Kapitel 77
In der Hanover Street war es so hell, als sei der Tag weit früher gekommen als sonst. Die Sirenen waren verstummt, doch die blauen Notfalllichter von Polizei und Krankenwagen blinkten noch immer. Sie hatten das hintere Tor aufgebrochen, und die Sanitäter legten Matthew Kirkpatrick bereits auf eine Trage. Er war dehydriert und stand unter Schock. Henley hatte seine Hand mit Gewalt von ihrer lösen müssen, als sie Ramouters Notruf gehört hatte. Dann hatte sie versucht, irgendwie ins Haus zu kommen.
»Wo ist
TDC
Ramouter?«, fragte sie, als immer mehr Polizeibeamte in den Garten fluteten.
»Er ist noch immer im Haus«, antwortete ein Beamter. »Er lebt, aber er ist verletzt. Die Sanitäter sind bei ihm.«
»Und Olivier? Peter Olivier war auch im Haus. Ich habe ihn gehört.«
»Ich weiß es nicht, Ma’am. Niemand hat ihn gesehen.«
»Und Dominic Pine?«
Der Beamte schüttelte den Kopf. »Von ihm fehlt ebenfalls jede Spur, aber wir haben das Haus auch noch nicht durchsucht.«
Henley folgte den Sanitätern, die Kirkpatrick in die Gasse und zu einem Krankenwagen fuhren.
»Wo bringen Sie ihn hin?«, verlangte Henley zu wissen.
»Ins King’s College Hospital«, antwortete eine Sanitäterin.
»Okay, bitte sorgen Sie dafür, dass ständig jemand bei ihm ist«, sagte Henley zu dem Polizeibeamten, der ihr gefolgt war. »Er darf nicht allein gelassen werden. Haben Sie verstanden?«
»Sie kommen nicht mit? Ich will, dass Sie mit mir kommen«, rief Matthew.
»Ich verspreche, dass ich zu Ihnen kommen werde. Okay?«, erwiderte Henley und drückte ihm die Hand. »Ich muss nur zuerst noch nach jemandem sehen.«
Henley lief um das Haus herum nach vorne. Der schwarze
BMW
, der früher an ihnen vorbeigefahren war, stand mitten auf der Straße, direkt vor dem Haus von Dominic Pine. Die Windschutzscheibe war geplatzt, und der Fahrer, ein junger Asiate, stand neben seinem Auto, vor ihm ein Beamter. Er zitterte. »Ich habe ihn noch nicht einmal gesehen. Er ist einfach rausgerannt. So schnell war ich gar nicht. Er ist einfach auf mich zugelaufen.«
»Fam«, sagte der Freund des Fahrers und lehnte sich aus dem Beifahrerfenster. »Ich dachte, du hättest ihn umgebracht.«
»Was ist passiert?«, fragte Henley.
»Mann, alles, was ich weiß, ist, dass plötzlich so ein irrer Weißer auf die Straße gerannt ist. Der Typ muss vollkommen high gewesen sein oder so was. Im einen Moment chillen wir noch im Wagen, und im nächsten habe ich den Kerl auf der Motorhaube. Ich dachte, er wäre tot. Mein Bro hat geschrien wie irre, und ich bin ausgestiegen.«
»Haben Sie gesehen, wo er hergekommen ist?«
»Na, aus dem Nichts. Ich bin wie gesagt raus und wollte ihm helfen, von wegen guter Bürger und so. Ich habe ihm gesagt, ich würde einen Krankenwagen rufen …«
»Und wo ist er? Wo ist er hin?«
»Fam, das will ich dir ja die ganze Zeit sagen. Der Typ ist einfach weggerannt. Man hätte meinen können, er wäre einfach nur gestolpert oder so. Er stand auf, hat mich Arsch genannt und ist dann in Richtung Block. Ich habe ihn gefilmt. Wollen Sie mal sehen?«
»Laufen Sie nicht weg«, sagte Henley zu dem Jungen, als sie Eastwood entdeckte, die gerade eingetroffen war.
»Stanford hat mir schon alles erzählt. Wie geht es Ramouter?«, fragte Eastwood.
»Ich weiß nur, dass er lebt. Gott sei Dank. Olivier war hier, und irgendwie ist er an ihn rangekommen.«
»Was soll das heißen, Olivier war hier? Wie das denn?«
»Ich habe keine Ahnung, aber du musst mit Kirkpatrick ins Krankenhaus. Der Krankenwagen ist noch nicht losgefahren. Nimm seine Aussage auf, sobald er sich beruhigt hat und untersucht worden ist. Ich muss alles wissen, was er gesehen und gehört hat, bevor ich gekommen bin, und Eastie … Weich ihm nicht von der Seite. Ich will jemanden bei ihm wissen, dem ich vertrauen kann.«
Eastwood nickte und lief zu dem wartenden Krankenwagen.
Henley wurde nur noch von Adrenalin aufrecht gehalten, aber sie hatte noch immer Angst vor dem, was sie nun sehen würde. Sie hatte ein schlechtes Gewissen. Sie hatte ihn in Gefahr gebracht. Ramouter lag noch immer auf dem Boden. Das Einzige, was sich bewegte, waren seine Augen. Sie waren voller Wasser, das ihm allmählich über das Gesicht lief. Henley kniete sich neben ihn und wischte die Tränen weg.
»Wie geht es ihm?«, fragte sie den Sanitäter, der den Hoodie aufgeschnitten hatte und gerade die Stichwunde verband.
»Er ist in den Arm gestochen worden, aber ich habe keine Ahnung, wie tief die Wunde ist. Da sind blaue Flecken auf seiner Brust, also gehen wir auch von ein paar gebrochenen Rippen aus. Aber er kann sich auch nicht bewegen oder sprechen. Sein Rückgrat könnte …«
»Nein«, unterbrach ihn Henley, als sie die Spritze auf dem Boden entdeckte. »Man hat ihm vermutlich Atracuriumbesilat injiziert.«
Der Sanitäter schüttelte den Kopf und murmelte etwas vor sich hin, was Henley nicht verstand. In dem Moment erschienen zwei weitere Sanitäter mit einer Trage in der Tür.
»Haben Sie irgendeine Ahnung, wie lange er schon in diesem Zustand ist?«
»Das ist in den letzten zwanzig Minuten passiert«, antwortete Henley. Sie schaute nach oben und sah Stanford die Treppe herunterkommen. Er machte ein düsteres Gesicht.
»Okay. Scheiße«, sagte der Sanitäter. »Mit so etwas habe ich noch nie zu tun gehabt. Ich weiß noch nicht einmal, was Atra–, Atraci– Was zum Teufel das Zeug auch immer ist.«
»Es verursacht Lähmungen. Ich werde mit Ihnen ins Krankenhaus fahren, okay?« Letzteres war an Ramouter gerichtet. Sie drückte seine Hand, obwohl sie nicht wusste, ob er das überhaupt spüren konnte.
Henley stand auf und stellte sich neben die Treppe, während die Sanitäter Ramouter auf die Trage wuchteten. Unzählige Gefühle spielten in ihrem Hirn verrückt, und eine Million Gedanken gingen ihr durch den Kopf.
»Ich hoffe, die Kriminaltechniker sind auf dem Weg«, sagte Stanford.
»Was ist denn da oben?«
Stanford wurde kreidebleich, als er wieder die Treppe raufschaute. Henley wartete nicht auf die Antwort. Sie wusste es. »Er ist tot, nicht wahr? Dominic Pine?«
»Er liegt oben im vorderen Schlafzimmer. In Einzelteilen. Was zum Teufel ist hier passiert, Henley?«
»Olivier.«
»Bist du sicher, dass er das war?«
»Ich habe ihn über Funk gehört. Er war es. Oh mein Gott, Ramouter. Wie konnte ich …«
»Hey, tu das nicht«, sagte Stanford und legte Henley den Arm um die Schultern, während Ramouter aus dem Haus gefahren wurde. »Gib dir
nicht
die Schuld an dem, was hier passiert ist.«
»Wie könnte ich mir nicht die Schuld daran geben? Ich hätte auf Verstärkung warten sollen. Ich hätte Ramouter nicht allein ins Haus lassen sollen.«
»Das ist nicht deine Schuld. Das konntest du nicht wissen.«
»Das ist leicht gesagt. Ich kann einfach nicht glauben, dass Pine direkt vor unserer Nase war. Er hat uns die ganze Zeit nur verarscht.«
»Nun, Pine ist jetzt die geringste unserer Sorgen. Hauptsache ist, dass Kirkpatrick und Ramouter noch bei uns sind. Willst du dir mal die Küche ansehen, bevor die Kriminaltechniker kommen?«
»Wie schlimm ist es?«
»Verglichen mit dem, was oben ist?«
»Sag’s mir.«
Stanford rieb sich das Stoppelkinn. »In all meinen Jahren bei der Polizei habe ich so etwas noch nicht gesehen.«
Henley zog die Handschuhe an und ging in die Küche. Der Kühlschrank war alt und der Motor laut. Sie öffnete die Tür.
Auf dem unteren Regal lagen eine Plastiktüte mit verrotteten Zucchini in einer Pfütze aus braunem Schleim und daneben fünf Phiolen mit Atracuriumbesilat.
»Oh Gott«, keuchte Henley, als sie die Gemüseschublade öffnete und einen Gefrierbeutel herausholte. Die Augen von Zoe Darego lagen darin.