Kapitel 25
Kaum war Ramouter wieder an der frischen Luft, da übergab er sich. Henley konnte ihm das nicht verübeln. Vierzig Minuten mit Olivier in einem Raum ohne Sauerstoff. Sie hatte es selbst kaum erwarten können, wieder rauszukommen. Am liebsten hätte sie sich in ein heißes Bad voller Antiseptikum geworfen. Sie hatte das Gefühl, als sei Oliviers Gestank durch ihre Poren gedrungen und verschmelze nun mit ihrem Blut. Sie holte ein Paket Papiertaschentücher aus der Tasche und gab es Ramouter. Ihr war schlecht. Ramouter hatte es eigentlich ganz gut gemacht, bis Olivier seinen Charme aus- und auf Gift umgeschaltet hatte. Er hatte Ramouter als Punching Bag missbraucht, und Henley hatte es zugelassen. Sie hätte ihn aufhalten können, doch sie hatte einfach nur zugesehen, als Olivier mit Ramouter gespielt hatte wie eine Katze mit der Maus.
»Tut mir leid«, sagte Ramouter, wischte sich den Mund ab und starrte angewidert zu Boden. Mit dem Schuh schaufelte er Kies über den Fleck, den er gemacht hatte. »Ich habe mir natürlich vorgestellt, wie es sein würde, aber ich … Ich habe nicht gedacht, dass es so sein würde. Er hat einfach so umgeschaltet.«
»Ihn einen Teufel zu nennen wäre eine Untertreibung«, erwiderte Henley, als sie zum Parkplatz gingen. »Ich weiß, dass Sie gerade Ihr Frühstück ausgekotzt haben, und es ist noch nicht einmal halb elf, aber ich denke, wir könnten jetzt beide einen Drink vertragen … Trinken Sie überhaupt?«
Ramouter lächelte schwach. »Ja, aber wir sind doch noch im Dienst.«
»Ich werde niemandem etwas davon erzählen. Kommen Sie. Ich könnte jemanden umbringen.«
»Möchten Sie auch etwas zu essen? Nicht, dass ich etwas empfehlen könnte«, sagte Henley und stocherte auf der Limonenscheibe in ihrem Glas herum. Sie waren in der Duke of Gloucester Carvery, zwei Minuten zu Fuß vom Gefängnis entfernt, und saßen direkt in der Einflugschneise des London City Airport. Henley und Ramouter hatten sich eine Nische mit tollem Blick auf die Autobahn und einen Tesco ausgesucht.
»Nein, ist schon okay«, antwortete Ramouter und wirbelte die bernsteinfarbene Flüssigkeit in seinem Glas herum.
»Also, für einen Whiskytrinker habe ich Sie nie gehalten.«
»Bin ich auch nicht, aber mein Dad hat immer gesagt, das sei gut für den Magen. Na ja, zumindest war das seine Entschuldigung. Schon komisch, ich habe die erste Hälfte des Morgens damit verbracht, mir verwesende Körperteile anzusehen. Ich will damit nicht sagen, dass mich das unberührt gelassen hätte, das hat es nämlich nicht, aber mit ihm in einem Raum zu sein …« Ramouter verstummte, als die Tür sich öffnete und eine fröhliche Gesellschaft direkt auf die Bar zuhielt.
»Gerechtigkeit!«, schrie jemand in der Gruppe, und eine Frau Mitte fünfzig brach in Freudentränen aus.
»Da ist aber jemand glücklich«, bemerkte Ramouter.
»Die Geschworenen sind vermutlich gerade mit dem Urteil zurückgekommen«, sagte Henley und beobachtete, wie ein Mann der weinenden Frau den Arm um die Schultern legte.
»Woher wissen Sie das?«
»Die normalen Besuchszeiten im Knast beginnen erst um halb zwei, und wenn jemand entlassen wird, geschieht dies für gewöhnlich erst am späten Nachmittag. Außerdem ist Donnerstag. Also stehen die Chancen gut, dass die Geschworenen sich mehrere Tage beraten und heute ein Urteil gefällt haben. Bei einer Verurteilung freut sich niemand so, noch nicht einmal die Familie des Opfers. Daher ist es wahrscheinlich, dass der Mann da in dem eleganten Hemd und dem Marks-and-Spencer-Anzug heute Morgen für unschuldig befunden wurde. Außerdem ist er ein Einheimischer.«
»Woher wissen Sie das denn schon wieder?«, fragte Ramouter und versuchte, sich so unauffällig wie möglich umzudrehen, doch das gelang ihm nicht.
»Wenn Sie durch halb London zu einem Verfahren im Woolwich Crown Court gefahren wären und man hätte Sie für nicht schuldig befunden, würden Sie dann noch hierbleiben wollen?«, fragte Henley, griff nach der fleckigen Speisekarte und drehte sie um.
»Gott, nein. Ich würde so schnell wie möglich von hier verschwinden.«
»Wie gesagt. Ein Einheimischer.«
Henley legte die Speisekarte wieder weg. Als sie das Glas an die Lippen hielt, spürte sie das Zittern. Es war nur schwach, aber es war da. Ein schwaches Zittern im kleinen Finger ihrer rechten Hand, wenn der Nerv in ihrem Daumen zwickte. Sie trank rasch einen Schluck und wartete darauf, dass der Wodka Lemon und die Reste des starken, ungezuckerten Tees, den sie heute Morgen getrunken hatte, ihre Wirkung entfalteten. Schließlich stellte sie das Glas wieder ab und hoffte, dass Ramouter diesen kleinen Augenblick der Schwäche nicht bemerkt hatte.
»Und? Fühlen Sie sich schon besser?«, fragte Henley.
»Ja. Viel besser. Ich habe einen Fehler gemacht. Ich hätte ihm nicht verraten sollen, dass ich ein
TDC
bin.«
»Das wäre auch egal gewesen. Olivier kann Menschen gut einschätzen, und er nutzt diese Fähigkeit gern und oft.«
Ramouter nickte, obwohl ihn die Antwort auch nicht tröstete.
»Wissen Sie, obwohl ich viel über ihn gelesen habe«, sagte er, »in Zeitungen und die Verhörprotokolle … Aber er war irgendwie nicht real, wenn Sie wissen, was ich meine.«
Henley nickte.
»Er war einfach nur eine Figur. Ich wusste, wie er aussah, aber er war schlicht …« Ramouter drehte das Glas in der Hand. »Er war eindimensional. Einfach nur ein Killer. Wie man einen Killer erkennt, bringt einem nur niemand bei.«
»Aber Sie waren der Klassenbeste«, sagte Henley. »Sie hatten sogar die besten Noten im ganzen Land.«
Auf Ramouters Gesicht zeigte sich eine Mischung aus Überraschung und Verlegenheit. »Ich bin ja vielleicht der Klassenbeste gewesen, aber niemand hat mir beigebracht, wie man einen Killer erkennt oder wie man es vermeidet zu kotzen, nachdem man mit einem in einem Raum gesessen hat.«
»Das war doch nicht ihr erster Mörder, oder?«
»Nein, aber die meisten Morde geschehen aus Leidenschaft. Ein Mann, der den Liebhaber seiner Frau umbringt. Eine Frau, die sich endlich nach Jahren der Misshandlungen rächt, sich einen Fleischklopfer schnappt und ihrem Mann damit den Schädel einschlägt. Ein Vierzehnjähriger, der noch nicht genug Verstand hat, um einfach wegzulaufen, wenn sein genauso dämlicher Kumpel jemanden absticht. Das ist die Art von Mörder, die ich bis jetzt gesehen habe, und dabei ist es egal, wo man ist. London, Bradford. Das ist die Normalität, aber er …«
»Ein kaltblütiger Psychopath.«
»Nein, so jemanden habe ich noch nie gesehen. Und im Examen ist so etwas auch nicht geprüft worden.«
Beide schauten sie auf den Tisch, während die Uhr über der Bar sich mit leisem Ticken auf elf zubewegte und die Duke of Gloucester Carvery sich immer mehr mit Angeklagten und erleichterten oder verzweifelten Angehörigen füllte. Die Anwälte würden erst in zwei Stunden kommen. Die hatten noch zu tun.
»Er mag den Chef nicht, oder?«, sagte Ramouter, griff in seine Jacke, die er neben sich auf den Sitz gelegt hatte, holte eine braune Lederbörse heraus und öffnete sie.
»Er mag niemanden«, antwortete Henley und nahm sich noch mal die Speisekarte. »Alles, was er tut, alles, was er sagt, das macht er nur, um eine Reaktion zu provozieren. Sie haben doch gesagt, Sie hätten die Verhörprotokolle gelesen.«
»Ja.«
»Als Olivier verhört worden ist, war seine Antwort auf jede von Pellacias Fragen: ›Arsch.‹ Können Sie mir erklären, warum Ihr Daumenabdruck über dem linken Schienbein von Opfer Nummer zwei gefunden wurde? Arsch. Haben Sie Sergeant Adrian Flynn beleidigende Textnachrichten geschickt? Arsch. So ging das eine ganze Stunde lang. Das war seine Antwort. Arsch. Dann hat er plötzlich den Ton gewechselt und erklärt, er wolle einen Anwalt, denn er habe es satt, ständig Pellacias Arschgesicht zu sehen.«
»Wie charmant.«
»Eine wahre Freude.«
»Ich verstehe allerdings nicht, warum er das getan hat. Nach einem Anwalt zu fragen, meine ich.«
»Kontrolle. Bei Olivier geht es nur um Kontrolle. Er will das Narrativ kontrollieren. Selbst wenn er leugnet, geht es immer um Kontrolle, und er hat es gehasst, dass Pellacia ihm die Kontrolle genommen hat.«
»Aber Sie waren doch diejenige, die ihn verhaftet hat, bevor er …« Ramouter hielt inne. »Tut mir leid.«
Henley legte die Hand auf den Bauch, als sie spürte, wie ihre Muskeln sich verspannten. Ihre Gedanken wanderten zu dem Augenblick zurück, als sie zum ersten Mal versucht hatte, Olivier die Handschellen anzulegen. Sie hatte sein Gesicht in den Schlamm der Heide gedrückt, und er hatte nach ihr getreten und ihr zwei Rippen gebrochen. Das Messer in seiner Hand hatte sie nicht gesehen. Sie konnte sich noch deutlich an den stechenden Schmerz in ihrer Brust erinnern. Sie empfand ihn noch heute, und das jedes Mal, wenn sie sich auf den Rücken legte. Sie hatte versucht, das Blut zu stoppen. Blaue flackernde Lichter hatten Oliviers Gesicht erhellt. Pellacia hatte ihn gepackt. Sie hatte Olivier ins Gesicht geschaut, auf seinen blutigen Mund und den gebrochenen Schneidezahn. Sie erinnerte sich daran, wie Pellacia ihn geschlagen hatte, nachdem er ihr ins Gesicht gespuckt und gegrinst hatte.
»Und obwohl es so aussah, als würde Olivier meine Gesellschaft genießen, er hasst mich auch«, sagte sie.