Eins
Daniel
Vor neun Jahren
Jemand stand an Isaacs frischem Grab und ich wusste sofort, wer das war.
Es gab noch keinen Grabstein für Isaac. Er war vor zwei Wochen gestorben und würde für immer neunzehn sein. Blumen markierten seine letzte Ruhestätte, aber der Schnee hatte sie schon lange zugedeckt und die frische Erde etwas eingeebnet, sodass das Grab sich nicht so offensichtlich von den Grabsteinen abhob.
Ich hatte meinen jüngeren Bruder, Chris, im Krankenhaus zurückgelassen, unwiederbringlich zerbrochen in demselben Unfall, der Isaac getötet hatte. Er befand sich immer noch in einem künstlichen Koma, war noch nicht aufgewacht, um zu erfahren, dass er sein Bein verloren hatte oder dass Feuer eine Seite seines Gesichts so sehr verbrannt hatte, dass er für immer die Narben tragen würde. Aber er würde aufwachen. Sie hatten uns gesagt, dass er leben würde.
Isaac war beim Aufprall gestorben, Chris’ Zukunft war zerstört und vor mir, über Isaacs letzte Ruhestätte gebeugt, befand sich der Mann, der für all das verantwortlich war.
Mein Liebhaber. Der Mann, der mein Bett mitten in der Nacht verlassen hatte, um ein Mörder zu werden.
Micah.
Er war in seinen Mantel eingehüllt, das Eis des Januars war hier bei den Toten bitterkalt, seine Hände waren in seinen Taschen und seine Kapuze hatte er über das Gesicht gezogen. Micah musste gehört haben, dass ich kam, weil er in meine Richtung schaute, erstaunt, Trauer war ihm ins Gesicht geschrieben. Und dann veränderte sein Gesichtsausdruck sich.
Er trat auf mich zu, so etwas wie Hoffnung stand in seine Miene geschrieben.
„Daniel?“, fragte er. „Geht es Chris gut? Niemand will mich zu ihm lassen.“
Er blieb stehen, als ich die Hand nicht nach ihm ausstreckte und sah mich unsicher an.
„Sein Bein ist weg, vom Knie abwärts“, erklärte ich leidenschaftslos und berührte dann mein Gesicht. „Und seine Verbrennungen sind schlimm, die linke Seite seines Gesichts, von seiner Schläfe bis zum Kinn.“
„Scheiße. Scheiße.“ Micah beugte sich vor, als ob er nicht atmen könnte und er weinte.
Micah, Isaac und Chris. Sie waren schon immer beste Freunde gewesen, aber das war jetzt vorbei.
„Wie kommt es, dass du nicht verletzt bist?“, fragte ich, immer noch unheimlich ruhig und absolut konzentriert.
Er zog seine Hand aus seiner Tasche und schob seinen Ärmel nach oben, zeigte Verbände, die von seiner Hand bis über seinen Ellbogen reichten. „Ich wurde verbrannt“, begann er. Er ließ seine Hand fallen, als ich keinen Kommentar abgab, zwang sie zurück in seine Tasche, verzog dabei schmerzerfüllt das Gesicht.
Ich konnte mir vorstellen, dass die Verbrennung ein wenig schmerzte, vielleicht sogar sehr, aber er war hier, so ganz und real wie an jenem schrecklichen Tag, als er mein Bett verlassen hatte.
In meinem Kopf sah ich Chris im Krankenhaus, die Decke gebauscht über dem Käfig, der die Stelle der Operation schützte, sich dort tiefer senkte, wo sein Knöchel hätte sein sollen. Und hier stand Micah, erzählte mir, dass er leichte Verbrennungen am Arm hatte? Derselbe Mann, der mir in einem Atemzug erklärt hatte, dass er mich liebte und der dann mein Auto genommen, es in eine Brücke gefahren und Isaac getötet und Chris verletzt und ins Koma gebracht hatte.
Meine Faust flog und Micah taumelte einen Schritt zurück, aber er ging nicht zu Boden und er nahm seine Hände nicht aus den Taschen. Ich war zu schnell. Ich traf ihn erneut, Blut befleckte sein Gesicht, spritzte durch die eiskalte Luft. Er bewegte sich wieder, die Wucht meiner Schläge schob ihn rückwärts.
Dennoch blieben seine Hände in seinen Taschen und er war unheimlich still, nahm meine Schläge hin, als wären sie gar nichts. Ein weiterer Schlag traf seine Lippen und riss die Haut auf und dieses Mal grunzte er vor Schmerz. Er wankte rückwärts zum nächsten Grab und beugte sich unter der Wucht dieses letzten Schlages über den Grabstein. Ich trat näher. Ich schlug ihn erneut, kam in Kontakt mit seinem Kiefer, aber der Schlag war nicht fest. Es steckte nichts dahinter, er wich nicht zurück.
„Du hast mein Auto genommen“, schrie ich ihm ins Gesicht.
„Du hast gesagt, dass ich es haben kann“, wandte er bettelnd ein.
Ich hob meine Hand, um ihn erneut zu schlagen, aber er wimmerte und schloss seine Augen und ich wollte, dass er mich ansah. „Öffne deine verdammten Augen!“
Er tat es und wandte seinen Blick nicht ab, reine Trauer stand in seinem Gesicht.
„Daniel, bitte, hör zu.“
„Du hast Chris’ Leben zerstört.“
„Ich weiß.“
„Ich habe dich geliebt!“
„Bitte.“
„Ich will dein Gesicht nicht sehen, ich will nicht, dass Chris dich je wieder sieht.“
„Ich verstehe.“ Sein Tonfall war leise, gebrochen.
„Komm nie wieder hierher zurück.“ Ich schüttelte ihn, Er war kleiner als ich, dünner, leichter und ich schüttelte ihn so sehr, dass sein Kopf nach hinten ruckte. „Versprich es mir!“
„Ich ver-verspreche es“, schrie er.
Ich war von ihm angewidert, hasste ihn, wollte ihn töten, direkt hier auf Isaacs Grab.
„Ich hoffe, sie sperren dich ein und werfen den verdammten Schlüssel weg!“ Ich schrie immer noch und er bewegte sich nicht, starrte mich nur mit diesen blassen Augen an, rot und nass vom Weinen. Er hörte nicht auf zu weinen. „Starr mich bloß nicht an!“
Ich schubste ihn ein letztes Mal und dann, ehe ich begreifen konnte, warum zur Hölle ich immer noch hier war und ihn anschrie, drehte ich mich um und wandte ihm und Isaacs Grab den Rücken zu.