Kapitel 46
Ein uniformierter Polizeibeamter stand vor dem Zimmer von Karen Bajarami. Henley erkannte ihn aus dem Revier von Plumstead. Er war eigentlich ganz gut in seinem Job, doch manchmal wünschte Henley sich, die Met hätte die Mindestgröße für ihre Rekruten nie abgeschafft.
»Hatte sie Besuch?«, fragte Henley.
Der Beamte straffte die Schultern. »Nicht, seit ich hier bin, Ma’am. Zuletzt war vor vierzig Minuten die Krankenschwester hier, aber das war’s. Keine Privatbesuche. Ich bin allerdings nicht sicher, ob sie wach ist.«
»Danke«, sagte Henley und drehte sich zu Ramouter um. »Wie wäre es, wenn Sie das hier übernehmen?«
»Wirklich? Das wäre toll.« Ramouter griff in seine Jacke und holte Notizbuch und Stift heraus.
Der Beamte trat beiseite und öffnete die Tür. Karen war in ein Zimmer verlegt worden, das für gewöhnlich Privatpatienten vorbehalten war. Hier waren die Vorhänge nicht trist und krankenkassenblau, sondern warm und gelb. An der Wand hing ein gerahmtes Bild des Themseufers bei Nacht, und in der Ecke stand ein echter Sessel. Der Fernseher war an, doch Karen schaute nicht hin. Ihr Gesicht war zum Fenster gedreht.
Ramouter räusperte sich. »Bitte entschuldigen Sie, Miss Bajarami.«
Karen drehte den Kopf, und Henley hätte fast unwillkürlich nach Luft geschnappt, doch sie beherrschte sich. Karens linkes Auge war von einem Verband bedeckt. Die blauen Flecken darunter und auf ihrer rechten Wange waren unterschiedlich stark ausgeprägt. Getrocknetes Blut verlief von ihrer Nase bis zur aufgeschlagenen Lippe. Sie hatte einen Katheter im linken Arm, der mit einer Pumpe neben dem Bett verbunden war. Henley fragte sich, in was für einem Zustand Ade Nzibe und der andere Wachmann wohl waren, wenn Olivier Karen schon so viel Schaden zugefügt hatte.
»Oh Gott! Ist es wirklich so schlimm?« Vorsichtig hob Karen die Hand an die Stirn. »Ich habe noch nicht nachgesehen. Wissen Sie, was? Sagen Sie’s mir nicht.«
Ramouter schaute kurz zu Henley, bevor er begann: »Wir haben uns schon mal gesehen. Im Gefängnis.«
Karen nickte und zog sich leicht in die Höhe. »Sie haben mir Morphium gegeben. Vor einer halben Stunde saß noch Kermit der Frosch in dem Sessel da.«
»Wir werden Sie auch nicht lange belästigen. Wir wollen uns nur ein besseres Bild davon machen, was gestern passiert ist.«
»Die Ärzte haben gesagt, sie seien mit Oliviers Fortschritten sehr zufrieden, aber sie wollten ihn noch weitere vierundzwanzig Stunden überwachen, bevor wir ihn wieder zurückbringen. In Belmarsh wäre er direkt auf die Krankenstation gekommen. Wir haben den Ärzten gesagt, dass Olivier gefesselt werden sollte, doch sie haben nicht auf uns gehört. Aber wie auch immer … Ich saß vor dem Zimmer, und plötzlich hörte ich ein Krachen, und Ade schrie.« Karen zuckte zusammen und schnappte nach Luft. »Könnte ich bitte etwas Wasser haben?«
»Ich hole es schon.« Henley ging zum Nachtschrank, goss ein Glas stilles Wasser in einen Plastikbecher und reichte ihn Karen. »Das ist vermutlich das Morphium. Das macht durstig.«
Karen trank ein paar schmerzhafte Schlucke und gab den Becher wieder zurück. Dann legte sie den Kopf auf das Kissen.
»Danke«, sagte sie. »Der Bastard hätte mich blind machen können. Für den Scheiß habe ich mich nicht gemeldet. Sorry.«
»Sie müssen sich nicht entschuldigen«, sagte Ramouter. »Sie haben also Ade gehört, und?«
»Ja. Als ich reingekommen bin, war Ade … Er lag auf dem Boden neben dem Bett. Blut kam aus seinem Kopf. Ich weiß nicht, womit Olivier ihn geschlagen hat. Im nächsten Augenblick hat er mich dann gepackt und zu Boden gedrückt … und … und ich habe die Gabel in seiner Hand nicht gesehen.« Karen begann zu weinen.
»Hier.« Henley holte ein paar Tücher aus der Box auf dem Nachtschrank und gab sie Karen.
»Danke. Es war nur … der Schmerz.« Karen tupfte sich das rechte Auge ab. »Ich bin nicht sicher, was als Nächstes passiert ist. Ich muss das Bewusstsein verloren haben, denn das Nächste, woran ich mich erinnere, ist, dass ich hier aufgewacht bin. Peter. Er war schon seit Wochen nicht mehr er selbst. Ich verstehe einfach nicht, wie er … Wie geht es Ade? Jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, sehe ich ihn da liegen.«
»Er wird gerade operiert. Er hat ein Schädelhirntrauma erlitten und eine Blutung im Gehirn.«
Wieder flossen Tränen aus Karens Auge. »Und der Wachmann? Sie haben mir gesagt, dass Olivier auch ihn angegriffen hat.«
»Der hat ein gebrochenes Schlüsselbein, eine gebrochene Nase und Wunden im Gesicht.«
»Himmel! Langsam glaube ich, ich habe noch Glück gehabt. Gott, ich bin so müde, und mein Kopf bringt mich um.« Sie griff nach der Morphinpumpe und drückte den Knopf.
»Fällt Ihnen sonst noch etwas ein? Hat Olivier vielleicht etwas gesagt, als er aus dem Koma aufgewacht ist?«
»Er hat etwas gesagt von wegen, endlich habe er eine gute Aussicht, aber das war …« Bajaramis Kopf fiel zurück.
Ramouter trat näher ans Bett. »Ich glaube, sie ist eingeschlafen«, sagte er.
»Gehen wir. Fahren wir wieder aufs Revier zurück. Vielleicht hat Ezra ja etwas für uns, was uns helfen kann, Olivier zu finden.«
Mark nannte das die »Abkühlperiode«, erinnerte sich Henley, während sie die Greenwich High Road hinunterging. Er hatte ihr mehr als einmal erklärt, dass das bei allen Serienmördern so war. Sie brauchten eine Auszeit, und genau das machte der Nachahmungstäter jetzt auch. Er genoss diesen Moment der Stille und kehrte wieder in seinen Alltag zurück, wenn auch nur vorübergehend. Henley fragte sich, wie lange diese »Abkühlperiode« in ihrem Fall wohl dauern würde. Tage? Wochen? Monate?
Henley knurrte der Magen, als sie sich dem Hähnchenladen näherte. Sie hatte den größten Teil des Tages überteuerten Kaffee getrunken. Sie legte die Hand auf das Milchglas der Ladentür, hielt dann jedoch inne, als ihr Handy in der Jackentasche vibrierte. Henley holte es heraus und ging in die Gasse zwischen dem Hähnchenladen und einem Pizzashop.
Unbekannt
stand auf dem Display. Sie drückte die grüne Taste.
»Inspector Henley, sind Sie das?«
Henley lief ein Schauder über den Rücken, als Oliviers heisere Stimme in ihren Ohren klang.
»Inspector, ich hoffe, Sie sind das«, sagte Olivier.