Kapitel 29
Henley kniff die Augen zusammen und öffnete sie wieder. Seit fast einer Stunde starrte sie auf die tote Spinne an der Decke, während draußen die Geräusche der Stadt zu hören waren. Sie hob den Kopf und schaute auf die Nachttischuhr. 07:42 Uhr. Robs Seite war leer. Er war sauer auf sie, weil sie zu spät zur Party gekommen war. Er hatte kaum mit ihr gesprochen, nachdem sie eingetroffen war, und nach ihrer Rückkehr war er nur zehn Minuten später wieder rausgegangen. Sie hatte den Rest des Abends mit einer Flasche Rotwein verbracht, während Emma geschlafen hatte. Durch das offene Fenster war das Knattern eines Hubschraubers in der Ferne zu hören. Ein Tor wurde zugeschlagen und ein Motor gestartet. Eine Million Gedanken waren ihr durch den Kopf geschossen, seit sie sich um zwei Uhr morgens hingelegt hatte. Die Packung mit den Schlaftabletten, die sie aus der Schublade genommen hatte, lag ungeöffnet neben ihr. Als um vier Uhr die Vögel zu singen begonnen hatten, hatte sie keinen Sinn mehr darin gesehen, noch eine davon zu nehmen.
Henley seufzte und stieg schließlich aus dem Bett. Als sie nach Emma sah, die noch immer schlief, wanderten ihre Gedanken zu den Familien der Opfer. Henleys Heim fühlte sich traurig an, denn hier lebten zwei Menschen zusammen, die vielleicht besser nicht zusammenleben sollten, aber in den Häusern der Opferfamilien herrschte echte, tiefe Trauer.
Drei Opfer, und abgesehen von der Tatsache, dass Zoe und Daniel Kennedy ein Paar gewesen waren, schien keine Verbindung zwischen den dreien zu bestehen. Die einzige Gemeinsamkeit war, dass sie alle drei ermordet und dass ihre Leichen in der gleichen Gegend abgelegt worden waren. In Henleys Nachbarschaft. Sie schaltete den Wasserkocher an und ging zum Kühlschrank. Vielleicht war es ja mal an der Zeit für sie, etwas Nettes zu tun. Mehr wie eine Ehefrau zu handeln. Freitagabend hatte sie es versucht, und sie wusste, dass sie es weiter versuchen sollte. Sie war zwar nicht ganz davon überzeugt, dass ein echtes englisches Frühstück ihre Beziehung zu Rob wieder in die richtige Bahn lenken würde, aber es war ein Anfang.
»Zeugen am Tatort haben gesagt, die Leiche, die auf dem Friedhof von St. Nicholas gefunden wurde, sei zerstückelt gewesen. Die Identität des Mannes ist noch nicht bekanntgegeben worden, aber es heißt, der Mord stehe in Verbindung zu dem an Uzomomaka Darego, einer sechsundzwanzigjährigen Krankenschwester aus Stratford, deren Leiche …«
»Was zum …«, sagte Henley und drehte die Radiolautstärke auf. Sie lauschte dem Nachrichtensprecher, der weitere Informationen verkündete, die gar nicht an die Presse gegeben worden waren. Beim letzten Mal, als jemand von der SCU
mit der Presse gesprochen hatte, hatte Pellacia die Identität von Daniel Kennedy bestätigt.
Ein lautes Klopfen an der Tür erschreckte Henley, und sie verschüttete heißen Tee auf ihre nackten Beine. Es war fast acht, und Emma war die Treppe hinuntergeschlurft.
»Morgen, Süße.« Sie hob ihre Tochter hoch. »Oooh, du bist ja richtig schwer«, sagte sie und ging zur Tür. Sie hatten keinen Türspion, aber eine kleine Milchglasscheibe. Henley sah niemanden draußen. Sie brachte Emma ins Wohnzimmer, setzte sie aufs Sofa und schaltete ihr den Fernseher an. Irgendjemand hatte definitiv geklopft. Henley ging wieder raus und öffnete die Tür. Da war niemand, weder vor ihrer Tür noch sonst wo in der Straße, doch da stand ein Paket auf ihrer Schwelle. Henley schaute auf das Paket. Kurz dachte sie, dass Rob sich vielleicht wieder mitten in der Nacht ein paar Computerspiele und Comics bestellt hatte, doch für eine Amazon-Lieferung war es noch zu früh, und außerdem stand ihr Name in schwarzer Tinte auf dem Karton. Keine Adresse. Nur ihr Name. »Anjelica Henley«.
Henley stieg über den Karton, ging über den Kiesweg und legte die Hand auf das gusseiserne Tor zu ihrem Vorgarten. Sie schaute nach rechts und links. Niemand zu sehen. Weder Autos noch Menschen, noch nicht einmal eine Katze oder ein Eichhörnchen.
»Luna, bei Fuß«, sagte Henley, als sie sah, dass der Hund ihr gefolgt war und an dem Paket schnüffelte. Henley packte Luna am Halsband und zog sie zum Haus. Sie hörte Emma über den Cartoon lachen, den sie gerade sah. Dann kniete Henley sich hin und zog das braune Paketband ab, das den Deckel zusammenhielt. Sie klappte ihn auf und schob das zerknüllte Zeitungspapier beiseite. Sie erstarrte, als ihre Finger in verfilztem Haar hängen blieben. Es dauerte nur ein paar Sekunden, aber es fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Rasch zog Henley die Hand wieder zurück. Ihre Finger waren voller dunkelrotem Blut. Sie wollte das Paket nicht noch einmal berühren, aber sie konnte es auch nicht einfach stehen lassen. Sie lief ins Haus, die Treppe hinauf und schnappte sich ihr Handy, das im Schlafzimmer am Ladekabel hing. Sie hinterließ zwei rote Fingerabdrücke auf dem Display, als sie den Home-Button drückte und Pellacias Nummer wählte, während sie die Treppe wieder hinunterlief. Emma schaute noch immer Fernsehen. Sie hatte nichts bemerkt.
»Komm schon. Geh ran«, knurrte Henley. Sie stand in der Tür und beobachtete das Paket. Sie landete bei Pellacias Anrufbeantworter. Henley drückte die Ruftaste ein zweites Mal. Eine Nachricht hinterließ sie nicht. Wieder sprang direkt der Anrufbeantworter an, und sie zuckte unwillkürlich zusammen, als sie das Quietschen des Vorgartentors hörte.
»Bleib stehen!«, schrie sie Rob an. Seine linke Hand lag auf dem Tor. Sein Haar war nass von Schweiß, und er hatte seine Laufweste ausgezogen und um die Hüfte gebunden.
»Was?«, rief er zurück und zog die blauen Kopfhörer aus den Ohren.
»Bleib stehen! Beweg dich nicht!«
»Was soll das heißen: ›Beweg dich nicht‹?« Rob machte sich auf den Weg über den Kiesweg. »Was ist denn los mit dir?«
»Verdammt noch mal«, sagte Henley, als ihr Handy vibrierte. Sie drückte
Annehmen
und schmierte Blut aufs Display. Dabei ließ sie Rob keine Sekunde aus den Augen.
»Was ist das?«, fragte Rob. Er blieb an dem Paket stehen und beugte sich vor.
»Nicht anfassen!«, brüllte Henley und trat einen Schritt auf ihn zu.
»Anj?«, meldete sich Pellacia am anderen Ende der Leitung. »Was ist denn los?«
»Stephen, du musst …« Emmas Ruf nach ihrer Mummy lenkte sie ab, und sie drehte sich eine Sekunde um, doch das reichte Rob, um das Paket hochzuheben. Ein lauter Schrei und ein dumpfer Knall waren die Folge, als er es wieder fallen ließ. Er taumelte zurück, stolperte, fiel, und Kies spritzte über die Einfahrt. Henleys Herz setzte einen Schlag lang aus, als sie Robs Gesicht sah.
»Anjelica!«, sagte Pellacia. Seine Stimme klang hart in Henleys Ohr.
»Schick eine Streife und die Kriminaltechnik zu meinem Haus.«
»Warum das denn, verdammt?«
»Sofort, Stephen!« Henley schnappte sich Emma, die plötzlich neben ihr stand, und lief ins Haus zurück. »Auf der Stelle!«