Kapitel 82
Henley stand auf den Stufen zur SCU
und beobachtete das Treiben auf der High Road. Sie versuchte noch immer herauszufinden, wo Olivier gestanden hatte, als er sie an jenem Nachmittag beobachtet hatte. Es regnete heftig, doch sie konnte sich nicht bewegen. Sie wurde das Gefühl einfach nicht los, dass er sie immer beobachten würde. Dass er auf sie wartete. Sie holte ihr Handy aus der Tasche, suchte Pellacias Nummer, brachte es jedoch nicht über sich, ihn auch anzurufen. Ihre Hand zitterte. Ihr Puls schlug immer schneller, und sie verspürte das übermächtige Verlangen, einfach so weit weg wie möglich zu rennen. Das Handy in ihrer Hand vibrierte. Sie sah Robs Namen und Bild auf dem Display. Sie atmete tief durch. Kurz schwebte ihr Daumen über der Annehmen-Taste, dann drückte sie sie.
»Ich habe die Nachrichten gesehen«, sagte Rob. »Es ist also vorbei, ja?«
»Ja, es ist vorbei«, bestätigte Henley. »Wir haben den Nachahmungstäter gefunden. Ich werde dir später davon erzählen, aber der Fall ist gelöst.«
»Und Olivier?«
»Er ist … tot«, log Henley und ging die Stufen hinunter.
»Wirklich? Das war’s dann? Alles ist vorbei?«
»Das ist es. Jedenfalls hoffe ich das«, sagte Henley und schaute auf ihre stark verbundene Hand. Sie war mit vier Stichen genäht worden und würde vermutlich permanente Nervenschäden davontragen.
»Ich kann einfach nicht glauben, dass er endgültig weg ist. Raus aus unserem Leben. Für immer«, sagte Rob. »Wie ist er gestorben? Ach egal. Ich will einfach nur wieder nach Hause kommen. Und? Was machst du jetzt?«
»Was meinst du?«, fragte Henley. Sie hätte schwören können, ein vertrautes Gesicht auf der anderen Straßenseite zu sehen, direkt vor der Drogerie. Sie sah Oliviers Gesicht auf dem Körper eines Mannes, der unter der Markise Zuflucht vor dem Regen suchte.
»Ich meine, was kommt jetzt als Nächstes für uns?«
Henley kniff die Augen zu und versuchte, das Bild von Olivier auszublenden, der in den Fluss fiel. Doch als ihr Geist ihr ein Bild vorgaukelte, wie Oliviers Lunge sich mit dem schmutzigen Wasser füllte, öffnete sie die Augen rasch wieder.
»Rob, können wir darüber reden, wenn du und Emma wieder zu Hause seid?«
»Ja, natürlich. Wo bist du jetzt?«
»Ich bin noch vor der
SCU
«, antwortete sie und ging weiter. Die Regentropfen prasselten ihr kalt und hart ins Gesicht. Sie trat von der Bordsteinkante weg, als die Ampel auf Rot schaltete. Vor ihr hielt ein Doppeldeckerbus und versperrte ihr die Sicht.
»Okay … Es ist sicher … Wir brauchen …« Robs Signal drohte abzureißen.
»Ich kann dich nicht verstehen«, sagte Henley.
»Ich habe gesagt, dass wir dich brauchen. Emma braucht dich, aber eins muss ich wissen, Anjelica. Hast du dich entschieden? War das der letzte Fall?«
Henley antwortete nicht. Die Ampel schaltete wieder auf Grün, und der Bus fuhr weiter. Eine Frau stand jetzt an der Tür der Drogerie und kämpfte mit ihrem Regenschirm, doch Henley konnte ihr Gesicht nicht sehen. Sie sah nur Olivier. Wenn sie die Augen schloss, dann war er da. Sie bekam keine Luft. Sie spürte, wie Olivier auf ihre Brust drückte. Sie konnte ihn riechen. Ihr Herz schlug immer schneller, als versuche sie zu fliehen. Der kalte Regen kühlte sie nicht im Mindesten ab, im Gegenteil: Ihr Gesicht wurde immer heißer. Ihr wurde schlecht, als ein Gefühl wie Nadelstiche ihre Beine hinaufkroch und Wellen von Angst sie überkamen.
Henley stolperte zur Treppe der
SCU
zurück und setzte sich auf den nassen Beton. Todesangst. Der Kontrollverlust hatte sie ausgelaugt. Sie griff in ihre Jackentasche und holte die Visitenkarte der Therapeutin heraus, die Mark ihr gegeben hatte. Sie hob das Handy wieder ans Ohr.
»Rob? Ich brauche Hilfe.«