Drei
Micah
Laurie war auf dem Rücksitz eingeschlafen und Rachel war auf dem Beifahrersitz so unbeweglich wie ein Stein. Zuerst war sie still gewesen, dann hatte sie geweint und dann war sie wieder verstummt. Ich wusste nicht, was ich zu ihr sagen sollte.
„Was habe ich getan?“ Sie fing wieder zu schluchzen an.
Ich wollte eine Antwort haben, ich glaubte, dass sie vielleicht von mir erwartete, dass ich wusste, was ich sagen sollte, aber mir fiel nichts ein.
Der Rest der Reise verlief schweigend. Es dauerte nur fünf Stunden, um uns vom Feuer in die kühle Sicherheit der Heimat unserer Kindheit zu bringen.
Wir legten eine Toilettenpause ein und ich schaute auf meinem Handy, ob es Nachrichten von dem, was geschehen war, gab. Natürlich war da nichts, aber es war auch erst eine Stunde vergangen. Dann kam mir der Gedanke, dass wir über mein Handy verfolgt werden könnten und ich zog in Betracht, es loszuwerden. Aber was würde das bringen? Der Schaden war angerichtet, darum schob ich es ein und versuchte, mir keine Sorgen zu machen.
Ich hatte kein Handbuch darüber, wie man vor einem Mord floh oder wie ich meine Schwester vor einem Kult retten sollte. Ich wollte wetten, dass auf Seite Eins die Warnung stehen würde, kein Handy mitzunehmen, das es ermöglichte, mich zu verfolgen .
Wir erreichten Collier Springs kurz nach zwei in der Nacht, die Dunkelheit über den leeren Farmländereien zwischen der Stadt und Whisper Ridge, wo wir aufgewachsen waren, war absolut. Nur noch zwanzig Minuten entfernt und mein Magen drehte sich bereits um. Als wir durch die Stadt fuhren, erwartete ich, dass Geister auftauchten und mich aus dem Auto zerrten.
Oder Daniel. Was würde Daniel davon halten, dass ich zurückkam, nachdem ich ihm versprochen hatte, dass ich das nicht tun würde? Mein neunzehnjähriges Ich hatte ihn zutiefst geliebt und ich wusste, dass er mich hasste, als ich die Stadt verließ. Hatten neun Jahre genügend Raum geschaffen, damit die Dinge sich änderten? Ich konnte meine Augen schließen und sah ihn. Seine dunklen Haare, die tiefbraunen Augen, sein Lächeln, das Selbstbewusstsein in seinem Gang, die Art, wie er mich liebte, die Küsse.
Sobald wir auf die Straße zur Lennox Ranch bogen, lösten meine Erinnerungen an eine lang verlorene Liebe sich auf und ich ging die Gründe durch, warum ich hierhergekommen war, anstatt nach Mexiko zu fliehen. Vielleicht war nach Süden zu gehen eine Option oder wir könnten versuchen, über die Grenze nach Kanada zu kommen. Wir mussten nur irgendwo eine Pause einlegen. Wir hielten vor dem Haus und ich schaltete den Motor aus.
„Ich will nicht reingehen“, murmelte Rachel, als wir im Auto vor dem alten Haus saßen. Drinnen brannte kein Licht, aber die Lampe über der Veranda ging an. Ich wusste, was sie damit meinte, nicht hineingehen zu wollen. Wir beide hatten diesen Ort aus unterschiedlichen Gründen verlassen, aber irgendwie waren wir wieder genau dort gelandet, wo wir angefangen hatten. Sie griff nach meiner Hand und verflocht meine Finger mit ihren. Ich fühlte mich wie der große Bruder, der die Hand seiner Schwester gehalten hatte, als er selbst nur ein Kind gewesen war, in dem Versuch, sie zu trösten.
Laurie regte sich auf dem Rücksitz und Rachel warf einen Blick auf ihren Sohn.
„Was soll ich tun? Micah?“
Sie wollte Antworten von mir ?
Ich löste meine Finger aus ihrem Griff und verließ das Auto, ging zur rückwärtigen Tür und hob den schlafenden Laurie hoch, hielt ihn an mich gedrückt. Er wachte auf, blinzelte mich müde an und wand sich, damit ich ihn losließ. Rachel streichelte seine Haare.
„Es ist in Ordnung, Laurie, Onkel Micah kümmert sich um uns.“ Er entspannte sich, hielt den Blick aber fest auf Rachel gerichtet. Der Schnee war tief und sie trug nur billige Tennisschuhe, ihr Mantel war alt, ihre Beine nackt unter einem Stoff, der wahrscheinlich ein Kleid oder ein Rock war. Sie fror ganz sicher und wir mussten ins Haus. Laurie war tief in meinen Mantel vergraben und einigen Decken, die ich im Truck gehabt hatte, aber er zitterte, als die Kälte ihn traf.
„Lasst uns gehen.“
Rachel bahnte sich an meiner Seite einen Weg durch den Schnee, ungeschickt, ihre Hände zitterten, ihr Gesicht war grimmig, aber sie war diejenige, die laut an die Tür klopfte.
Ein Licht ging im Haus an. Was zur Hölle würden Amy und Jeff denken, wenn wir mitten in der Nacht auftauchten?
Die Tür wurde vorsichtig geöffnet, das Gesicht einer Frau erschien in der Lücke. Tante Amy wirkte älter, als ich sie in Erinnerung hatte, sie trug einen Bademantel, blinzelte auf die erleuchtete Veranda und keuchte leise.
Sie öffnete die Tür weiter, schien Rachel zu mustern, ihren Babybauch und das Kind in meinen Armen und scheuchte Rachel dann nach drinnen, ließ mich mit Laurie mit Abstand folgen, bis ich in dem kleinen Flur stand.
„Was ist los?“, rief Jeff von irgendwo im Haus.
„Du musst herkommen“, antwortete Amy und schloss die Tür hinter mir.
Ihr Ehemann schlenderte ins Wohnzimmer, ein Gewehr in der Hand. Ich schob mich schützend zwischen Rachel und ihn.
Er senkte es, sobald er erkannte, wer wir waren, aber er nahm sich die Zeit, einen Blick aus dem Fenster zu werfen, als ob er erwartete, dass wir Ärger mitbrachten, ehe er die Haustür abschloss. Wahrscheinlich gegen irgendwelche unvorhersehbaren Probleme, die ich mitgebracht haben könnte. Er und ich hatten uns vor neun Jahren nicht unbedingt im Guten getrennt und ich konnte mir nicht vorstellen, dass wir jetzt großartige Freunde sein würden.
Er hatte gewollt, dass ich ein Mann sein, bleiben und auf der Ranch arbeiten sollte.
Aber ich hatte versprochen zu gehen.
„Kaffee?“, fragte Amy und half Rachel, sich an den Tisch zu setzen. Jeff machte Kaffee, starrte mich die ganze Zeit über unheilvoll an und murmelte vor sich hin. Er war nicht so störrisch wie damals, so wie ich mich an ihn erinnerte, aber er schien unsere Ankunft als eine persönliche Beleidigung anzusehen.
Er hatte wahrscheinlich nicht erwartet, mich je wiederzusehen.
Wir beide nicht .
Ich war mir nicht sicher, was ich mit Laurie tun sollte. Es war nicht richtig, ihn in eines der alten Schlafzimmer zu bringen, er würde aufwachen und seine Mom brauchen, darum legte ich ihn auf das Sofa und zog die Decke über ihn. Er sah so sehr wie die Bilder von mir als Kind aus, ganz blonde Haare, die, wie ich glaubte, nie geschnitten worden waren. Sie waren lang und umrahmten sein Gesicht. So wie ich es bisher gesehen hatte, versteckte er sich oft dahinter. Er war dünn und blass und wenn ich seine Haare zurückschob, konnte ich blaue Flecken auf seiner linken Schläfe sehen. Ich behielt meine Flüche für mich und stand auf, sah, dass Amy jede meiner Bewegungen beobachtete.
„Ich tue ihm nicht weh“, verteidigte ich mich sofort.
Amy presste ihre Lippen aufeinander, aber Rachels Gesichtsausdruck wurde weich. „Natürlich tust du das nicht.“
„Setzt euch, beide“, unterbrach Amy und deutete dann auf den Stuhl, vor dem sie den Kaffee abgestellt hatte. Ich tat, wie mir geheißen wurde. Der Kaffee war heiß und die Sandwiches, die sie gemacht hatte, dick mit Erdnussbutter bestrichen. Ich war nicht hungrig, aber ich aß, was mehr war, als Rachel schaffte. Sie weinte wieder und wiegte sich ein wenig vor und zurück. Ich schob meinen Stuhl näher zu ihr und klopfte ihr den Rücken, was das ganze Ausmaß meiner Fähigkeiten in Bezug auf Unterstützung war. Das Letzte, was ich brauchte, war, dass sie damit herausplatzte, was passiert war und Amy oder Jeff den Sheriff riefen, um ihm die schreckliche Geschichte zu erzählen. Ich benötigte Zeit, um Rachel zu überzeugen, dass dies ein Geheimnis bleiben musste, aber ich konnte die Schuld in diesen Tränen sehen, Hand in Hand mit Schock.
Ich hasste dieses Zimmer und die Tränen meiner Schwester machten es nur schlimmer. Ich erinnerte mich daran, wie sie hier drin weinte, weil Mom gestorben war, weil Dad sie schlug. Ich erinnerte mich an die Kämpfe. Viel zu viele Erinnerungen an schlimme Zeiten waren in diese Wände gedrungen und hatten dafür gesorgt, dass sie sich um mich schlossen, wann immer ich als Kind eingetreten war. Sie waren immer noch da, diese Erinnerungen, zusammen mit dem Gestank von Alkohol und dem Gefühl des Todes, das überall hing. Ich wollte wetten, dass Rachel sich an dieselben Dinge erinnerte und das konnte unmöglich hilfreich sein.
Halt den Mund, Rachel, behalt alles für dich. Behalt alles für dich. Lass mich mit allem fertig werden .
„Muss ich den Sheriff rufen?“, fragte Amy, deutete auf Laurie, der sich im Schlaf drehte und tief in meinen Mantel kuschelte.
„Nein“, sagte ich. Vielleicht klang ich abwehrend, ich weiß es nicht, aber ihr stählerner Blick fand mich, schwer von Vorwürfen.
„Was hast du getan?“
Ich würde mir nicht die Mühe machen, darauf zu antworten. Es war immer darum gegangen, was ich getan hatte, nichts hatte sich geändert.
„Für dich ist kein Platz hier“, bemerkte sie schlicht. „Aber Rachel und der Junge können in ihr altes Zimmer.“
Ich fragte nicht, was sich in meinem alten Zimmer befand. Auf gar keinen Fall würde ich dorthin zurückgehen, ich würde sterben in der Flut der Erinnerungen in diesem kleinen Raum. Vielleicht hatte Amy ihn in ein Nähzimmer umgewandelt oder etwas ähnlich Finales.
„Du solltest schlafen“, sagte ich zu Rachel, aber sie schüttelte ihren Kopf. Ich wollte nicht streiten, aber ich konnte die Hysterie in ihren Augen sehen und sie stand kurz davor, die Kontrolle zu verlieren. Ich half ihr aufzustehen, trug Laurie und brachte sie zu ihrem alten Zimmer. Laurie sah auf, sein Gesichtsausdruck war angsteinflößend leer. Hatte er einen Schock erlitten? Hätte ich dagegen Vorkehrungen treffen sollen? Einen Arzt aufsuchen? Ihm etwas zu trinken geben? Wer zur Hölle wusste das?
Ich hatte keine Ahnung, wie ich ihm helfen konnte, den Tod zu vergessen, den er in dieser Nacht gesehen hatte.
Bei einem Blick in mein altes Zimmer, als wir daran vorbeikamen, bemerkte ich, dass es leer war. Kein Bett, keine Vorhänge an den Fenstern. Nichts. Amy hatte das Haus von mir gesäubert. Ich hatte nicht wirklich etwas anderes erwartet. Sie nahmen gerne mein Geld, aber wollten mit mir als Person nichts zu tun haben.
Wo wir gerade dabei waren, das Geld, das ich ihnen geschickt hatte, schien nicht in Reparaturen für das Haus geflossen zu sein, darum nahm ich an, dass sie alles in das Land gesteckt hatten. Ich würde es morgen besser sehen.
Als ich wieder in die Küche kam, war Amy nirgends zu sehen, aber Jeff war da, schloss die Tür auf.
„Du bist nicht willkommen.“ Er deutete in die kalte Nacht.
Als ob ich das nicht bereits wusste .
Ich zuckte mit den Schultern und um ehrlich zu sein, bedeutete mir in diesem Moment nicht viel etwas. Mein Auto war die einzige Option. Zu spät erinnerte ich mich, dass mein Mantel noch auf dem Sofa lag und ich drehte mich um, um ihn zu holen. Jeff hatte ihn bereits durch die Tür geworfen, in den Schnee, zusammen mit den Decken, in die ich Laurie gewickelt hatte. Nun, Scheiße .
Ich konnte die Energie nicht aufbringen, wütend zu werden, Jeff auf seinen Platz zu verweisen, und ich musste mir ein warmes Plätzchen suchen. Ich ging zurück ins Haus und setzte mich im Dunkeln auf das Sofa.
Ich schlief, aber es war nur ein Durcheinander aus Albträumen. Ich träumte von Flammen und Schuld und Wahnsinn und wachte mit einer grausamen Kälte in meinen Knochen auf. Ich hatte schon Schlimmeres erlebt, aber das bedeutete nicht, dass es leicht war.
Der Sonnenaufgang war blau und mauve und in den wenigen Stunden, in denen ich es geschafft hatte zu schlafen, war mehr Schnee gefallen. Alles war absolut still. Ich machte Kaffee, wartete darauf, dass Amy oder Jeff auftauchten und mir sagten, dass ich das nicht durfte. Dann machte ich in Gedanken eine Liste der Dinge, die ich tun musste.
Rachel zu einem Arzt bringen. Dachte ich. Zumindest war das richtig. Ich schaute nach ihr, aber sie schlief tief und fest, Laurie an ihre Seite gekuschelt. Sie war erschreckend blass, ihre Haare schlaff und sie hielt Laurie selbst im Schlaf fest. Als ich mich umdrehte, um zu gehen, rief sie nach mir, nur meinen Namen, so leise, dass ich sie beinahe nicht hörte.
Ich drehte mich zu ihr um und wartete darauf, dass sie mehr sagte, aber sie starrte mich einfach nur an.
Ich griff nach ihr, zog die Decke um sie herum fest und drückte einen sanften Kuss auf ihre Stirn.
„Ich mache einen Spaziergang. Schlaf weiter, du bist hier sicher.“
Sie schloss ihre Augen und nickte kurz. Dann, gestärkt von Kaffee und einigen gestohlenen Keksen, sah ich mir einen Teil der Ranch an.
Ich folgte dem Pfad die Anhöhe vom Haus hinunter, bemerkte, dass die Zäune an einigen Stellen alt und kaputt waren, dass der Bewässerungskanal von Trümmern verstopft war, die umgefallenen Bäume auf der anderen Seite des Grundstücks und die Abwesenheit der Tiere. Ich wusste, dass es auf der Lennox Ranch nur noch wenige Tiere gab, Pferde, es gab Ställe. Ich wusste all das, weil Tante Amy mir jedes Jahr einen Bericht zukommen ließ und in Antwort darauf schickte ich jeden Cent, den ich entbehren konnte, um den Ort am Leben zu erhalten.
Wenn das Geld nicht das Haus reparierte oder Tiere fütterte oder die Ranch in Ordnung hielt, wohin zur Hölle war es verschwunden?
Geld zu schicken war die einzige mir bekannte Art, wie ich die Ranch für Rachel und jegliche Familie, die sie hatte, am Laufen halten konnte. Ich hatte nicht einmal gewusst, ob sie Familie hatte. Ich nahm an, dass das Land eines Tages dem kleinen Laurie gehören würde, zusammen mit dem ungeborenen Kind meiner Schwester. Das hier war mein Geburtsrecht und ich war die sechste Generation von Lennox’ die diesen Ort ihr Eigen nennen konnten. Kein einziger Teil davon gehörte Rachel, irgendeine dämliche Klausel über die männliche Erblinie, aber ich hatte ihr in meinem Testament bereits alles überschrieben.
Eine Absenkung des Weges hatte ein großes Stück aus dem Hügel gerissen und unter dem Schnee befand sich unter Garantie eine riesige Menge Geröll. Es war für einen Rancher nicht einfach, Bergrutsche zu verhindern. Während meiner Kindheit hier hatte ich gelernt, mit Mutter Natur zu arbeiten, nicht gegen sie. Aber der Herbst hatte einen Teil des Weges zerstört und er musste neu gebaut werden.
Mein Rancher-Herz schmerzte, dieses Chaos zu sehen. Obwohl er so viel trank, hatte mein Dad die Dinge im Griff gehabt, hatte die Ranch zusammen mit zwei Hilfskräften und mir betrieben. Ich hatte dieses Land einst geliebt.
Und dann war Mom gestorben. Ich war zehn Jahre alt gewesen und mein Leben hatte sich für immer verändert.
Ich trat gegen einen Eisklumpen und er hüpfte vor mir über den Pfad. Ich bückte mich, um ihn aufzuheben, warf ihn immer wieder in die Luft und fing ihn auf, starrte dabei die Lennox-Ländereien an.
Meine Zukunft war an diese Hektar gebunden gewesen, bis ich hatte gehen müssen. Ich warf den Eisklumpen, so weit ich konnte und er erhob sich hoch in die Luft, fiel weit weg zu Boden. Mein Arm war immer gut gewesen, nicht so gut wie der meines besten Freundes Chris. Er war für die Profiliga gescoutet worden und hätte es bis ganz nach oben geschafft mit seiner Genauigkeit und seinem Talent, wenn ich nicht in einer dämlichen Nacht alles vermasselt hätte.
Trauer übermannte mich und ich ging in die Hocke, kämpfte darum, richtig atmen zu können. Ich gestattete es mir normalerweise nicht, über Chris nachzudenken oder Isaac oder die Nacht, in der ich alles zerstört hatte. Aber hier, auf dem Lennox Land, konnte ich nur an die Jungen denken, die ich gekannt hatte und all die Möglichkeiten, die ich zerstört hatte. Erst als ich meine Gedanken in die Kiste zurückstopfen konnte, in der ich sie immer einschloss, war ich überhaupt in der Lage, wieder zu gehen.
Als ich wieder zur Ranch kam, waren alle wach.
„Ich fahre in die Stadt“, verkündete Jeff, als ob er es nicht ertragen konnte, im selben Raum mit mir zu sein, und Amy verzog ihre Lippen, als sie zusah, wie er ging.
„Wir müssen sie hier zu einem Arzt bringen“, sagte sie und nickte in Rachels Richtung.
„Kein Arzt“, warf Rachel sofort ein. Sie schaute mich hilfesuchend an, aber die würde ich ihr nicht geben. Sie war blass, erschöpft und so, wie sie ihren Rücken rieb, war etwas nicht in Ordnung.
„Wenn du das musst“, sagte ich und sie zuckte zusammen.
„Sie werden es wissen“, sagte sie, so leise, dass ich mich anstrengen musste, sie zu hören.
„Was wissen?“ Amy beugte sich vor, machte sich eindeutig Sorgen, dass ihr etwas entging.
„Nichts“, sagte ich und starrte Rachel warnend an.
Sie starrte zurück, das Kinn störrisch angehoben. Gott, sie war als Kind schon stur gewesen, hatte die Tatsache, dass sie jünger war als ich, immer ausgenutzt und sie würde sich nichts sagen lassen. „Es geht mir gut. Bin nur müde. Ich werde noch etwas schlafen, wenn du auf Laurie aufpasst.“
Amy nickte. „Natürlich werde ich das.“
„Ich meinte Micah“, erklärte sie. Amys Augen weiteten sich — sie war schockiert, aber nicht so sehr wie ich. Ich hatte bei dem Job, den ich gerade hinter mir gelassen hatte, mit Kindern gearbeitet, aber sie waren zum Unterricht auf die Ranch gekommen. Ich würde jedoch nicht mit ihr streiten, weil ich glaubte, dass Rachel sich selbst schützte. Amy hatte uns nicht gerade herzlich willkommen geheißen und vielleicht fiel sie in alte Muster zurück, die Geschwister, die niemanden einließen. Es lag wenig Wärme in dieser Erkenntnis. Wir hatten uns isoliert, um zu überleben — das war alles.
„Ich kann das machen“, sagte ich. „Wir werden die Pferde besuchen“, fügte ich hinzu, forderte Amy heraus, etwas dagegen einzuwenden.
Laurie und Rachel schienen mit zusammengesteckten Köpfen zu einer Entscheidung zu gelangen und sie half ihm, seinen Mantel anzuziehen und alles, was er im kalten Wetter brauchte. Er sah ernst aus und küsste seine Mom und dann ihren Bauch. Ich wünschte, ich hätte hören können, was sie redeten, aber das war Mutter und Sohn Zeit. Er musterte mich besorgt, doch als Rachel ihm etwas zuflüsterte, hob er seine Arme, damit ich ihn hochheben konnte.
Als wir hinausgingen, marschierte ich um das Haus herum, betrat den Garten über die betagt aussehenden Ställe und machte einen Halt, um die Pferde zu besuchen. Es waren vier und sie waren alle gut gepflegt. Das war offensichtlich. Ich wusste, dass zwei von ihnen im Besitz von Kunden waren. Die anderen beiden gehörten der Ranch, Ersatz für meinen lang verstorbenen Charlie-Blue.
„Was machst du hier, Junge?“
Jeff lehnte mit einem misstrauischen Blick auf einer Schaufel. Der sich schuldig fühlende Teil von mir wollte fliehen und sich verstecken, aber ich war ein Lennox und dieses Land gehörte mir. Dann sah Jeff Laurie und sein Gesichtsausdruck wurde ein wenig weicher.
„Wir sind hier, um uns die Pferde anzusehen“, erklärte ich und Laurie glitt nach unten, um sich hinter meinen Beinen zu verstecken. Mitleid flackerte in Jeffs Gesicht auf.
„Macht keinen Unfug mit ihnen“, bemerkte er mit knurriger Stimme und ging, rief dabei über seine Schulter: „Ich fahre in die Stadt. Denkst du, deine Schwester braucht etwas?“
Ich zuckte mit den Schultern. Was brauchte eine schwangere Frau? Ich hätte Jeff gerne gesagt, dass er einen Arzt mitbringen sollte, aber da Rachel überzeugt war, dass sie nur Schlaf brauchte, wer war ich, etwas anderes zu behaupten? Das war ihr Körper, ihr Baby.
Ich machte mir nur Sorgen, dass sie unter Schock stand und mir etwas Wichtiges entgehen könnte.
Sollte ich einfach das Kommando übernehmen? Entscheidungen für sie treffen?
Wir verbrachten eine ganze Weile mit den Pferden, Laurie stellte mit leiser Stimme Fragen, kam ihnen aber nicht zu nahe. Er hatte keine Angst vor ihnen, nur Respekt vor ihrer Größe. Wir aßen etwas zu Mittag und dann fing Laurie zu gähnen an, darum brachte ich ihn und etwas Essen und Kaffee, zu Rachel und ließ ihn ein Nickerchen machen. Sie sah besser aus, ihre Haut war nicht ganz so blass, aber ihre Augen waren so voller Trauer, dass es mir das Herz brach.
Ich ging zurück in den Stall und schob Heuballen und Kisten auf eine Seite, wartete nur darauf, dass Jeff mir sagte, dass ich das nicht durfte und erreichte endlich, was ich wollte, die Tür zur alten Schlafbaracke. Sie war Teil des Stalls, seit der erste Lennox entschieden hatte, dass es Sinn machte, wenn die Helfer so nahe bei den Tieren waren wie möglich. Direkt daneben befand sich ein Raum, den Dad für mich und Rachel abgetrennt hatte, als wir noch Kinder waren. Ein Ort, an den wir gehen konnten, wenn Mom ihre Ruhe brauchte. Verblasste Farbe an der Wand war alles, was noch von einem Wandbild übrig war, das Rachel gemalt hatte. Damals, als Dad sich noch kümmerte, hatte er den kleinen Raum mit Brettern abgetrennt und eine Tür eingesetzt. Keine Heizung, aber das Zimmer war gut genug, um darin zu schlafen und aus dem Schnee zu sein. Ich ging ins Haus, fand Decken und machte das Bett, so gut es mir möglich war, ehe ich Heuballen zur Isolierung um die Seiten aufstellte.
Dann setzte ich mich und schaute zum zehnten Mal an diesem Tag die Nachrichten an.
Immer noch keine Nachrichten über einen Mord. Ist das gut oder schlecht? Ein Teil von mir wollte, dass wir gefunden, dass die Sache erledigt wurde. Verhaftet werden, alles klarstellen, Notwehr anführen, irgendjemandem erzählen, welche Art Mist an diesem Ort vor sich ging. Der andere Teil von mir war erleichtert, dass wir es so weit geschafft hatten, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Wenn sie Rachel folgten, wenn sie sie verhaften wollten, war ich mir nicht sicher, ob ich das ertragen konnte. Sie sollte nicht noch mehr erleiden müssen.
Ich werde sie nicht mehr erleiden lassen .
Morgen würde ich in eine etwas weiter entfernte Stadt fahren und ein Campingbett kaufen und Heizkörper, aber heute gab es nur eine Sache, die ich tun wollte.
Isaac besuchen.