Kapitel 43
Daniel Kennedy, Zoe Darego, Sean Delaney und Carole Lewis. Die Namen standen in roter, abwaschbarer Tinte auf dem Whiteboard.
»Und du bist absolut sicher, dass Lewis auch auf das Board gehört?«, fragte Pellacia. Er zog sein Jackett aus und legte es über den Stuhl. Henley schaute zu Ramouter, der sie ungläubig anstarrte.
»Natürlich ist sie sicher«, erklärte Joanna, als sie an ihnen vorbeiging und einen Stapel Papiere auf Ramouters Tisch warf.
»Ich spiele nur des Teufels Advokat«, fuhr Pellacia fort. »Wir haben eine Lücke von vier Monaten zwischen den Morden an Lewis und Kennedy und Darego. Dann ist da noch die Art, wie sie getötet wurden. Kennedy, Darego und Delaney sind allesamt zerstückelt worden. Lewis hat man den Hals durchgeschnitten.«
»Es war schon ein bisschen mehr als nur ein durchgeschnittener Hals«, erwiderte Henley und zog einen großen Beweisbeutel mit Briefen zu sich. »Wer auch immer das war, er hat ihr fast den Kopf abgeschnitten. Der Mord mag ja eine Gelegenheitstat gewesen sein, aber er ist zumindest teilweise auch geplant worden, und Carole hat ihren Killer gekannt. Auch wenn ich das nicht beweisen kann, sagt mir mein Bauchgefühl, dass sie sich im Park mit jemandem treffen wollte. Die Frage ist nur, mit wem.«
»Natürlich wollte sie das. Sie ist doch zum Ficken dorthin.«
»Ich meine jemanden, den sie wirklich gekannt hat, nicht irgendeinen Fremden im Gebüsch.«
»Dein Bauchgefühl reicht aber nicht. Was ist mit der DNA , die man bei ihr gefunden hat?«, hakte Pellacia nach. »Irgendwelche Treffer?«
»Laut Lancaster haben sie nur einen Treffer gehabt, einen Gary Wilkins. Er hat zugegeben, in der Nacht zuvor Sex mit Carole gehabt zu haben. Er sagt, das sei auch nicht das erste Mal gewesen, dass sie sich regelmäßig im Muswell Park getroffen hätten. Die zweite DNA gehört ihrem Mann, und die dritte hat man noch nicht identifiziert.«
»Ist es möglich, dass unser Killer einer der Männer war, mit denen sie geschlafen hat?«
Henley zuckte mit den Schultern. »Möglich schon. Ausschließen können wir es zumindest nicht. In Zoes Autopsiebericht werden Samenspuren erwähnt, aber die stammen von Kennedy. Alle drei wiesen Spuren von Fesselungen auf, aber nichts, was auf sexuelle Aktivitäten hingedeutet hätte. Wer auch immer Carole getötet hat, könnte zwar Sex mit ihr gehabt haben, aber hier ging es um Rache. Wir müssen nur herausfinden, wer gegen die drei Rachegefühle entwickelt hat.«
»Und Olivier kann es nicht gewesen sein, denn der war im Gefängnis, korrekt?«, sagte Ramouter. »Ich meine, wenn es bei den Morden um Rache ging, dann sollte man doch davon ausgehen, dass er sich die Leute aussucht, die ihn auch tatsächlich für schuldig befunden haben, oder den Richter, der ihn zu lebenslanger Haft verurteilt hat. Unser Nachahmungstäter muss seine eigenen Gründe haben, warum er sich ausgerechnet die erste Jury vorknöpft.«
»Was ist mit Dominic Pine? Er war doch der Grund, warum der erste Prozess gescheitert ist. Haben Sie schon mit ihm gesprochen?«, fragte Pellacia Ramouter.
»Pine ist Sanitäter. Deshalb war es ein wenig kompliziert, bei seinen Schichten ein Treffen mit ihm zu arrangieren.«
»Und wie sieht es mit den anderen Geschworenen aus?«, wollte Pellacia wissen.
»Es hat zwar fast den ganzen Morgen gedauert, aber ich habe die übrigen sieben gefunden. Um ein paar von denen müssen wir uns im Augenblick nicht kümmern. Alexandro Parks macht gerade Flitterwochen in Vietnam. Er kommt erst in zweieinhalb Wochen wieder zurück. Kusal Bollasingham sitzt in Highdown eine Strafe ab. Achtzehn Monate wegen Betrugs. Er wird nächsten April entlassen. Dann haben wir noch Hamilton Bryce. Bryce ist vor drei Jahren nach Manchester gezogen. Ich habe ihn gefragt, ob er noch Kontakt zu den anderen Geschworenen gehabt hat, und er hat Nein gesagt.«
»Hoffentlich müssen wir uns um Bryce tatsächlich keine Sorgen machen. Mit Ausnahme von Lewis scheint sich unser Täter zwar auf Süd-London zu beschränken, aber wir sollten die Kollegen in Manchester trotzdem bitten, mal ein Auge auf ihn zu haben«, schlug Henley vor.
Pellacia nickte zustimmend.
»Damit bleiben noch Jessica Talbot, Matthew Kirkpatrick, Dominic Pine und Naomi Spencer«, zählte Ramouter auf und faltete seine Liste wieder. »Und was tun wir jetzt? Wir können doch nicht einfach bei ihnen vorbeifahren und ihnen fröhlich verkünden, dass sie ins Visier eines Serienmörders geraten sind, oder?«
»Wir müssen …«
Henley wurde vom Klingeln des Telefons auf ihrem Schreibtisch unterbrochen. Sie erkannte die Nummer sofort. Das war Anthonys Direktanschluss, und sie nahm ab.
»Was ist mit deinem Handy passiert?«, fragte Anthony. »Du bist nicht drangegangen, also dachte ich, ich versuch’s mal auf die altmodische Art.«
Henley klemmte den Hörer unters Kinn und kramte in ihrer Tasche nach dem Handy. Da wurden fünf entgangene Anrufe von Anthony angezeigt, doch das Handy war auf stumm geschaltet. »Tut mir leid. Was ist denn so dringend?«
»Dein Kopf.«
»Wie meinen?«
»Dein Kopf. Der, den man dir vors Haus geworfen hat. Ich weiß, wer das ist.«
»Wirklich? Und wer?«
»Das werde ich dir sagen, wenn wir uns sehen. Ich verlasse jetzt das Revier. Wir sehen uns dann in einer Stunde. Ich komme vorbei.«
Henley starrte auf das Foto auf Anthonys iPad. Der Mann, der ihren Blick erwiderte, lächelte. Seine dichten schwarzen Locken fielen ihm in die Stirn. Er sah aus, als wäre er so Mitte zwanzig. »Wie hast du ihn gefunden?«, fragte Henley.
»Zuerst haben wir es mit den Zähnen versucht, aber das hat nirgendwo hingeführt. Also haben wir es ganz altmodisch gemacht. Wir haben ein Phantombild von Mr. Cheung erstellt und …«
»Ist das sein Name?«
»Ja. Elliot Shen Cheung. Bei seinem Verschwinden vierundzwanzig Jahre alt. Aber wie auch immer … Das Phantombild wurde verteilt und ist letzte Woche auch noch auf der Website des Vermisstendezernats online gestellt worden. Heute Morgen hatten wir dann einen Treffer.«
»Und wer ist er?«
»Ursprünglich stammt er aus Hongkong. Mit achtzehn Jahren ist er zum Studium nach Großbritannien gekommen, genauer gesagt nach Cardiff. Dann ist er nach London gezogen, wo er auch seinen Abschluss gemacht hat, und hat in einer Werbeagentur am Hoxton Square gearbeitet. Ein Freund hat ihn vermisst gemeldet, und zwar eine Woche nachdem seine Leiche, allerdings ohne Kopf, gefunden worden war. Offenbar ist er zu diesem Zeitpunkt schon seit zwei Wochen von niemandem mehr gesehen worden.«
»Was ist mit seinem Arbeitgeber? Haben die es nicht als seltsam empfunden, dass er nicht mehr zur Arbeit gekommen ist?«
»Sie haben gesagt, das sei nicht das erste Mal gewesen, dass ein Frischling plötzlich nicht mehr gekommen ist. Ich sage dir, Anj, die Jugend von heute. Keine Arbeitsmoral.«
»Wer hat ihn nun identifiziert?«
»Nun, tatsächlich ist das einer der Gründe, warum ich dir das unbedingt persönlich sagen wollte. Im Vermisstendezernat sind, nachdem wir es online gestellt hatten, zwei Meldungen eingegangen. Die eine stammte von einer Tanya O’Brien. Sie war Elliots Freundin, aber sie haben sich eine Woche vor seinem Verschwinden getrennt.«
»Und die andere?«
Henley und Anthony starrten einander an. Henley wurde heiß, und wieder schaute sie auf das Foto des lächelnden Elliot Cheung, der nun in sechs Teilen in der Leichenhalle lag. Anthony musste nicht aussprechen, wer die zweite Meldung gemacht hatte, aber er sagte es trotzdem.
»Peter Olivier.«
»Wie bitte?« Pellacia hob die Augenbrauen. Bis jetzt hatten die anderen einfach schweigend zugehört. »Peter Olivier hat die Polizei kontaktiert?«
»Er hat sie nicht angerufen. Das lief über die Website.«
»Und um wie viel Uhr war das?«, fragte Henley.
»Sie sagen, Olivier hätte das Formular um 08:46 Uhr ausgefüllt, aber erst um 12:42 Uhr ist es bearbeitet worden.«
»Er spielt mit uns.«
»Sieht so aus«, bestätigte Anthony.
»Wir müssen herausfinden, wo Olivier war, als er sich über das Netz gemeldet hat.«
»In jedem Fall hatte er zu dem Zeitpunkt Internetzugang«, sagte Ramouter. »Wir sollten Ezra fragen, ob er die IP -Adresse ausfindig machen kann.«
»Gehen Sie zu ihm«, befahl Henley.
»Wer zum Teufel ist Elliot Cheung?«, fragte Pellacia. »Ich kann mich nicht daran erinnern, den Namen im Zusammenhang mit Oliviers Vergewaltigungsanzeige gelesen oder gehört zu haben.«
»Und er ist auch viel zu jung dafür«, fügte Henley hinzu. »Cheung war erst vierundzwanzig, als er verschwunden ist.«
»Viel zu jung ist noch untertrieben«, sagte Anthony und sammelte seine Sachen ein. »Er war ja noch nicht einmal geboren, als Olivier in der Army war.« Er klopfte auf seine Hosentaschen, bis er den Autoschlüssel fand. »Okay. Bis später.«
»Es muss einen Grund geben, warum Olivier ihn sich geschnappt hat«, erklärte Henley, nachdem Anthony gegangen war. »Sich willkürlich jemanden auszusuchen? Das passt nicht in Oliviers Muster. Vielleicht hat Cheung ihm irgendwas getan.«
Sie schaute zu Pellacia. Konzentriert hatte er die Stirn in Falten gelegt. Sie musste ihn nicht fragen, was er gerade dachte. Sie konnte in ihm lesen wie in einem Buch.
»Du machst dir Sorgen, dass dieser Fall außer Kontrolle gerät«, sagte sie.
»Wir ermitteln gegen einen Nachahmungstäter, Olivier ist auf der Flucht, und jetzt eröffnen wir auch noch einen alten Mordfall wieder.«
»Wir eröffnen keinen alten Fall wieder. Wir müssen nur herausfinden, in welcher Verbindung Olivier zu diesem Elliot Cheung steht.«
»Und wir müssen herausfinden, warum er Cheungs Kopf zu deinem Haus schicken ließ.«
»Oh, das weiß ich schon längst«, erwiderte Henley. »Das hat er gemacht, weil er ein kranker Arsch ist.«