Kapitel 36
»Sean Delaney war der Geschworene Nummer vier in Oliviers erstem Prozess«, verkündete Ramouter, als er die braune Papiertüte aus dem benachbarten Café auf den Tisch stellte.
»Haben Sie schon die komplette Geschworenenliste?« Henley griff nach einem Becher Tee.
»Die erste Jury wurde am 8. Januar 2017 ausgewählt.« Ramouter gab Henley ein Blatt Papier mit zwölf Namen. »Aber zwei Wochen später wurde sie wieder aufgelöst, weil …«
»Weil einer der Geschworenen Sherlock Holmes gespielt, etwas über Olivier herausgefunden und das den anderen erzählt hat. Ich weiß. War das Delaney?«
»Nein. Er nicht. Das war ein anderer. Ein gewisser Dominic Pine. Geschworener Nummer elf. Ich habe den Staatsanwalt direkt heute Morgen angerufen, und soweit er sich erinnern kann, hatte Dominic Pine irgendwie herausgefunden, dass Olivier unehrenhaft aus der Army entlassen worden ist, dass er mehrere Vorstrafen hatte und dass sein erstes Opfer, Sergeant Adrian Flynn, angeklagt worden war, ihn mit neunzehn Jahren vergewaltigt zu haben. Wie kommt es, dass Sie sich nicht mehr daran erinnern?«
Henley schaute auf die Uhr und dann auf die dunklen Ringe unter Ramouters Augen, und sie beschloss, ihm seine Unverschämtheit zu verzeihen.
»Ich hatte nur etwas mit dem Prozess zu tun, weil ich Teil des Ermittlerteams war, und … und als Opfer.« Ihre Wangen glühten vor Scham. »Die Geschworenen sind entlassen worden, noch bevor ich ausgesagt hatte. Natürlich hat man uns darüber informiert, aber so etwas ist auch nicht so ungewöhnlich, wie Sie vielleicht glauben. Die juristischen Hintergründe versteht ohnehin niemand. In jedem Fall wurde der Prozess im März wieder aufgenommen. In der dritten Woche saß ich zwei Tage lang im Zeugenstand.«
Henley erinnerte sich noch ganz genau daran. Als sie in Saal neun von Old Bailey im Zeugenstand gesessen hatte, da war sie im achten Monat mit Emma schwanger gewesen. Der Staatsanwalt hatte sie gefragt, ob sie eine Sonderbehandlung wünsche, eine Befragung über Video-Link vielleicht oder hinter einem Vorhang, abgeschirmt von Olivier. Sie erinnerte sich noch daran, das verneint zu haben. Sie war fest entschlossen gewesen, sich nicht verwundbar zu zeigen oder einschüchtern zu lassen. Also hatte sie sich in den Zeugenstand gezwängt. Emma hatte sie ständig getreten, als protestiere sie dagegen, in einem Gerichtssaal zu sein.
»Ich habe bis zum Hals in einem anderen Fall gesteckt, und dann bin ich in Mutterschaftsurlaub gegangen. Bis zur Urteilsverkündung habe ich keinen Gedanken mehr an Olivier verschwendet«, sagte Henley.
»Hmmm. Okay. Gut. Pine wurde angeklagt und im Juni 2017 wegen Missachtung des Gerichts schuldig gesprochen. Er hat eine dreimonatige Haftstrafe bekommen, aber jetzt wird’s richtig interessant. Schauen Sie sich mal die Geschworene Nummer fünf an.«
Henley stellte ihren Tee beiseite und griff wieder nach der Liste. »Uzomomaka Darego. Das ist unsere Zoe. Geschworener Nummer sieben, Daniel Kennedy.«
»Aber diese Opfer haben nichts mit Olivier zu tun. Sie haben ihn nicht schuldig gesprochen. Das war die zweite Jury. Wenn das Rache an unseren Opfern sein soll, dann hätte der Täter sich doch nicht die Mitglieder der ersten, sondern die der zweiten Jury ausgesucht. Das ergibt einfach keinen Sinn.«
»Sosehr es mich auch schmerzt, das zuzugeben, ich denke, Olivier hat uns die Wahrheit gesagt. Ich glaube nicht, dass diese Morde etwas mit ihm zu tun haben.« Henley griff wieder nach ihrem Tee und ging zu dem großen Whiteboard, wo noch immer die Bilder von Daniel Kennedy, Zoe Darego und Sean Delaney hingen. Auf der anderen Seite hing ein Phantombild des Kopfes, den man Henley an die Tür geliefert hatte.
»Niemand beginnt, ohne Grund zu töten«, erklärte Ramouter. »Man wacht nicht einfach auf, bemerkt, dass man keine Milch mehr hat, und beschließt, den Milchmann in Stücke zu hacken.«
»Vielleicht gab es ja einen Testlauf«, überlegte Henley laut. »Was ist mit den anderen Geschworenen?«
»Zwei sind tot«, antwortete Ramouter. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und legte die Hand vor die Augen. Henley erkannte, dass er die Namen bereits auswendig gelernt hatte. »Albert Kraenish, aber das war ein natürlicher Tod letztes Jahr. Laut Totenschein litt er an Leberkrebs.«
»Und der andere?«
»Carole Lewis, achtundvierzig Jahre alt. Sie ist im Mai in Muswell Hill erstochen worden. Die Ermittlungen laufen noch.
DS
Lancaster ist die leitende Beamtin.«
Henleys Gedanken überschlugen sich, aber sie wusste einfach nicht, was sie sagen sollte.
»Was, wenn Kennedy nicht der Erste war?«, fragte Ramouter.
»Was meinen Sie damit?«
»Sie haben es gerade doch selbst gesagt. Ein Testlauf. Was, wenn Kennedy nicht der Erste war? Was, wenn das Carole Lewis war?«
Henley hatte sich nicht die Mühe gemacht, vorher anzurufen und DS
Deborah Lancaster Bescheid zu geben, dass sie auf dem Weg war. Carole Lewis war in Muswell Hill ermordet worden, aber vor achtzehn Monaten war die Kriminalpolizei vom dortigen Revier nach Wood Green gezogen. Henley schaute auf die große Uhr an der Wand. DS
Lancaster war spät dran. Ihre Schicht hatte schon vor sechzehn Minuten begonnen. Beamte wanderten durch den Einsatzraum. Sie waren offensichtlich fasziniert, dass zwei Beamte der SCU
ihr Revier beehrten, doch von DS
Lancaster keine Spur. Henley hatte bereits zweimal Kaffee und Tee abgelehnt, während man Ramouter schlicht ignoriert hatte. Eine zierliche brünette Frau betrat den Raum. Henley stieß Ramouter mit dem Ellbogen an, als die Frau in ihre Richtung schaute, während sie mit einem Uniformierten sprach, der sie an der Tür abgefangen hatte. Sie war attraktiv, und das wusste sie. Henley sah jedoch auch eine gewisse Härte in ihr, und das gefiel ihr nicht. Irgendetwas an Lancaster warnte einen, vorsichtig zu sein. Diese Frau hatte kein Problem damit, einen vor den Bus zu stoßen, sollte sie es für nötig halten.
Alle drei saßen sie dichtgedrängt um ihren Schreibtisch herum.
»Wir haben den Ehemann als Tatverdächtigen ausgemacht«, sagte Lancaster.
Henley schaute die Frau streng an, um sie daran zu erinnern, dass sie mit jemandem sprach, der im Rang über ihr stand. Lancaster verstand sofort und korrigierte sich. »Aber da Sie jetzt hier sind, Ma’am …«, sagte sie widerwillig.
»Wie gesagt haben wir den Ehemann in Verdacht«, fuhr sie fort. »Ein paar Kinder auf dem Weg zum Fußball haben ihre Leiche an einem Sonntagmorgen neben einem Fußballplatz gefunden. Sie hatte Stichwunden in der Brust, und ihre Kehle war durchgeschnitten. Fast hätte der Täter sie geköpft. Dass der Ehemann so schnell in Verdacht geriet, war nur natürlich, denn wir haben rasch herausgefunden, dass er eine Affäre mit der Nachbarin gehabt hat.«
»Er war bestimmt sehr charmant«, bemerkte Ramouter.
»Ja, wenn Sie ihn gesehen hätten, hätten Sie sich gefragt, wie der Typ überhaupt je eine Frau abbekommen hat«, erwiderte Lancaster und richtete ihren Blick auf Ramouter.
Henley beobachtete, wie Lancasters Blick zu Ramouters linker Hand wanderte. Dann hob sie den Kopf wieder.
»Darf ich Ihnen eine Tasse Tee oder Kaffee anbieten?«, fragte Lancaster ihn. »Wir haben hier so Kapseln. Richtig gut.«
Henley widerstand dem Drang, mit den Augen zu rollen oder Lancaster dafür zu tadeln, dass sie vor ihren Augen mit Ramouter flirtete.
Ramouter räusperte sich. »Nein, danke.«
»Yorkshire, stimmt’s?«, fragte Lancaster.
»Sergeant!« Jetzt hatte Henley doch die Nase voll. »Sie haben gesagt, Sie hätten den Ehemann verdächtigt.«
»Es half auch nicht gerade, dass der Mann drei Monate vor dem Mord eine Lebensversicherung auf sie beide abgeschlossen hat«, sagte Lancaster. »Wir haben das Haus durchsucht und ein Paar Laufschuhe mit Blutspuren darauf gefunden. Er hat gesagt, sie habe sich ein paar Tage zuvor in der Küche geschnitten, und er sei in ihr Blut getreten.«
»Was hatten Sie sonst noch für Beweise?«, verlangte Henley in scharfem Ton zu wissen.
»Nichts, was ihn direkt mit der Tat in Verbindung bringen könnte.« Lancaster griff nach einer großen Flasche Evian auf ihrem Schreibtisch. »Wir haben ihn zum Verhör einbestellt, und er hat natürlich geleugnet, irgendetwas damit zu tun zu haben. Er hat uns ein Alibi gegeben. Er habe die Nacht in einer Travellodge mit seiner Nachbarin verbracht. Es gab jedoch keine Buchung auf seinen oder ihren Namen. Trotzdem hat die Staatsanwaltschaft erklärt, die Beweise seien unzureichend, und er wurde wieder auf freien Fuß gesetzt.«
»Haben Sie gewusst, dass Lewis Geschworene beim Prozess gegen Peter Olivier gewesen ist?«
»Nein, das haben wir nicht gewusst, und selbst, wenn wir das gewusst hätten, wäre das keine mögliche Ermittlungsrichtung für uns gewesen. Aber jetzt werden wir natürlich …«
»Nein, das werden Sie
nicht
. Jetzt übernehmen wir«, unterbrach Henley sie.
Lancasters Gesichtsausdruck verhärtete sich. »Bitte was? Was meinen Sie damit, jetzt übernehmen Sie?«
»Genau das, was ich gesagt habe. Wir übernehmen die Ermittlungen im Fall Lewis.«
»Das können Sie nicht tun. Das ist meine Ermittlung.«
»Das
war
Ihre Ermittlung, aber meiner Meinung nach haben Sie ohnehin versagt.«
Henley wusste, dass sie nicht so hart hätte sein müssen, aber Lancaster hatte etwas an sich, das sie einfach auf die Palme brachte.
»Ma’am, bei allem gebührenden Respekt, ich leite diese Ermittlung seit …«
»Sie leiten sie schlecht.«
Henley war sich durchaus bewusst, dass die Aktivität im Einsatzraum nachgelassen hatte. Gespräche waren mitten im Satz beendet worden. Selbst die Telefone klingelten nicht mehr.
»Sie haben nicht die Autorität …«
»Sergeant Lancaster, kümmern Sie sich nicht weiter darum. Ich werde jemanden von der
SCU
schicken, um die Aktenübergabe zu regeln.« Henley schob ihren Stuhl zurück und winkte Ramouter, ihr zu folgen.
Lancaster lief rot an. Sie kochte vor Wut.
»Und halten Sie sich zu unserer Verfügung«, fügte Henley hinzu.
»Ich glaube nicht, dass Sie sich auf eine Weihnachtskarte von Lancaster freuen dürfen«, bemerkte Ramouter, als sie das Revier verließen.
»Und das kümmert mich, weil?«, erwiderte Henley. Ihr Handy klingelte. »Sie hat es darauf angelegt, und ich mag es nicht, wenn mich jemand verarschen will.«
»Aber in einem hat sie recht: Wir haben nicht die Autorität dazu. Wir können nicht einfach so übernehmen.«
»Glauben Sie, das weiß ich nicht?« Henley holte ihr Handy aus der Tasche. »Pellacia wird eben ein Wunder wirken müssen.«
Sie nahm ab und hörte zu. Dann drehte sich ihr der Magen mit jedem Wort ein Stückchen mehr.
»Wir müssen gehen. Sofort.« Henley lief los in Richtung Auto.
»Was ist denn?«, fragte Ramouter, während er versuchte, sie einzuholen. »Was ist denn passiert?«
»Olivier ist passiert. Er ist ausgebrochen.«