Kapitel 81
Henley saß mit angezogenen Beinen auf einem Sessel in Pellacias Krankenzimmer. Es war nun vierunddreißig Stunden her, seit Olivier in den Fluss gefallen war. Die Wasserschutzpolizei hatte nach seiner Leiche gesucht, sie jedoch nicht gefunden. Laut ihrer Theorie war es eher unwahrscheinlich, dass er den Sturz in den Fluss überlebt hatte. Vermutlich würde seine Leiche in den nächsten Tagen irgendwo angeschwemmt werden, sagten sie, doch Henley war nicht so überzeugt davon. Stanford hatte Olivier den Leibhaftigen genannt, und sie war sicher, dass er recht damit hatte. Henley öffnete die Augen und sah, dass Pellacia sich im Bett aufgesetzt hatte und sie beobachtete. Er hatte eine ausgekugelte Schulter und ein gebrochenes Schlüsselbein. Ein Milzriss hatte innere Blutungen zur Folge gehabt, und so hatte man ihn notoperiert. Die Symbole, die man ihm in den Bauch geschnitten hatte, waren nicht tief und mussten nicht genäht werden; doch sie würden Narben hinterlassen. Nachdem er aus der Narkose aufgewacht war, hatte Pellacia erzählt, dass Olivier ihm auf dem Parkplatz der SCU aufgelauert hatte. Er erinnerte sich noch daran, angegriffen worden zu sein, und dann war er noch einmal im Fußraum seines Wagens aufgewacht, doch Olivier hatte ihn ein zweites Mal k. o. geschlagen. Stanford wiederum hatte eine leichte Gehirnerschütterung erlitten und war mit drei Stichen am Kopf genäht worden. Er hatte vierundzwanzig Stunden im Krankenhaus verbracht, nur zu Beobachtung, und war dann heimgeschickt worden.
»Du sollst schlafen.« Henley zuckte unwillkürlich zusammen, als sie sich auf dem Sessel entrollte. Die Schnitte auf ihrem Rücken fühlten sich roh an, als sie über den Verband rieb. Sie schlurfte zu Pellacia, legte ihm zärtlich die Hand auf die Wange und küsste ihn auf die Stirn.
»Ich dachte, du wärst heimgegangen.«
»Bin ich auch. Aber ich bin wieder zurückgekommen.«
»Ich bin froh, dass du da bist«, sagte Pellacia leise. Er sah die Sorge auf ihrem Gesicht. »Ich denke, das sieht schlimmer aus, als es ist.«
»Das bezweifele ich«, erwiderte Henley. Ihr Blick wanderte über die großen Pflaster auf seinem Bauch. Die Wunde leckte, und durch den Verband konnte sie den schwachen Abdruck des Doppelkreuzes erkennen.
»Was ist?«, fragte Pellacia und nahm Henleys Hand.
Sie antwortete nicht. Sie brachte es einfach nicht über sich, Oliviers Namen auszusprechen.
»Sie werden ihn finden«, sagte er.
Henley schüttelte den Kopf. »Solange mir niemand die Leiche zeigt, werde ich nachts ein Auge aufhalten. Ich werde nicht …«
»So einen Sturz überlebt niemand, Anjelica, vom Wasser ganz zu schweigen. Niemand.«
Henley erwiderte nichts darauf. Sanft küsste sie Pellacia auf die Wange und zog ihre Hand dann weg. »Ich muss gehen.«
Enttäuschung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er drehte sich zum Fenster um. Nach einer Weile sagte er: »Stanford hat erzählt, dass sie herausgefunden haben, was genau es mit Elliot Cheung auf sich hatte.«
»Ja, das stimmt.« Henley trat einen Schritt vom Bett zurück. »Stanford hatte ursprünglich die Theorie, dass Cheung einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen ist. Offenbar hatte er ein Zimmer direkt neben Oliviers sechstem Opfer gemietet, Corporal Philip Spanton. Aber erinnerst du dich noch daran, dass es bei Spantons Verschwinden einen anonymen Zeugen gab?«
Pellacia nickte.
»Wir vermuten, dass Cheung dieser anonyme Zeuge gewesen ist. Olivier hat ihn irgendwie gefunden und umgebracht.«
»Der arme Junge. Was ist mit Karen Bajarami?«
»Sie ist heute Morgen dem Haftrichter vorgeführt worden. Eastwood hat bestätigt, dass man ihr eine Kaution verweigert hat. Der Fall ist direkt nach Old Bailey gegangen. Später am Nachmittag soll Karen ins Gefängnis von Bronzefield kommen.«
»Sie ist tatsächlich die Einzige, die für all das bestraft werden wird. Allmählich glaube ich, dass Pine und Olivier noch glimpflich davongekommen sind«, seufzte Pellacia verbittert. »Bajaramis Leben wird die Hölle sein, wenn die anderen Insassen herausfinden, dass sie eine ehemalige Schließerin ist. Nach allem, was sie getan hat, würde es mich nicht wundern, wenn sie irgendwer erledigt.«
»Weißt du was? Das ist mir vollkommen egal«, entgegnete Henley. »Dass sie in den Knast kommt, ist zwar nicht viel, aber es ist wenigstens etwas. Irgendwer muss doch für all diese unschuldigen Leben zahlen.«
»Ich denke, Pine hat auch bezahlt«, bemerkte Pellacia. »Dafür hat Olivier gesorgt.«
»Das war aber nicht Oliviers Job«, erwiderte Henley düster. Ihre Gefühle schwankten zwischen Wut und Verbitterung. »Ich habe Zoes Großeltern etwas versprochen, doch dieses Versprechen habe ich nicht gehalten. Das hat Olivier getan. Er hat mir sogar dieses Versprechen gestohlen.«
Henley wischte sich die Tränen ab und verließ den Raum. Sie ignorierte Pellacias Flehen, wieder zurückzukommen. Gleichzeitig wiederholte die Stimme in ihrem Kopf immer und immer wieder: Olivier hat gewonnen. Olivier hat gewonnen …