Kapitel 21
Henley saß vor ihrem Laptop, der mit einem Projektor verbunden war, und blätterte durch die Fotos, die Anthony, ihr Chefforensiker, ihr per Mail geschickt hatte. Die verwesende Leiche war aus allen Winkeln fotografiert worden. Abgetrennte Gliedmaßen auf Müll. Dunkelblondes Haar voller getrocknetem Blut auf einer weißen Kopfhaut. Ein Ehering an der linken Hand. Das war irgendjemandes Mann, vielleicht auch Vater. Henley legte ihre Hände auf den Tisch und schaute auf den Platinehering an ihrer eigenen linken Hand und die kleine Narbe auf dem Rücken der rechten, die am Knöchel des Mittelfingers begann und bis zum Handgelenk reichte. Sie wartete auf den Tremor. Er kam zwar nicht, doch sie spürte das Kribbeln der Nerven im Bauch. Sie zoomte das Bild des Kopfes heran. Dort, wo einst die Ohren gewesen waren, hatte sich Dreck gesammelt, und in den Löchern krochen Maden.
»Wie ihr sehen könnt«, sagte Henley, »hat unser Killer dem Friedhofopfer die Ohren abgeschnitten.«
»Die Ohren?« Eastwood stand auf, ging zu dem Smartboard und fuhr die Stelle, wo die Ohren hätten sein sollen, mit dem Finger entlang. »Und war’s das? Nur die Ohren?«
»Jep. Sonst fehlt nichts. Unser Killer hat Kennedy die Zunge rausgeschnitten und Zoe die Augen ausgestochen, aber alle drei sind auch zerstückelt worden, und bei allen dreien findet sich das Symbol mit dem Doppelkreuz und dem Halbmond auf der Haut.«
»Warum sollte jemand all die Mühe auf sich nehmen, eine Leiche zu zerstückeln und wegzuwerfen, und dann so scheinbar willkürliche Körperteile behalten?« Eastwood kehrte wieder auf ihren Platz zurück.
»Vielleicht sind das ja Trophäen. So etwas ist nicht so ungewöhnlich. Erinnert ihr euch noch an Carl Brooks vor sieben Jahren? Er hat Männer vor Schwulenclubs eingesammelt, sie nach Hause gefahren, umgebracht und ihnen dann die Schwänze abgeschnitten.«
Pellacia verzog bei der Erinnerung das Gesicht. »Ja, und dann hat er sie in einem Behälter neben seinem Nachttisch verwahrt. Aber jemandem den Schwanz abzuschneiden ist noch einmal etwas anderes als Augen, Ohren und Zunge. Was soll man damit machen? Sie in die Gefriertruhe neben die Tiefkühlerbsen legen?«
Henley lachte nicht.
»Olivier hat keine Trophäen behalten.«
»Ja, Olivier ging es nicht um Trophäen.« Henley schloss die Fotos. »Er war nicht an Erinnerungsstücken interessiert. Er wollte uns nur zeigen, was er tun konnte, und wie wir wissen, hatten das Doppelkreuz und der Halbmond eine persönliche Bedeutung für ihn. Unsere Experten für solche Sachen haben vorgeschlagen, dass der Halbmond Desillusion bedeuten könnte und das Doppelkreuz Verrat.«
»Wenn ihr mich fragt, hatte Olivier einfach nicht mehr alle Latten am Zaun«, murmelte Stanford an seinem Schreibtisch in der Ecke.
»Danke für den qualifizierten Kommentar, Stanford. Jetzt müssen wir erst einmal herausfinden, woher der Killer von den Symbolen weiß. Dass das alles nur Zufall sein soll, ist vollkommen inakzeptabel.«
»Dem stimme ich zu«, sagte Pellacia. »Aber warum die Ohren auf dem Friedhof, Kennedys Zunge und Daregos Augen?«
Henley biss sich auf die Zunge, um Pellacia nicht zu korrigieren, dass Darego einen Vornamen hatte: Zoe.
»Die drei Affen.« Ramouters Stimme kam aus dem Küchenbereich, wo er sich gerade ein Glas Wasser eingoss.
»Was plappern Sie da, Azubi?«, fragte Stanford.
»Die drei Affen. Das ist ein Sprichwort. Sieh nichts Böses. Hör nichts Böses. Sag nichts Böses. Das müssen Sie doch kennen. Der eine Affe hält sich die Ohren zu, der andere den Mund und der dritte …«
»Jaja, schon verstanden.«
Henley versuchte, ihre Gedanken zu ordnen und zu verarbeiten, was Ramouter gerade gesagt hatte. »Unser Killer ist auf einer Vendetta«, sagte sie. »Jedes seiner Opfer ist aus einem bestimmten Grund zum Ziel geworden. Was hat Zoe gesehen, was hat Kennedy gesagt, und was hat unser Friedhofsmann gehört?«
Niemand antwortete darauf. Das Rauschen des frühabendlichen Verkehrs drang zum Fenster herein. Die Luft war vollkommen still und der Himmel fast violett, als drohe ein Sturm am Horizont.
»Drei Affen, drei Opfer. Das müsste es dann doch gewesen sein, oder?«, warf Ramouter ein.
Henley hörte deutlich heraus, dass er selbst nicht daran glaubte. »Ich habe keine Ahnung«, gab sie zu. »Aber ob es nur drei sein werden oder mehr, die Ermittlungsergebnisse erfüllen bereits jetzt das Kriterium für einen Serienkiller.«
»Und? Was ist das für ein Kriterium, Ramouter?«, fragte Pellacia.
»Ein Serienkiller ist jemand, der mindestens drei Morde über einen Zeitraum von mehr als einem Monat begeht, aber wir haben drei Morde in nur einer Woche.«
»Also suchen wir jemanden, der effektiv ist, einen Plan hat und schnell sein muss. Was sonst noch?«, fragte Pellacia.
»Es muss ein psychologisches Motiv geben. Einen Grund, warum er tötet. Und diesen Grund müssen wir finden«, sagte Henley und setzte sich endlich. Sie war hundemüde. In Pellacias Büro ertönte das schrille Klingeln des Festnetztelefons. Henley schaute zu, wie er aufstand, während die anderen untereinander diskutierten. Nach ein paar Minuten kam Pellacia wieder zurück.
»Das war der Verbindungsmann zum Gefängnisapparat«, sagte er. »Es ist alles geklärt. Henley, Ramouter. Um acht Uhr morgen früh. Ihr beide habt ein Date mit Olivier in Belmarsh.«
»Himmelherrgott! Du hast es tatsächlich geschafft. Was ist passiert? Ist das Revier abgebrannt?«
Nina Sullivan, Henleys älteste Freundin, schob ein großes Glas Rotwein über den Tisch. »Also ehrlich, Anjelica, ich bin schockiert. Schockiert!«
»Oh, jetzt übertreib doch nicht so. Du tust ja, als würdest du mich nie sehen«, sagte Henley, hängte ihre Tasche an den Haken unter dem Tisch und setzte sich auf den Hocker.
»Tue ich ja auch nicht. Du bist zur Einsiedlerin mutiert. Und? Wie geht’s dir?«
»Gib mir eine Minute.« Henley griff nach dem Glas, trank einen kräftigen Schluck und genoss den Geschmack. »Aaah, das tut gut.«
Sie atmete tief durch. Sie war dankbar dafür, dass Nina einen Laden in der Nähe ausgewählt hatte. Henley wollte nicht zu weit weg von der
SCU
. Tatsächlich lag der Trafalgar Pub am Fluss nur fünfzehn Minuten zu Fuß vom Revier entfernt. Sie saßen draußen. Henley schaute nach links zum Pier. Die schwach beleuchtete Kuppel des Eingangs zu einem Fußgängertunnel versperrte ihr ein wenig die Sicht. Sie war zwar viel zu weit weg von der Stelle, wo Daniel Kennedy gefunden worden war, dennoch dachte sie ständig an ihn. Im Fluss herrschte Ebbe, und die Lichter der Docklands im Osten und der City im Westen erhellten den Himmel.
»Essen wir auch was?«, fragte Nina und schob Henley die Speisekarte zu. »Also ich will auf jeden Fall was essen. Schließlich habe ich nicht die ganze Zeit in der Northern Line verbracht, nur um mir dein trauriges Gesicht anzusehen.«
»Ja, wir essen was. Wie geht es den Kindern?«
»Deine Patenkinder gehen mir so richtig auf den Sack. Ehrlich, Mummy hier, Mummy da … Man könnte glauben, sie hätten keinen Dad. Hast du schon gewählt?«
»Ja, habe ich. Ich nehme das Steak. Medium.«
»Cool. Ich bin in einer Sekunde wieder zurück.«
Henley schaute zu, wie ihre beste Freundin im Pub verschwand. Es war fast sieben Uhr, und das war das erste Mal seit Beginn der Mordermittlung, dass Henley Ruhe genug hatte, um das Geschehene wirklich zu verarbeiten.
»Deine Hand zittert ja.«
Nina stand neben ihr und starrte auf sie hinab.
Henley schaute auf ihre rechte Hand und verstärkte den Griff um das Weinglas.
»Wirklich? Habe ich gar nicht gemerkt«, sagte sie.
»Wann hat das angefangen?«, fragte Nina und setzte sich wieder.
»Ich bin nicht sicher. Vor ein paar Tagen vielleicht, aber ich bin okay. Das ist nichts.«
»Erzähl keinen Blödsinn. Du siehst nicht gerade aus, als hättest du in letzter Zeit genügend Schlaf bekommen. Deine Hand zittert, und wir haben noch nicht einmal begonnen, über irgendwas zu reden. Ich kenne dich genauso lange wie mich selbst. Du kannst mir nichts vormachen.«
»Es ist nichts … nur der Job.«
»Also bitte! Es ist nicht nur der Job. Es ist alles andere. Es ist alles in deinem Leben. Du schiebst das einfach beiseite und tust so, als hätte es keinerlei Einfluss auf dein Leben.«
»Bei dir klingt das, als würde ich mir nur was vormachen.«
»Tust du ja auch. Du brauchst eine Therapie, und zwar eine gründliche.«
Henley schwieg, während der Barkeeper ihnen das Essen servierte.
»Das ist nicht der Job«, sagte Henley, griff nach einer Flasche Essig und träufelte etwas davon über ihre Pommes. »Den Job kann ich machen. Ich habe nur nicht damit gerechnet, dass ich wieder bei so was landen würde.«
»Kannst du darüber sprechen?«
»Nein, aber wenn du dir heute Abend den
Evening Standard
holst oder online gehst, dann google mal:
Leiche in Ladywell Fields gefunden
.«
»Ist es schlimm?«
»Schlimm genug, dass ich morgen Olivier besuche.«
»Scheiße.« Nina legte die Gabel weg. »Du wirst den Mann besuchen, der …?«
»Ich habe keine andere Wahl.«
»Du hast immer eine Wahl, Anj. Du kannst einfach Nein sagen. Du warst nie mehr dieselbe, seit dieser Mann dich ins Krankenhaus geschickt hat. Und dann hast du auch noch Emma in der Zeit bekommen und deine Mum verloren.«
»Hast du mit Rob gesprochen?«
»Ich werde nicht hier sitzen und dich anlügen.«
»Na toll.«
»So war das nicht. Er hat mich gestern angerufen wegen Malachis Geburtstagsparty am Samstag. Er macht sich Sorgen um dich.«
»Das weiß ich.«
»Und du musst zugeben, dass es für Rob wie ein Tritt in die Eier ist zu wissen, dass du jeden Tag mit Stephen arbeitest.«
»Du weißt genau, dass das mit Stephen und mir vorbei ist.«
»Red dir das ruhig weiter ein. Wenn du mich fragst, dann suchst du schlicht Ärger.«
»Lass uns über was anderes reden«, sagte Henley und schnitt in ihr Steak.
»Okay. Chris will, dass wir zwei Wochen mit seinen Eltern und dieser Psychopathin, die er seine Schwester nennt, in Urlaub fahren. Es ist ja schon schlimm genug, dass ich Weihnachten mit ihnen verbringen muss, aber zwei ganze Wochen! Anj, bin ich wirklich so ein schlechter Mensch, dass ich so bestraft werde?«
Henley lachte. Sie konnte sich stets darauf verlassen, dass Nina sie wieder aufmunterte, auch wenn sie ihr erst einmal ein paar Wahrheiten um die Ohren gehauen hatte.
»Oh mein Gott. Du könntest mit uns kommen«, schlug Nina vor. »Er will ein Haus in New York mieten. Verrückt, oder? Ich habe ihn schon gefragt, ob er im Lotto gewonnen oder endlich seine Großtante Greta umgebracht hat.«
»Ich, du und unsere Kinder? Ja. Ich und deine verrückte Schwiegerfamilie? Nein, danke. Außerdem kann ich nicht. Ich kann Dad nicht alleinlassen.«
»Geht es ihm noch immer nicht besser?«
Henley schüttelte den Kopf. »Er bricht immer wieder zusammen, und der Einzige, den er sehen will, ist Rob. Nicht mich, nicht Simon und noch nicht einmal seine Enkelkinder. Ich weiß, für dich klingt das verrückt, aber das Einzige, was mich im Augenblick auf den Beinen hält, ist diese Ermittlung.«