Kapitel 76
Die Schuppentür war mit einem Vorhängeschloss gesichert, doch Henley sah, dass der Riegel, an dem das Schloss hing, alt und verrostet war. Auch das Holz zeigte erste Zeichen von Fäulnis. Das Einzige, was Henley als Werkzeug missbrauchen konnte, waren ihre Schlüssel. Sie hockte sich hin und suchte im hohen Gras nach etwas anderem. Schließlich schlossen sich ihre Finger um ein Stück Metall, und sie hob die abgebrochene Klinge eines Rasenmähers heraus. Die steckte sie zwischen die Tür und das rostige Metall des Riegels und zog. Sie spürte, wie die Klinge ihr in die Hand schnitt, die ohnehin schon voller Dreck und Splitter war. Nach ein paar Minuten gaben die verrosteten Schrauben nach. Henley warf die Klinge ins Gras und zog die Tür auf.
Fast wäre sie über Matthew Kirkpatrick gestolpert, der gefesselt auf dem Boden lag. Seine Füße zeigten zur Tür. Er schaute zu ihr hinauf, und seine Augen waren groß vor Angst. Henley versuchte, nicht zu würgen. Der Schuppen stank nach Urin, Blut und verrottetem Fleisch.
»Ich bin Detective Inspector Henley.« Sie holte ihr Handy aus der Tasche und schaltete die Taschenlampe ein. Matthew war mit silbernem Klebeband geknebelt. Sein Gesicht war voller Kratzer, blauer Flecken und getrocknetem Blut. Die Hände hatte man mit schwarzem Kabelbinder hinter dem Rücken gefesselt. Und je mehr er sich gewehrt hatte, desto straffer war das Hartplastik geworden und hatte ihm in die Haut geschnitten. Seine Finger waren schon geschwollen. Sie bekamen schlicht kein Blut mehr.
Henley zog ihm das Klebeband vom Mund. »Schon okay. Alles wird gut. Ich bin bei Ihnen«, sagte sie, als Matthew laut nach Luft schnappte und dann zu schluchzen begann.
»Bitte, bitte, er wird mich umbringen«, keuchte er. Seine Stimme klang heiser und zittrig.
»Nein, das wird er nicht.« Henley holte ihr Polizeifunkgerät heraus. Sie hoffte nur, dass Ramouter sein Funkgerät anhatte und aus dem Haus verschwand.
»Hier spricht Detective Inspector Henley. Code Zero. Ich brauche sofort Verstärkung in 158 Hanover Street, Camberwell. Sierra. Echo. Fünf. Vier. Charlie. Lima. Ich wiederhole, benötige Verstärkung.«
Sie legte das Funkgerät auf den Boden und schaute sich nach etwas um, womit sie Matthews Fesseln durchschneiden konnte.
Hier drin war es passiert. Die Morde. Neben einem Zimmermannstisch stand eine große Plastikrolle in der Ecke, und unter dem Tisch lagen zwei große und eine kleine Säge. Der Boden war voller getrocknetem Blut. Das Licht, das durch die Tür fiel, wurde von etwas Metallischem reflektiert, nicht weit entfernt von Matthews Füßen. Es war ein langer Zopf mit einer goldenen Spange in der Mitte, ähnlich den Zöpfen, die Zoe Darego getragen hatte.
Ramouter schaute zur Decke, als die Dielen oben knarrten und Putz auf sein Gesicht bröselte. Er verhielt sich vollkommen still und lauschte auf die Geräusche des Hauses. Die Uhr im Flur tickte weiter, und Wasser tropfte rhythmisch in den Rest der Keramikspüle. Ramouter ging um die blutigen Fußspuren herum, durch den Flur und zur Treppe. Dann legte er eine Hand auf die raue Oberfläche des abgeschliffenen Geländers. Seine Schritte waren gedämpft, als er die Stufen mit ihrem verstaubten Teppich hinaufging.
Oben war es schmal und eng. Der Flur war weniger als eineinhalb Meter lang. Hinter der offenen Tür rechts befand sich ein Badezimmer. Die Tür vor ihm stand ebenfalls offen, und Ramouter sah ein ungemachtes Bett. Die Tür links war geschlossen. Er schob sie auf und ging hinein. Sofort begann er zu würgen, als sich der Staub in der Luft mit dem beißenden Gestank von Blut mischte. Er tastete nach einem Schalter an der Wand und schaltete das Licht ein.
»Oh mein Gott«, keuchte er und würgte noch mehr. Der blutdurchtränkte Teppich unter seinen Füßen quatschte ekelerregend, und er starrte auf Dominic Pines abgetrennten Kopf. Den Rest seines Körpers hatte man wie ein makabres Puzzle auf dem Boden arrangiert. Es dauerte weniger als eine Sekunde, bis Ramouter sein Funkgerät herausgeholt hatte.
Henleys Stimme forderte krächzend Verstärkung an.
Ramouter wich zurück und prallte gegen etwas. Er spürte Atem in seinem Ohr und roch den vertrauten Gestank von vergorenem Obst.
» TDC Salim Ramouter«, sagte Olivier. »Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns noch mal so nahekommen würden.«
Ramouter drehte sich um und stand Olivier direkt gegenüber. Vor lauter Angst war er wie erstarrt.
»Ist es zu glauben, dass dieser Müll da auf dem Boden schon wieder gedacht hat, er sei besser als ich?«, fragte Olivier und deutete mit dem Messer in seiner Hand auf Dominics Überreste. »Gefällt Ihnen mein Werk? Ich habe mir wirklich große Mühe bei der Komposition gegeben.«
Ramouter schwieg.
»Antworten Sie mir, TDC Ramouter. Sie müssen wirklich noch an Ihren Manieren arbeiten.«
Ramouter stolperte zurück und trat dabei Pines linken Arm beiseite.
»Wollen Sie etwa vor mir weglaufen? Tun Sie das nicht. Dieser verdammte Idiot hinter Ihnen hat das auch versucht, und Sie sehen ja, wie das ausgegangen ist.«
Ramouter schrie, als das Messer ihm in den Arm drang. Olivier riss es wieder heraus und setzte zu einem zweiten Stoß an. Ramouter nutzte jedoch die Gelegenheit und stieß ihn zurück. Blut sickerte bereits durch den linken Ärmel seines Hoodies. Er schnappte sich das Polizeifunkgerät und drückte den Notfallknopf.
»Code Zero!«, schrie er. Dann grunzte er vor Schmerz, als Olivier ihm die Schulter in den Leib rammte. Er fiel zurück und schlug mit dem Kopf gegen die Wand.
»Ich habe dir doch gesagt, du sollst verdammt noch mal nicht weglaufen!«, kreischte Olivier, schlug Ramouter ins Gesicht und drückte auf die Stichwunde in seinem Arm. »Jetzt werde ich es dir genauso zeigen, wie ich es deiner Frau Inspector gezeigt habe. Ich werde dir etwas geben, was dich an mich erinnern wird.«
Ramouter schrie erneut, als Henleys Stimme aus dem Funkgerät kam.
»Ramouter! Ramouter! Antworten Sie mir!«
»Können Sie mich hören, Inspector Henley?«, brüllte Olivier. »Ich habe Ihren Jungen. Direkt unter mir.« Ramouter drehte das Gesicht weg, als ihm Speichel auf die Wange tropfte. Dann trat er aus und traf Olivier in den Unterleib. Ramouter hob den Kopf, als er Sirenen in der Ferne hörte. Er drehte sich um und versuchte aufzustehen, doch ihm wurde sofort schwindelig, und er fiel wieder hin. Über Funk hörte er, dass seine Kollegen auf einen Teamkanal gewechselt hatten. Sie bestätigten, dass sie auf dem Weg zu Pines Haus waren.
»Olivier?«, rief Henley über das Funkgerät.
Ramouter spürte, wie Olivier ihn am Bein packte. Er spürte einen Stich im Knöchel, dann breitete sich ein Gefühl von Kälte in seinen Adern aus. Als er nach unten schaute, sah er eine Spritze in Oliviers Hand. Ramouter rappelte sich auf und warf sich auf seinen Gegner. Er war fest entschlossen, ihn aufzuhalten. Olivier fiel gegen die Wand und dann die Treppe runter, gefolgt von Ramouter. Sie überschlugen sich immer wieder und wieder und durchbrachen das Geländer auf ihrem Weg nach unten. Schließlich landeten sie am Fuß der Treppe, doch Ramouter spürte nichts. Er versuchte, seine Beine zu bewegen. Er konnte nicht. Es war, als sei sein ganzer Körper plötzlich aus Beton. Dann hörte er ein Fenster zersplittern.
»Ramouter!«, schrie Henley. Ihre Stimme war im Lärm der immer lauter werdenden Sirenen kaum noch zu hören.
Ramouter versuchte, den Kopf zu drehen, doch auch das konnte er nicht mehr. Aus dem Augenwinkel heraus sah er die Türöffnung. Olivier schaute nicht zurück, als er hinausrannte. Ein paar Sekunden später war das Quietschen von Bremsen zu hören, gefolgt vom unverkennbaren Krachen von Knochen und Fleisch auf Metall.