F lavie saß gut im Sattel. Joël folgte tapfer, doch seine Fingerknöchel am Zügel traten weiß hervor, und das alte Pferd, das man ihm gegeben hatte, nahm geduldig hin, dass er sich mit den Knien festklammerte. Bruno erinnerte sich an seine frühen Reitversuche und zügelte Hector, damit Joël aufschließen konnte und er sich mit ihm im Schritt über Joëls Geschichte und seine okzitanischen Websites unterhalten konnte, bis er ausreichend abgelenkt war, um sich zu entspannen. Im leichten Galopp holten sie die anderen ein, die die Aussicht auf das Tal der Vézère und die Mündung des Flusses in die schneller fließende Dordogne bei Limeuil genossen.
Auf dem Rückweg fand Hector, dass es an der Zeit war, die Führung zu übernehmen, und galoppierte los. Bruno ließ ihn gewähren und parierte ihn erst, als sie die Quelle erreichten, vor der der Weg hinab zum Reiterhof führte. Er ließ Joël wieder aufschließen und setzte das Gespräch fort.
»Bevor ich Ihre Website gelesen habe, hatte ich keine Ahnung, dass wir den Muslimen in Spanien so viel verdanken«, sagte er. »Wie war noch mal der Name des Mannes, Avero oder so ähnlich, der im 12 . Jahrhundert Europa wieder mit Aristoteles bekannt gemacht hat?«
»Averroës oder Ibn Ruschd. Er war Richter in Córdoba und auch Hofarzt«, antwortete Joël. »Als Erster hat er die Symptome dessen beschrieben, was wir als Parkinsonkrankheit kennen; außerdem hat er als Erster die Rolle der Retina für unser Sehvermögen erkannt. Seine Kommentare zu Aristoteles, der in Europa jahrhundertelang vergessen war, wurden ins Hebräische und in Latein übersetzt zu der Zeit, als in Paris und Oxford Universitäten entstanden. Manchmal wird von der Renaissance des 12 . Jahrhunderts gesprochen, wegen der Fülle von Übersetzungen altgriechischer und römischer Texte durch islamische Gelehrte in Spanien und des Baus der großen Kathedralen. Mich interessiert vor allem aber auch der Umstand, dass Herzog Wilhelm von Aquitanien, Eleonores Großvater, von seinen Kreuzzügen in Spanien arabische Musik und Dichtung nach Frankreich mitgebracht hat. Wilhelm war einer der ersten Troubadoure und zudem ein sehr guter. Okzitanisch war natürlich seine Muttersprache.«
»Arabische Musik, sagten Sie? Meinen Sie Gesänge?«
»Nein, Instrumentalmusik«, antwortete Joël. Die mittelalterliche Laute sei eine Kopie der arabischen oud, und die Version mit dem langen Hals sei die arabische buzuq, erklärte er. Die rebec, eine Vorläuferin der Violine, sei als arabische rebab nach Europa gekommen. Und die Zither oder das Hackbrett habe sich aus der arabischen qanun entwickelt.
»So wie die Instrumente gehörten die Musiker, die arabischen Hofsänger, einer Tradition an, die älter ist als der Islam«, fuhr Joël fort. »Haben Sie schon einmal von Ziryab gehört? Er war ein irakischer Sänger aus dem 9 . Jahrhundert, von dem gesagt wird, dass er über zehntausend Lieder beherrschte. Er kam nach Córdoba und brachte eine oud mit. Anklänge seiner Musik finden sich immer noch im Flamenco. Es heißt, dass er auch eine Zahnpasta mit Minzegeschmack erfunden hat.«
Sie erreichten den Stall, stiegen von den Pferden und führten sie in die Boxen, wo ihnen die Sättel abgenommen wurden. Bruno zeigte Joël, wie man Hufe auskratzt und die Boxen einstreut, und was die Pferde zu fressen bekamen. Als er Hector abrieb, griff er das Thema wieder auf.
»Ich hatte keine Ahnung, wie die Sänger und ihre Musik zu uns gekommen sind«, sagte er. »Aus dem Irak über Spanien nach Aquitanien und von dort aus ins restliche Europa?«
»Ich glaube, die wesentlichen Übergangspunkte lagen in Andalusien, wo es schon seit sieben Jahrhunderten Kalifate gab, und dann in Katalonien und der okzitanischen Welt«, antwortete Joël. »Und da die Kelten ihre Barden und die Angelsachsen ihre scops hatten, konnten sich Musik und Lieder unserer okzitanischen jongleurs oder Minnesänger schnell in ganz Europa verbreiten. Musikanten haben sich schon immer beieinander bedient, und jede Kultur braucht ihre eigenen Lieder und Dichter. Nach Eleonores Vermählung mit König Heinrich breitete sich die okzitanische Kultur über die Normandie bis nach England aus. Natürlich gab es noch andere Kontaktpunkte, Sizilien zum Beispiel, das von den Normannen beherrscht wurde, aber damals wohl zu den zivilisiertesten Regionen in Europa zählte.«
»Ich gehe schon mal rüber, ihr kommt dann gleich nach, oder?«, rief Pamela. Zu seiner Überraschung bemerkte Bruno, dass die anderen schon gegangen waren und er mit Joël allein im Stall stand.
»Sie waren bestimmt ein guter Lehrer im lycée «, sagte Bruno. »Haben Sie das Unterrichten vermisst, nachdem Sie geheiratet haben und nach Barcelona gezogen sind?«
»Ein bisschen, ja. Aber ich habe gemerkt, dass uns die sozialen Medien einen anderen Weg bieten, Wissen zu vermitteln. Darüber erreiche ich mehr Schülerinnen und Schüler als in einem Klassenzimmer. Außerdem bin ich jetzt nicht mehr an Lehrpläne gebunden. Klar, ich vermisse die direkte Interaktion mit den Kindern. Ideal wäre, beides miteinander zu verbinden, die Reichweite der sozialen Medien und den persönlichen Kontakt mit Jugendlichen, die einem unmittelbar spiegeln, wie sie auf Argumente oder bestimmte Gedankengänge reagieren. Das hat mir am Unterrichten immer am besten gefallen, zu sehen, wie ich andere für die Inhalte interessieren oder vielleicht sogar begeistern kann. YouTube und dergleichen können das nicht ersetzen.«
»Ihnen wird aber doch bewusst sein, wie groß die Wirkung Ihres Songs für Katalonien ist«, sagte Bruno.
»Ziel eines Mordanschlags zu werden hatte ich beim Schreiben jedenfalls nicht im Sinn«, antwortete Joël und lachte kurz auf. »Die Nachricht vom Brand im Aufnahmestudio und heute die Soldaten, das hat mich allerdings erschreckt. Mir war vorher nicht klar, in welcher Gefahr wir schweben. Wäre mir jetzt nicht angst und bange, würde ich das Ganze fast komisch finden. Für Flavie ist’s wahrscheinlich noch schlimmer. Es ist schließlich nicht mal ihre Sache, um die es hier geht.«
»Vielleicht geht es ihr vor allem um Sie«, sagte Bruno.
»Sie glauben wohl auch, dass Frauen weniger an Politik als an Männern interessiert sind, oder?«, entgegnete Joël ein wenig schroff.
Offenbar war er leicht reizbar und fühlte sich schnell kritisiert, auch wenn es eigentlich kaum einen Grund dafür gab. Aber vielleicht hatte das mit seiner derzeitigen Situation zu tun, dachte Bruno. Im Visier eines Scharfschützen zu sein brachte wohl jeden aus der Fassung.
»So habe ich das gar nicht gemeint«, erwiderte Bruno gelassen. »Ich bin sehr vorsichtig geworden und hüte mich vor Verallgemeinerungen. Als Dorfpolizist lerne ich die unterschiedlichsten Menschen kennen. Und unter Frauen wird es ebenso viele Variationen geben wie unter Männern. Ich habe nicht von Frauen im Allgemeinen gesprochen, sondern von Flavie.«
»Geht Sie das was an?«
»Nicht mehr, als Sie mich etwas angehen, Joël. Aber auch nicht weniger. Mein Job ist es, Sie beide zu schützen. Kommen Sie, essen wir zu Abend. Meine anderen Fragen zu Avero stelle ich ein anderes Mal.«
»Averroës«, korrigierte Joël.
An diesem Montagabend war Pamela an der Reihe, die Freunde zu bekochen. In den Sommermonaten, wenn auf dem Reiterhof Hochbetrieb herrschte, weil viele Familien mit ihren Kindern hier Ferien machten und Pamela ohnehin alle Hände voll zu tun hatte, sprang ihr Miranda zur Seite und half in der Küche aus. Bruno hatte vorgeschlagen, während der zwei Wochen des Tennisturniers stattdessen im Klub zu essen. Aber davon wollte Pamela nichts wissen. Die Kinder, sagte sie, würden den gemeinsamen Abend so sehr genießen, dass es eine Schande wäre, das Ritual zu durchbrechen. Und im Sommer, argumentierte sie, sei die Zubereitung von Salaten und Grillfesten ein Klacks.
Diejenigen, die nicht mit ausgeritten waren – der Baron, Florence, Miranda und ihr Vater Jack Crimson –, plauderten mit Flavie und den anderen, während der Baron einen Spritzer crème de cassis in ihre Weißweingläser goss. Die Kinder von Miranda und Florence spielten mit den Hunden und widmeten dabei dem kleinen Welpen sehr viel mehr Aufmerksamkeit als dem vertrauten Balzac und Pamelas Border Collies.
Joëls Erscheinen wurde so enthusiastisch begrüßt, dass er sich verlegen seine roten Haare glatt strich, die noch nass waren, weil er sie vor dem Essen über der Stallspüle gewaschen hatte. Er hatte Mühe, auf die vielen Fragen zu Downloads, Facebook-Likes und Plattenverträgen für Flavie zu antworten. Nein, er habe in letzter Zeit weder die Downloads mitgezählt noch die Zeit gehabt, die vielen Posts zu lesen. Auch habe er seit Tagen nichts mehr aus Katalonien gehört. »Nicht, seit dieser Irrsinn ausgebrochen ist«, sagte er sichtlich angefressen.
»Danke, dass ich mitreiten durfte«, sagte er zu Pamela. »Ich kann’s eigentlich nicht, habe es aber sehr genossen, weil ich mich nur darauf konzentrieren musste, im Sattel zu bleiben, und alles andere darüber eine Weile in den Hintergrund gerutscht ist.«
»Es war uns eine Freude, Sie dabeizuhaben. Und Bess verzeiht fast alles«, erwiderte sie und überreichte ihm ein Glas Kir. »Kommen Sie, ich will Ihnen alle meine Freunde hier vorstellen. Die Namen müssen Sie sich nicht merken, Hauptsache, Sie behalten meinen, Pamela. Ich bin die Gastgeberin und freue mich sehr, Sie und Flavie heute Abend in meinem Haus zu haben. Flavies Konzerte am Flussufer gehören in Saint-Denis zu den Highlights des Jahres. Und wir freuen uns riesig über den Erfolg, den Sie und Les Troubadours mit Ihrem Song haben.«
Wirklich sehr charmant, dachte Bruno und sah zu, wie sie Joël durch den Raum führte und nicht nur jeden mit Namen vorstellte, sondern auch Besonderheiten nannte, an die er sich erinnern würde: Florence, Naturkundelehrerin, Mutter von Zwillingen und Computerkönigin; der Baron, dessen Vorfahren an jedem Krieg beteiligt waren, den Frankreich geführt hatte, einschließlich dem in Algerien. Miranda, ihre Geschäftspartnerin und Mutter zweier Kinder; ihr Vater, ein Diplomat im Ruhestand, der sich zum Experten für Bergerac-Weine gemausert und ausgewählt hatte, was heute zum Essen getrunken werden sollte; der junge Félix, der im Stall für Ordnung sorgte und jetzt seine Examina als Tiermediziner ablegte; Gilles, der Journalist, der ihn, Joël, ja schon für Paris Match interviewt habe, und seine Partnerin Fabiola, eine erstklassige Ärztin.
»Computer-Königin?«, fragte Joël nach und schüttelte Florence die Hand. »Wie kommen Sie an diesen Titel?«
»Ich habe den Computerklub an unserem collège gegründet, der von den Schülerinnen und Schülern sehr gut angenommen worden ist«, antwortete sie. »Übrigens, danke für das Unterrichtsmaterial zur okzitanischen Kultur, das Sie online gestellt haben. Etliche Schüler haben sich richtig hineinversenkt. Ich wünschte, meine Kollegen, die Geschichte unterrichten, wären so engagiert wie Sie.«
»Danke für Ihr Kompliment. Ich vermute, Ihre Fähigkeiten am Computer könnten meine Posts sehr viel besser machen«, sagte er und wandte sich dann den anderen zu, wobei er Pamelas Hinweise aufgriff und für jeden ein freundliches Wort fand. Bruno glaubte plötzlich zu verstehen, wie Präsidenten, Regierungschefs und Monarchen der Welt gegenübertraten, die ständig zahllosen Fremden begegneten und mithilfe von ein paar gemurmelten persönlichen Details ihrer Assistenten einen Zugang zu jedem fanden.
»Und welchen Wein werden wir heute Abend trinken?«, fragte Joël Jack Crimson.
»Der Weißwein in Ihrem Kir ist vom Château des Eyssards, stammt von einem sanften Riesen, der Tuba in einer Brassband spielt, gekeltert von Winzern der Umgebung namens In Vino Veritas«, antwortete Jack. »Zu dem leckeren Hühnergericht von Pamela habe ich einen wunderbaren weißen Montravel von der Domaine de Perreau ausgesucht, den eine charmante junge Frau namens Gaëlle aus Sauvignon Gris zaubert, eine Traube, die, wie Sie vielleicht wissen, sehr heikel sein kann. Gaëlle schafft es, genau die richtige Balance zu finden, aber sie ist ja auch die fünfte Generation ihrer Winzerfamilie. Wenn Sie lieber einen Roten trinken, habe ich einen Pécharmant vom Château de Tiregand, und zum Dessert gibt’s einen Saussignac vom Château le Payral.«
»Er kauft nur Weine von Weingütern, die er selbst besucht, wo er die Winzer kennengelernt und deren Erzeugnisse an Ort und Stelle probiert hat«, erklärte Miranda und schaute dabei ihren Vater liebevoll an. »Das ist sein neues Hobby.«
»Ich möchte Ihnen dafür danken, Joël, was Sie für unsere okzitanische Tradition tun«, sagte der Baron. »Sergent Jules von der Gendarmerie hat mich auf Ihre Website aufmerksam gemacht, und sie gefällt mir sehr gut. Erst durch Sie habe ich die Bedeutung von pretz und paratge verstanden.«
»Was hat es damit auf sich, Joël?«, wollte Pamela wissen.
»Es handelt sich dabei um zwei wesentliche Aspekte der okzitanischen Kultur«, erklärte er. »Pretz steht für den Wert, der einer Person innewohnt, ohne Ansehen von Herkunft, Geschlecht, Religion oder Ethnie. Der ärmste Knecht oder die ärmste Magd verdient den gleichen Respekt wie der Herzog von Aquitanien, wenn er oder sie pretz hat. Das Wort paratge bezeichnete früher die ganze Bandbreite moralischer Qualitäten, an denen sich eine Gemeinschaft orientieren sollte – Großzügigkeit und Freundlichkeit, Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit, Mut und Toleranz. Paratge war ein ganz zentraler Begriff in Okzitanien. Im Cançon de la Crosada kommt er mindestens fünfzigmal vor.«
»Cançon de la Crosada – Lied vom Kreuzzug?«, fragte Pamela. »Geht es darin um die Kriege gegen die spanischen Mauren?«
»Nein, Madame, um den Kreuzzug, der Anfang des 13 . Jahrhunderts gegen Menschen in dieser Region geführt wurde«, antwortete Joël. »Es waren Raub- und Eroberungszüge im Namen der katholischen Kirche, die sie als Kampf gegen die ungläubigen Katharer legitimierte, um sich an ihnen zu bereichern. Das Lied hat zwei Teile, der erste ist sehr gehässig gegenüber den Katharern, der zweite eher sympathisierend gestimmt. Der zweite Teil stammt offenbar von einem anderen und lässt vermuten, dass es vielmehr ein Krieg von Männern aus dem Norden gegen den Süden war.«
Seine Stimme klang ruhig und sachlich, wurde aber lauter, je länger er über sein eigentliches Thema sprach.
»Kaum hatte der Papst den Katharern den Krieg erklärt und ihnen allen Grundbesitz aberkannt, kamen Barone aus dem Norden, um an sich zu reißen, was sie kriegen konnten«, fuhr Joël fort. »Der König von Frankreich eignete sich die Ländereien der Herzöge von Toulouse an. Die Kirche nahm sich ihren Anteil und rächte sich damit an der Kritik der Katharer, die dem Heiligen Stuhl Korruption und Habgier vorgeworfen hatten, genau wie es die Protestanten dreihundert Jahre später taten.«
»Die Katharer waren aber doch wirklich Häretiker, oder?«, fragte Gilles. »Dem gütigen, gnädigen Gott des Neuen Testaments stellten sie den bösen Geist, Satan, gegenüber. Sie leugneten die Heilige Dreifaltigkeit und die Eucharistie, die im Mittelpunkt der Messe steht, wenn Wein und Brot in das Blut und den Leib Christi verwandelt werden.«
»Ja, sie nahmen tatsächlich einige Ansätze der Protestanten vorweg und reizten die Kirche damit so sehr, dass sie die Inquisition erfand und allen, die sich ihrer Lehre widersetzten, mit Folter und Tod drohte. Von Arnaud Amaury, dem Abt von Cîteaux und geistlichen Anführer des Kreuzzugs, ist ein vielsagender Brief an den Papst erhalten geblieben. Er berichtete darin, dass seine Truppen die Stadt Béziers eingenommen hatten, und fügte hinzu: ›Heute, Eure Heiligkeit, wurden zwanzigtausend Ketzer, ungeachtet von Rang, Alter oder Geschlecht, mit dem Schwert erschlagen.‹ Dieser Abt wurde auch bekannt für seine Antwort auf die Frage eines Soldaten, wie Katharer von Katholiken unterschieden werden könnten. Arnaud Amaury soll gesagt haben: ›Tötet sie alle! Gott wird die Seinen erkennen.‹«
»Entsetzlich«, empörte sich Pamela. »Aber die Geschichte ist ja voll von solchen Grausamkeiten. Ich denke oft, wie glücklich wir uns schätzen können, einer Generation anzugehören, die doch einiges aus den grauenhaften Gepflogenheiten der Vergangenheit gelernt hat. In diesem Sinne – kommt doch bitte alle zu Tisch.«
»Was kriegen wir denn heute Abend zu essen?«, fragte Bruno.
»Einen modernen Klassiker, der erstmals auf dem Krönungsbankett von Königin Elisabeth serviert wurde. Deshalb wird das Gericht Coronation Chicken genannt. Es ist ein sehr einfacher, sehr leckerer Geflügelsalat für warme Sommerabende.«
»Eines meiner Lieblingsgerichte«, freute sich Crimson. »Und schau mich nicht so an, Bruno. Du hast doch auch Pamelas Kochkünste zu schätzen gelernt.«
»Meine Bewunderung für den kulinarischen Wagemut unserer britischen Freunde kennt keine Grenzen«, erwiderte Bruno lächelnd. »Auf welche Zutaten darf ich mich gefasst machen?«
»Kaltes Hühnerfleisch, geschmorte Schalotten, Aprikosen, Tomatenpüree und ein Gewürz, das ihr erraten sollt. Das Ganze wird mit einem Dressing aus Sahne und Mayonnaise vermengt, mit Brunnenkresse bestreut und in einem Bett aus grünem Salat serviert«, antwortete Pamela mit gespielter Ernsthaftigkeit. »Und wenn du die geheime Zutat nicht errätst, Bruno, gibt es keinen Wein für dich. Oder alternativ nichts von den Brombeer-Apfel-Tartes, die ich zum Nachtisch gemacht habe.«
»Ich weiß nicht, was schlimmer wäre«, erwiderte er. »Aber solange Joël uns mehr von seinen spannenden Geschichten unserer okzitanischen Kultur erzählt, werde ich die Entbehrung mit pretz und paratge tragen.«
»Schön gesagt«, kommentierte der Baron. »Wenn Bruno den Test nicht besteht, werde ich mich daran versuchen, zur Ehrenrettung des Périgord.«
»Und wenn der Baron scheitert, trete ich als drittes Opfer vor«, bot sich Joël an.
»Ich schätze, Bruno kennt inzwischen Pamelas kulinarische Tricks ganz gut«, meinte Fabiola. »Jedenfalls bin ich gespannt. Ich wette eine Flasche Château Tiregand darauf, dass er die Zutat herausschmeckt.«
»Top, die Wette gilt«, schlug Crimson ein. »Ich behaupte, er schafft es nicht.«
»Darf ich meinen Teller leer essen, bevor ich etwas sage?«, fragte Bruno, als alle an dem großen Tisch Platz genommen hatten.
»Ja, aber Wein bekommst du erst, wenn du geraten hast«, entgegnete Pamela.
»Geraten?«, protestierte Bruno. »Ich rate nicht. Meine Geschmacksknospen und mein Sinn für deine eigentümlichen Vorlieben werden mich zu einem sicheren Urteil führen, vorausgesetzt, du schummelst nicht. Außerdem weiß ich, was es in deiner Küche an exotischen britischen Ingredienzien gibt: Flaschen mit dicken und dünnen braunen, grünen, roten und gelben Soßen.« Er probierte von seinem Salat. »Auf Anhieb fällt mir dein Tomatenketchup ein, aber das hier ist eine Spur schärfer. Vielleicht haben die Kinder eine Idee. Ich schmecke hier etwas, das mit C beginnt.«
»Chutney!«, rief Mirandas Älteste.
»Falsch, aber ein guter Versuch«, sagte Bruno. »Was sonst beginnt mit C und kommt aus Indien?«
»Curry«, antwortete die Schwester.
»Richtig. In dem Salat ist Curry. Hab ich recht?«
»Ja, eine Currypaste, verrührt mit Tomatenpüree, Sahne und Mayonnaise«, erklärte Pamela, worauf alle Gäste Beifall klatschten. »Fabiola hat ihre Wette gewonnen.«
»Und jetzt hätte ich gern mein Glas Wein«, sagte Bruno. Jack schenkte ihm großzügig vom Domaine de Perreau ein.
»Sei ehrlich, Bruno, hast du geraten, oder wusstest du es?«, fragte Florence.
»Halb halb. Ich habe mich an die Versorgungspakete erinnert, die die britischen Soldaten mit uns in Bosnien geteilt haben. Vieles davon schien mit Curry gewürzt worden zu sein. Gehört wohl auf der Insel so sehr zu den Nationalgerichten wie Fish ’n’ Chips oder Steak and Kidney Pie.«
»Und Pizza«, riefen Mirandas Kinder unisono.
»Seht ihr, wie weltoffen wir geworden sind?«, bemerkte Crimson. Die Kinder hatten schon damit angefangen, ihre Teller mit Baguettestückchen blank zu putzen.
»Das ist Okzitanien«, sagte Joël, als Pamela die Brombeer-Apfel-Tartes auf den Tisch stellte. »Hier sind alle schon mal gewesen: Neandertaler und Cro-Magnon-Menschen, Kelten, Gallier und Römer, Westgoten, Franken, Araber, Engländer und sogar Franzosen.«
»Die Schotten nicht zu vergessen«, warf Pamela ein. »Wie eure Gastgeberin und Köchin an diesem Abend. Übrigens, da die Kinder noch zu jung für Ihr Konzert am Freitagabend sind, wäre es doch schade, wenn sie Ihren Song, von dem alle Welt spricht, nicht hören könnten. Flavie, würden Sie für uns nach dem Essen den Song für Katalonien singen?«
»Gern. Das ist für mich ja so etwas wie eine Probe. Apropos, Bruno, könnten wir die anderen Bandmitglieder morgen Abend zu dir nach Hause mitbringen oder an irgendeinen anderen sicheren Ort für eine Probe?«
»Wir lassen uns was einfallen«, antwortete Bruno und wandte sich ab, um eine neue Nachricht auf seinem Handy zu lesen. Sie war von Pater Sentout. Pater Francis hatte sich bereit erklärt Casimir beizubringen, dass er sich auf keinen Fall in Saint-Denis blicken lassen dürfe.