hier und da aufgeplatzt, sodass Fett über die Seiten rann, die immer noch vom Marinieren glänzten. Balzac kannte solche Grillveranstaltungen schon, für The Bruce aber, dachte Bruno, war es das erste Mal, dass er miterlebte, wie unter freiem Himmel ein Tier geröstet wurde, das um ein Mehrfaches größer war als er selbst.
»Wir sollten den Braten jetzt vom Feuer nehmen und ruhen lassen, bevor wir ihn aufschneiden«, sagte Sylvain, der örtliche Schlachter und anerkannte Experte in diesen Dingen. Bruno bat darum, ihm ein wenig Zeit zum Umziehen zu geben, und war Minuten später wieder zur Stelle, in den Jeans und dem Denimhemd, die er auch am Morgen getragen hatte. Er streifte ein Paar Lederhandschuhe über und half den anderen, zuerst das Lamm, dann den Eber von der Feuerstelle auf den langen Tisch zu tragen.
Die Gesichter waren gerötet von der Hitze aus der glühenden Grube, als sich die Männer an der Bar versammelten, um ihren Durst mit Bier zu löschen. Auf dem Platz, der dem Klubhaus am nächsten war, spielten Fabiola und Gilles im gemischten Doppel gegen das zweite Paar aus Spanien. Bruno brauchte einen Augenblick, bis ihm ihre Namen wieder einfielen: Iker und Jacinta. Laut Anzeigentafel hatten sie den ersten Satz gewonnen und führten im zweiten fünf zu vier. Jacinta schlug auf. Die Terrasse war wieder voller Zuschauer, die Fabiola und Gilles anfeuerten. Sie gaben ihr Bestes. Gilles retournierte mit einer Rückhand, die ihm so noch nie gelungen war. Bruno war sich schon sicher, dass er damit den Punkt holen würde. Doch Jacinta hatte Gilles’ Absicht erahnt und erreichte den Ball, dem sie mit der Vorhand viel Topspin verlieh. Gilles stand so nah am Netz, dass er nur mit einem ungeschnittenen Lob antworten konnte. Der aber war so schwach, dass Iker keine Mühe hatte, Volley abzuschließen. Die Spanier hatten gewonnen.
»Gegen die spielen wir also im Finale«, sagte Pamela, die plötzlich neben Bruno aufgetaucht war. »Dürfte schwer werden.«
»Spiel wie heute, und wir machen sie fertig«, erwiderte er.
»Hängt wohl nicht zuletzt davon ab, wie viel von dem Wildschwein du heute verschlingst«, entgegnete sie und gab ihm einen Knuff in die Seite. Im selben Augenblick vibrierte sein Handy. Er zog es hervor und warf einen Blick aufs Display. Es war eine Nachricht von Isabelle mit nur drei Zahlen, ihrem privaten Code, womit sie um einen Rückruf auf ihrem Burner-Handy bat, für ein streng vertrauliches Gespräch. Bruno konnte also nicht von seinem Handy aus anrufen. Er ging zum Baron und bat ihn, ihm seines auszuleihen, was der, ohne Fragen zu stellen, auch tat. Bruno ging Richtung Wald und wählte die Nummer von Isabelles sicherem Handy.
»Ich bin hier mit unserem Schwergewicht. Er will eine inoffizielle Verbindung zu den Briten«, erklärte sie. »Könntest du Jack Crimson bitten, heute Abend diese Nummer anzurufen?«
»Soll ich ihm sagen, worum es geht?«
»Sag ihm, es hat mit der Spanierin zu tun, die in Moskau zur selben Zeit wie Kim Philby beigesetzt wurde.« Isabelle klang sehr ernst.
»Lass mir ein paar Minuten Zeit.« Bruno drückte den Anruf weg. Mit »Schwergewicht« musste General Lannes gemeint sein, ein Mann, von dem in der Öffentlichkeit kaum etwas bekannt war, der von seinem Büro im Innenministerium aus aber viel Einfluss auf die französische Sicherheitspolitik ausübte. Der Hinweis auf die Frau, die zur selben Zeit wie Kim Philby beigesetzt worden sein sollte, verblüffte Bruno. Er wusste, dass Philby in den 1930 ern bis in den Kalten Krieg hinein ein britischer Doppelagent gewesen war und als Maulwurf dem KGB gedient hatte, sogar noch, als er im Gespräch für eine Führungsposition im britischen Geheimdienst war. Aber was mochte das mit spanischen Scharfschützen und dem Song für Katalonien zu tun haben?
Bruno traf Crimson am Grillfeuer an, wo er an seinem Whiskey nippte, während um ihn herum darüber diskutiert wurde, ob es an der Zeit war, den Eber zu zerteilen oder noch nicht. Bruno führte ihn außer Hörweite der anderen, berichtete ihm, dass Lannes ein vertrauliches Telefonat mit ihm wünsche, und wiederholte den rätselhaften Hinweis auf Philbys Grab in Moskau.
Crimson runzelte die Stirn und folgte Bruno Richtung Wald, weg vom Klubhaus. Bruno rief Isabelle über die sichere Nummer an und reichte, als er ihre Stimme hörte, das Handy an Crimson weiter. Der wollte als pensionierter Diplomat angesehen werden, tatsächlich war er aber Geschäftsführer des britischen Geheimdienstausschusses gewesen und seit Langem mit General Lannes freundschaftlich verbunden.
Bruno hielt Abstand, während Crimson telefonierte, und erinnerte sich an Isabelles Worte, dass Lannes eine verdeckte Verbindung zu den Briten verlangte. Crimson war der perfekte Vermittler, weil er offiziell pensioniert war, aber immer noch beste Kontakte sowohl zu dem britischen als auch dem amerikanischen Geheimdienst unterhielt. Wenn Frankreich auf die berüchtigten Entschlüsselungsfähigkeiten der britischen GCHQ zugreifen wollte, war Jack Crimson wahrscheinlich genau der richtige Mann.
Aber warum jetzt dieser Sinneswandel bei Isabelle? Während der Videokonferenz in der Präfektur war sie Colonel Morillon ins Wort gefallen, als er vorgeschlagen hatte, die Briten oder die Amerikaner um Hilfe bei der Entschlüsselung von Telefonaten zu bitten. Hatte sich die Lage verändert, oder hatte sie Rücksicht nehmen müssen auf jemanden, der zwar anwesend, aber bei der Übertragung nicht zu sehen gewesen war? Vielleicht jemand aus dem Sicherheitsteam des Präsidenten, das im Ruf stand, sich sehr in die Politik und das Bild des Präsidenten in der Öffentlichkeit einzumischen?
Bruno blieb außer Hörweite, konnte aber sehen, dass Crimson das Gespräch beendete und gleich darauf sein eigenes Handy hervorholte. Anscheinend suchte er nach einer Nummer, denn er griff wieder zum Handy des Barons und wählte. Als sich Crimson umdrehte, konnte Bruno seine Stimme plötzlich hören und aufschnappen, was er sagte, obwohl sein Englisch eher dürftig war.
»Ah, Dicky«, meldete sich Crimson. »Entschuldige die Störung, aber unsere französischen Kollegen stehen vor einer heiklen Aufgabe und würden sich gern mit unseren Nerds von der Dechiffrierung unterhalten. Die Sache hat mit unserem alten Spielkameraden Fancy Bear zu tun.«
Bruno erinnerte sich, dass Fancy Bear einer der Namen war, mit denen Colonel Morillon das russische Hackerkollektiv benannt hatte.
»Ich schätze, du hast genug gehört«, sagte Crimson, nachdem er das Gespräch beendet hatte und auf Bruno zuging.
Der zuckte mit den Schultern. »Ich weiß, wer Philby war, und nehme an, dass es sich um russische Bären handelt.«
»Und vielleicht kannst du mir auch erklären, warum mein alter Freund Lannes so heimlich tut. Es geht doch nur um ganz normale Konsultationen zwischen Alliierten, die den verschlüsselten Telefonaten einer nicht gerade freundlich gesinnten Macht auf den Grund gehen wollen.«
»Politik«, erwiderte Bruno. »Die Presse soll nicht erfahren, dass wir die Briten in solchen Angelegenheiten um Hilfe bitten.«
Crimson nickte. »Ja, unsere Politiker scheinen alle gleich plemplem zu sein. Wie dem auch sei, ich glaube, jetzt ist es wirklich Zeit für unseren Braten.«
»Setzen wir uns an denselben Tisch?«
»Heute leider nicht«, antwortete Crimson. »Der Bürgermeister hat mich an seinen Tisch platziert, zusammen mit Fabiola, Gilles und Jacqueline. Und der Baron hat Miranda, Yveline und Florence an seinen Tisch gebeten. Ich fürchte, du musst heute auf weibliche Gesellschaft verzichten.«
»Wohl kaum, mir bleiben Pamela und zwei charmante junge Frauen aus Katalonien«, entgegnete Bruno, als sie wieder an der Klubbar standen. Er schenkte sich und Crimson ein Glas Wein ein, doch der Engländer wurde gleich vom Bürgermeister weggezogen.
Bruno blieb nicht lange allein.
»Einen Kir für mich, bitte … Ah, da kommt ja auch Florence. Also zwei bitte«, bestellte Pamela, die an Brunos Seite aufgetaucht war und Florence zu sich winkte.
Bruno machte sich auf eine weitere barsche Abfuhr von Florence gefasst, doch sie trat mit niedergeschlagenen Augen zu ihm und wirkte verlegen.
»Tut mir leid, dass ich vorhin so grob war«, sagte sie und blickte zu ihm auf. »Ich war wohl einfach noch geschockt wegen Casimir, der ja nicht nur aus dem Gefängnis entlassen, sondern auch schon hier in Bergerac ist.«
»Das ist doch sehr verständlich, ich hätte auch nicht sagen dürfen, was ich gesagt habe. Dafür möchte ich mich auch entschuldigen«, erwiderte Bruno. »Ich glaube, ich habe dich noch nie so wütend erlebt. Na, jedenfalls bin ich froh, dass sich die Wogen geglättet haben. Hast du Lust, vor dem Essen mit uns anzustoßen?«
Er besorgte die Drinks und ging mit den beiden nach draußen, weg vom Gedränge an der Bar. Sylvain schärfte gerade sein langes Tranchiermesser. Bruno hörte die Klänge einer akustischen Gitarre und sah Jordi auf den Stufen des Wohnmobils sitzen. Er spielte irgendetwas Klassisches, das Bruno aber nicht sofort erkannte. Iker hockte vor ihm im Schneidersitz auf dem Boden und schlug mit der linken und den Fingern der rechten Hand einen komplizierten Rhythmus auf einer kleinen Doppeltrommel.
»Das Stück kenne ich«, rief Florence aus. »Es ist Asturias. Ich habe eine Aufnahme von Isaac Albéniz davon zu Hause. Die Kinder tanzen so gern dazu. Wie schade, dass sie nicht hier sind.«
Florences Zwillinge übernachteten auf dem Reiterhof mit Mirandas Kindern, beaufsichtigt von Félix’ Mutter. Félix war Pamelas Stallbursche und saß neben Balzac, dem er die Schulter kraulte, während es sich The Bruce auf seinem Schoß bequem machte. Mit verträumtem Blick beobachtete er Alba, die junge blonde Spanierin, die bäuchlings auf einem Handtuch neben dem Wohnmobil lag. Sie hatte den Kopf auf die gefalteten Hände gestützt und hörte Jordi beim Gitarrespielen zu. Ah, dachte Bruno, jetzt ist es auch bei Félix so weit, und der Funke der Anziehungskraft, der schon seit jeher so viel in Bewegung bringt, springt bei ihm über.
»Kannst du mir genau erklären, wie jetzt die Lage mit Casimir ist?« Florences Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Er drehte sich zu ihr um und sah, dass sie ihn aufmerksam betrachtete. Er schlug ihr vor, mit ihm an einem der Tische unter den Bäumen Platz zu nehmen.
»Bitte komm doch mit dazu«, sagte sie Pamela. Sie fanden einen Tisch, der weit genug entfernt von den anderen war, um sich ungestört unterhalten zu können. Bruno berichtete, dass Casimir auf Bewährung entlassen und unter die Aufsicht der Kirche von Bergerac gestellt worden sei. Er müsse jede Nacht im Haus des Priesters schlafen und eine elektronische Fußfessel tragen. Bruno fügte hinzu, dass er, wenn er Zeit finde, am nächsten Morgen nach Bergerac fahren, mit dem Priester sprechen und ihm Florences verständliche Sorgen klarmachen wolle.
»Alles andere liegt bei dir, Florence. Du musst entscheiden, ob du an die Öffentlichkeit gehen, Frauengruppen einspannen und für Aufmerksamkeit sorgen willst oder nicht«, sagte er leise. »Nur du kannst beurteilen, was für dich und die Kinder das Beste ist. Aber denk auch daran, dass sie eines Tages wissen wollen, wer ihr Vater ist, und ihn womöglich auch kennenlernen möchten. Das wäre nur natürlich.«
»Was, wenn wir auf dem Rechtsweg scheitern?«, fragte sie.
»Wenn du in Frankreich bleibst, musst du ihm vielleicht erlauben, die Kinder von Zeit zu Zeit und in einer kontrollierten Umgebung zu sehen, vorausgesetzt, das Familiengericht urteilt entsprechend. Vereinbart werden könnten zum Beispiel Besuche einmal die Woche oder einmal im Monat. Du müsstest nicht selbst dabei sein und könntest zwei Freundinnen oder Freunde benennen, die an den Treffen teilnehmen und sicherstellen, dass den Kindern nichts geschieht. Das könnten vielleicht Yveline und Pamela oder ich und Fabiola übernehmen. Ganz wie du willst.«
»Und wenn ich das Land verlasse?«
»Wenn sich Casimir in der Bewährungszeit nichts zuschulden kommen lässt, könnte seine Reststrafe ausgesetzt werden. Dann hindert ihn nichts daran, einen Reisepass zu beantragen und dich aufzusuchen, egal, wo du bist. Nach Kanada auszuwandern ist wahrscheinlich auch keine Lösung.«
»Und was, wenn ich wieder heirate?«, fragte sie geradeheraus. Bruno brauchte einen Augenblick.
»Ich weiß nicht. Vielleicht lässt du dich von Annette beraten. Casimir ist und bleibt aber der leibliche Vater deiner Kinder. Wenn ihm das Familiengericht Umgang mit ihnen erlaubt, wird wohl auch eine neue Ehe daran nichts ändern.«
»Also komme ich aus dieser Nummer nicht heraus?« Ihre Unterlippe zitterte. Spontan legte Pamela ihr eine Hand auf den Arm, was Florence gar nicht zu bemerken schien.
»Es gibt Hoffnung«, antwortete Bruno. »Wir könnten deinem Ex-Mann Täuschungsabsicht vorwerfen und das Ergebnis der Anhörung anfechten. Er behauptet, er habe dich nicht kontaktieren können, und das ist, wie wir wissen, eine Lüge. Außerdem möchte ich herausbekommen, warum die Polizisten, die er angegriffen hat, und seine anderen Opfer nicht konsultiert wurden. Es ist noch nicht vorbei, Florence.«
Sie starrte ihn an, holte dann tief Luft und schien erst jetzt Pamelas Hand auf ihrem Arm wahrzunehmen. Sie schenkte ihr und Bruno ein Lächeln, straffte die Schultern, hob den Kopf und sagte: »Der Kampf geht also weiter.«
Ihre letzten Worte gingen fast unter in den Vibrationen eines großen Messinggongs, den einer der Köche schlug.
»In zwei Reihen anstellen, bitte«, rief Sylvain. Sein Gesicht war rot und glänzte, die knöchellange Schürze fettverschmiert. In beiden Händen hielt er ein Messer. »Wildschwein rechts von mir, Lamm links. Ofenkartoffeln und Salate an der Küchentür. Wein steht schon auf den Tischen. Bon appétit! «
»Prima, Wildschwein und Lamm«, sagte Florence und ging zum Schneidetisch. Über die Schulter rief sie: »Ich habe mächtig Kohldampf, ich glaube, ich nehme beides.« Bruno und Pamela schauten einander an, völlig verwundert über Florences abrupten Stimmungswechsel, folgten ihr dann aber schnell.