„Dein Bruder ist hier“, verkündete Chloe Windham. Ihr Klopfen, die Ankündigung und in mein Zimmer zu poltern, geschahen gleichzeitig und ich sprang von meinem Stuhl auf.
„Welcher?“, fragte ich und rückte den Stuhl zurecht, fluchte leise, als er gegen den Heizkörper stieß. Ich setzte mich wieder und ordnete meine Papiere. Auf gar keinen Fall würde ich zu Chloe aufsehen, weil ich genau wusste, welchen Gesichtsausdruck sie hatte. Denjenigen, der Mitleid und Sorge vermittelte und nur einen Schritt davon entfernt war, dass sie um den Schreibtisch herumkam, um mich zu umarmen. Die Leute blieben nicht, um mit mir zu reden, wenn ich ihnen gegenüber unhöflich war, darum war unhöflich mein natürlicher Zustand. Mitleid, Sorge und Umarmungen waren die drei Dinge, die ich am heutigen Tag nicht brauchte.
Ich hatte den Artikel an diesem Morgen gesehen, ein weiteres Interview von einem meiner Kollegen zum sechsmonatigen Jubiläum der Geiselnahme. Ich erinnerte mich, dass der Kollege, Zach, in der Verwaltung war, ein Feldwebel, der die Notärzte auf Linie hielt und er war derjenige gewesen, der als Erster mit dem Bewaffneten gesprochen hatte. Zu diesem
Zeitpunkt hatte ich nicht einmal gewusst, dass ein Schütze sich im Gebäude befand. Zur Hölle, es drang nicht viel durch zu dem Chaos in den hinteren Räumen, wo wir versuchten, Menschenleben zu retten.
In dem offensichtlichen Bedürfnis, mich selbst zu bestrafen, las ich den Artikel von Anfang bis Ende. Ich musste nicht daran erinnert werden, aber es erdete mich zu wissen, dass es einen Grund für einige der verrückten Dinge gab, dir mir durch den Kopf gingen.
Aber ich wettete, dass einer meiner Brüder es gesehen und das Gefühl gehabt hatte, dass er nach mir sehen musste. Ich wollte mich unter meinem Schreibtisch zusammenrollen, um weiteren Scheiß zu vermeiden.
„Welcher?“, wiederholte ich, mit diesem Tonfall, den ich gerne benutzte, demjenigen, der Diskussionen und Mitleid im Keim erstickte. Ich wusste sofort, dass es nicht Mark war, er war auf dem College. Darum konnte es entweder Chris sein, der versuchen wollte, mich dazu zu bringen, mit ihm zu reden oder Scott, der mir von einer neuen Möglichkeit, mein Geld zu investieren, erzählen wollte.
Keine dieser Optionen erfüllte mich mit Enthusiasmus. Ich wollte noch nicht mit Chris reden. Seit ich von Charlotte nach Hause gekommen war, hatte ich es erfolgreich geschafft, es zu meiden, zu sehr in das Drama des Autounfalls einzutauchen, das ihn vor neun Jahren sein Bein gekostet hatte. Ich verbrachte absichtlich nicht viel Zeit im Haus meiner Eltern und wenn ich es tat, wechselte ich das Thema.
Jetzt da ich ständig zu Hause war, seit zwei Monaten schon, konnte ich das Gespräch
mit meinem Bruder nicht länger hinauszögern. Gott helfe mir, wenn es Chris war, der mich in der Arbeit in die Enge trieb, um über meine Gefühle zu reden.
Und Scott? Nun, ich hatte bereits so viel Kapital, wie ich mir leisten konnte, in sein Geschäft investiert. Ich stählte mich für
eine Konfrontation, was die einzige Art war, wie ich dieser Tage mit Familientreffen klarkam.
„Es ist Scott.“ Sie legte Papiere auf meinen Schreibtisch und ich warf einen Blick auf die neuesten Patientenakten. Alles, nur um sie nicht ansehen zu müssen. Ich war erleichtert, dass es Scott war. Ihm konnte ich sagen, dass ich kein Geld mehr übrig hatte, und dass er verschwinden sollte, damit ich nicht die Kontrolle über meine angespannten Gefühle verlor.
„Ich bin beschäftigt.“
„Er meinte, dass er wartet. Soll ich ihm sagen, dass er draußen warten soll?“
Warum? Wird es, wenn er draußen wartet, weniger qualvoll, wenn er dann hereinkommt?
„Nein, du kannst ihn hereinschicken und kannst du das bitte ins Labor bringen?“ Ich reichte ihr die Violen mit Blut von meinem letzten Patienten, alles ordentlich in einem versiegelten Plastikbeutel. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich keine große Wahl mehr. Ich musste den Blick heben, weil ich eher als zerbrechlich denn als unhöflich angesehen werden wollte. Ich wusste das, weil ich gehört hatte, wie Chloe und ihre Tochter in der Küche der Praxis darüber gesprochen hatten.
Armer Doktor Sheridan
.
Chloe war Teil der Innenausstattung. Sie hatte angefangen, für meinen Dad zu arbeiten, als er seine Praxis in Whisper Ridge eröffnet hatte und sie würde wahrscheinlich mich überleben. Ihre Haut war glatt und ohne Falten, ihre Haare perfekt blond und wenn ich nicht gewusst hätte, dass sie schon über sechzig war, hätte ich sie auf vierzig geschätzt. Gute Gene, würde mein Vater sagen, Voodoo war meine und die Meinung meines Bruders und meine Mom würde schnauben und etwas von Schönheitsoperationen murmeln.
Ich hatte jedoch recht, sie hatte diesen
Gesichtsausdruck, der mit einem Wort zusammengefasst werden konnte. Mitleid.
Mit dieser Frau zu arbeiten, die, irgendwann in meinem Leben, meine Windeln gewechselt hatte, war, als würde ein Familienmitglied mich anstarren.
„Ist das alles?“ Ich war unhöflich und auf den Punkt, stand kurz davor, die Kontrolle zu verlieren, und hoffte, dass wenn sie ging, ich etwas Raum zum Atmen bekam.
„Ja, Doktor.“ Sie neigte ihren Kopf und trat durch die Tür, ließ sie für Scott angelehnt, damit er hereinkommen konnte. Zweifellos stand er da draußen und plauderte mit Bessie, Chloes Tochter. Sie besaß dasselbe unheimlich jugendliche Aussehen und die aschblonden Haare, hatte eindeutig die Windham-Gene geerbt. Scott war ganz auf sie konzentriert, aber das konnte eher daran liegen, dass sie nach einem Haus suchte, das sie in Whisper Ridge kaufen konnte, um sich niederzulassen, als mit ihr zu flirten.
Ich hörte ihn, bevor ich ihn sah, seine Stimme hallte in dem alten Gebäude mit den hohen Decken. Ich wappnete mich, denn der Besuch eines Geschwisters war nie eine gute Sache. Niemand kam in mein Büro, um einfach zu plaudern oder mich zum Mittagessen einzuladen. Nein, es gab entweder einen Grund, der für sie vorteilhaft war oder es war ernster Unfug über Reporter oder was in den Nachrichten gekommen war oder etwas, das sie gelesen hatten.
Ich war also ein paar Jahre früher nach Whisper Ridge gekommen als geplant. Gut, ich wäre beinahe an meinem Arbeitsplatz gestorben … aber ich ging damit so gut um, wie es mir möglich war und wünschte mir, sie würden aufhören, mich wie Glas zu behandeln.
Scott kam vorsichtig herein, schaute um die Ecke. Wahrscheinlich war es Selbstschutz, weil ich ihm das letzte Mal, als er zu Besuch gekommen war, ganz emotional, nachdem er eine Reportage gesehen hatte, in der ein Foto von mir gezeigt worden war, einen Tacker nachgeworfen hatte.
„Hey.“ Er trat ganz ein. Er war gekleidet, um zu beeindrucken, sein Anzug tadellos, die Haare glatt, sein Rasierwasser wehte zusammen mit der warmen Luft herein, die im Haus zirkulierte. Er beschämte mich. Ich trug einen Anzug, ja, aber ich hatte schon lange meine Krawatte ausgezogen, weil sie mich würgte und mein Jackett hing über der Lehne meines Stuhls, ersetzt von meinem liebsten, verwaschenen College-Pulli.
Ich war ein Arzt, die Patienten kamen nicht, um mich in einem Anzug zu sehen, sie kamen, um Hilfe zu bekommen, für was immer sie plagte. Ich hätte ein Gorillakostüm tragen können und es hätte keine Rolle gespielt. Mein Dad stimmte dem nicht zu, er hatte immer einen tadellosen Dreiteiler getragen, aber ich war ein Kind des neuen Jahrtausends und machte meine eigenen Regeln. Es war nicht so sehr eine Rebellion als das Bedürfnis, es bequem zu haben, für den Fall, dass ich eine meiner Panikattacken bekam. Wenigstens hatten sie jetzt nachgelassen, aber ich war mir der Dinge um mich herum immer noch übermäßig bewusst und eine Krawatte war wie eine Schlinge.
„Hey.“ Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück und wartete darauf, was er wollte. Nur, dass er nicht sofort mit irgendetwas anfing. An der Rezeption hatte er gelacht, aber in meinem Büro war er tödlich still. „Was ist los?“
Jeder brauchte etwas von mir. Sie wollten, dass ich lächelte. Dass ich glücklich war. Dankbar, weil ich noch am Leben war.
Leichter gesagt als getan
.
Scott schaute zur Tür und trat von einem Bein auf das andere, etwas, das er nur machte, wenn er nervös war.
Und dann kam Michelle an, das mittlere Sheridan-Kind und einzige Mädchen, außer Atem, entschuldigte sich, weil sie zu spät war.
Scheiße. Was war los? War dies eine Art Intervention? Das Letzte, was ich brauchte, war meine Familie, die mich dazu drängte, mit ihnen zu reden. Ich erwartete schon seit einer Weile eine Art Familienplausch, bei dem sie alle in einem Kreis standen und mir erklärten, dass ich ein kalter, isolierter, unglücklicher Bastard war, der sich endlich zusammenreißen musste.
Es war noch nicht passiert, aber nur eine Frage der Zeit.
Da Michelle und Scott hier waren, fehlten nur Chris und Mark und dann wären alle fünf Sheridan-Geschwister an einem Ort.
Chris würde nicht hier sein, weil er zu dieser Tageszeit unterrichtete und Mark war auf dem College, also zur Hölle, wenn sie auch aufgetaucht wären, hätte ich mit Sicherheit sagen können, dass die Kacke wirklich angefangen hatte zu dampfen.
Und dann kam es mir. Ging es hier gar nicht um mich? War mit Mom und Dad alles in Ordnung? Ging es Chris gut?
„Was?“, fragte ich, mit einem Mal besorgt. Michelle schloss die Tür und setzte sich dann auf den Patientenstuhl. Scott stand hinter ihr. Sie tauschten einen Blick und mir reichte es so sehr, dass die Leute sich immer Sorgen machten, was sie vor mir sagen konnten. Entweder schlichen sie um mich herum oder fragten mich rundheraus, ob es mir gut ging und ob ich etwas brauchte. Warum behandelten die Leute mich nicht normal? Wie das Älteste der fünf Sheridan-Kinder oder wie den ausgebildeten und kundigen Arzt, der ich war, mit einem jahrelangen Studium und Erfahrung in der Notaufnahme? Warum waren sie alle so entschlossen, mich in eine Kiste zu stecken, auf der Opfer
stand und versuchten, mich vor allem zu beschützen. Gerade als ich wirklich in Fahrt kam, fing Scott an zu reden.
„Ich habe Jeff heute Morgen gesehen.“
„Jeff wer?“ Ich kannte einige Jeffs in der Stadt und im Collier Springs Krankenhaus, wo ich jede Woche ein paar Schichten machte, um zu helfen.
„Jeff von der Lennox-Ranch, Jeff Reynolds und ich habe ihn gefragt, ganz nebenbei, ob es irgendwelche Neuigkeiten in Bezug auf meine Anfrage, das Land zu kaufen, gäbe. Er war unruhig und wollte mir nicht in die Augen sehen. Dann hat er sich einfach umgedreht und angefangen, in die andere Richtung zu gehen, darum bin ich ihm gefolgt und habe ihn gefragt, ob alles in Ordnung ist.“
Er schien nicht zu wissen, was er noch sagen sollte. Das von dem Bruder, der reden konnte wie ein Wasserfall.
Er war der Verkäufer der Familie, arbeitete und handelte mit Grundstücken und Land mit seiner eigenen Immobilienfirma in Whisper Ridge und den umgebenden Städten. Ich wusste, dass er um den Lennox-Besitz herumschnüffelte, weil das hervorragendes Land war und er erzählt hatte, dass er zwei Bauunternehmer hatte, die einen Teil davon mit Häusern bebauen wollten. Nicht, dass dies den Einheimischen gut gefallen würde. Niemand wollte, dass Häuser mit Typen aus der Großstadt alles durcheinanderbrachten. Am wenigsten ich. Ich mochte ja viele Jahre in der Stadt verbracht haben, aber Whisper Ridge war in meinem Herzen und ich wollte nicht, dass irgendetwas sich änderte. Nicht nur das, aber die Lennox Ranch beherbergte auch einige albtraumhafte Erinnerungen, über die ich an diesem Tag nicht nachdenken wollte.
„Moment, es geht also nicht um Mom?“
„Nein.“
„Oder Dad?“
„Nein, pass auf, hör einen Moment zu.“
„Ist es Chris? Ist mit ihm alles in Ordnung?“
„Scheiße, Daniel, kannst du einfach nur zuhören, verdammt noch mal?“, schnappte Scott und sah dann sofort beschämt
aus. Zur Hölle mit meiner Familie und ihrer Weigerung, ihren armen, beschädigten Bruder irgendwelchen rohen Emotionen auszusetzen.
„Dann schieß los“, verlangte ich.
Michelle wollte mir nicht in die Augen sehen und das machte mich zusätzlich nervös. Als Mittlere der fünf Geschwister war sie Frechheit und Feuer und Friedensstifterin in einem. Aber jetzt rieb sie ihren Bauch, wo das erste der Sheridan-Enkelkinder auf seinen Moment wartete, mit nur noch wenigen Wochen bis zum Geburtstermin.
„Jeff hat etwas gesagt“, erklärte Scott. Er packte die Rücklehne von Michelles Stuhl, bis seine Knöchel weiß wurden.
„Jesus“, fuhr ich ihn an. Meine übliche Geduld mit allen war schon lange aufgebraucht. „Spuck es endlich aus.“
Scott wurde blass. „Wir wissen nicht, wie du reagieren wirst—“
Ich sprang von meinem Stuhl auf und knallte meine Fäuste auf den Tisch. „Ich bin keine verdammte empfindliche Blume und wenn du nicht aufhörst, um mich herumzuschleichen, als wäre ich beschädigt, dann werde ich zu dir rüberkommen und dich nach Strich und Faden verprügeln. Ich bin immer noch dein großer Bruder und ich werde dich niedermachen.“
Scott hob eine Hand, etwas blitzte in seinen Augen auf. Ich erwartete, dass er irgendwie erklärte, dass ich ihn auf gar keinen Fall niedermachen konnte, jetzt wo er größer war als ich, aber das tat er nicht.
Jetzt war eindeutig nicht die Zeit für Geschwisterrivalitäten, aber meine Wut blieb.
„Du bist
eine verdammte empfindliche Blume!“, schrie Scott, ehe ihm klar wurde, wo er sich befand und er seine Stimme senkte. „Du bist ständig nervös und niemand kann etwas zu dir sagen.“
„Fick dich, Scott, in Charlotte—“
“Fang nicht damit an, es sei denn, du erzählst uns alles.“
Ich hielt mich davon ab, mich abzuschalten. Ich kam mit dem alles
Teil dieses Satzes nicht klar und mein Schweigen gab Scott die Zeit, mit dem weiterzumachen, was er mir erzählen wollte.
„Rachel ist wieder da“, sagte er schließlich.
Das war es? Ich machte eine schnelle Verbindung in meinem Kopf zwischen Jeff Reynolds und einer Rachel. Es gab eigentlich nur eine Verbindung.
„Rachel Lennox?“ Ich wartete auf das Nicken. Welche andere Rachel würde meinen Bruder durcheinanderbringen? Oder meine hochschwangere Schwester dazu bringen, sich in die eiskalte Februarluft zu schleppen? „Also?“
„Sie ist nicht allein“, schloss Michelle ab, als Scott offensichtlich nicht mehr wusste, was er sagen sollte.
„Kommt zum Punkt, Leute.“ Sie war mit jemandem hier, Ehemann, fester Freund? Die Tatsache, dass sie nach Whisper Ridge gekommen war, war für sich schon etwas Besonderes. Sie war mit achtzehn abgehauen, um aufs College zu gehen, und hatte niemals zurückgeblickt. Aber etwas ging hier vor sich. Es musste schlimm sein, wenn es Scott sprachlos machte und mit einem unguten Gefühl fing ich an, die Punkte zu verbinden. „Was zur Hölle geht hier vor sich?“
Scott trat vom Stuhl weg, stellte sich breitbeinig zwischen mich und die Tür.
„Micah ist hier.“
Ein Name reichte aus, um die Grundfesten meiner Seele zu erschüttern. Ich war innerhalb einer Sekunde um den Schreibtisch herum und auf dem Weg zur Tür, in mir brannte das Bedürfnis, das Gebäude zu verlassen. Ich hielt erst an, als Scott zu einer Ziegelmauer wurde, die meinen Ausgang blockierte.
„Warte, Daniel, geh da nicht einfach so hin—“
„Ich gehe nicht zu ihm, ich brauche nur … Geh mir aus dem Weg“, schnappte ich, schubste mit verengtem Brustkorb meinen nicht-mehr-so-kleinen kleinen Bruder. Scott nahm den Schubser hin, kippte leicht nach hinten, bewegte sich aber ansonsten nicht.
„Beruhige dich, Danny“, sagte er und hob seine Hände. Ich versuchte, um ihn herumzukommen, Furcht machte die Welt um mich herum dunkel vor Wut, sowie dem Bedürfnis zu rennen, das ganz an der Spitze stand.
„Er hat gesagt, dass er niemals zurückkommen wird“, fauchte ich, alle rationalen Gedanken entflohen mir auf einmal. Ich schubste Scott erneut, aber dieses Mal trat er zurück, bis er an der Tür lehnte. Es führte kein Weg an ihm vorbei.
„Das wissen wir“, sagte Michelle und ich drehte mich halb um, sah sie direkt neben mir. Sie weinte, große fette Tränen, die an ihrem Gesicht nach unten rollten und sich auf ihrem dicken Pulli sammelten.
Aller Druck verließ mich und ich wusste, dass ich manipuliert worden war. Scott war gekommen, um mir diesen Scheiß zu erzählen, aber er wusste, dass Michelle und mein bald auf die Welt kommender Neffe oder Nichte ausreichen würden, um die sofort auftretenden Wut- oder Paniksymptome zu zerstreuen. Ich wich von Scott zurück, lehnte mich an meinen Schreibtisch und rieb mir mit den Fäusten die Augen, verbrachte dann eine Weile damit, meine Atmung zu beruhigen.
„Was zur Hölle macht er hier?“ Ich spuckte Scott die Worte mehr als Anklage denn als Frage hin.
„Daniel“, murmelte Michelle in diesem Ton, der mich immer erreichte. „Hör auf.“
Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich hatte Patienten, die auf mich warteten. Ich hatte Trauer in meinem Herzen, Panik schnürte mir den Brustkorb ab und PTSD-Symptome krochen
wie Ameisen durch mich hindurch. Ich konnte nicht atmen und tastete mich um den Schreibtisch zu meinem Stuhl.
„Ich muss arbeiten.“ Ich wartete darauf, dass sie gingen.
Michelle beugte sich vor und tätschelte meine Hand.
Geht einfach.
„Geht es dir gut?“, fragte sie sanft.
„Verschwindet“, sagte ich und wünschte mir, dass meine Geschwister ausnahmsweise auf mich hören würden. Sie und Scott verharrten an der Tür.
Warum geht ihr beide nicht einfach? Damit ich alleine ausflippen kann, anstatt dass ihr all die schrecklichen, schwarzen, krebsigen Teile von mir seht
.
„Wirst du Micah umbringen, wenn du ihn siehst?“, fragte Scott, hatte die Arme vor seinem Brustkorb verschränkt.
„Was?“ Ich war zu verloren in dem Schock zu hören, dass Micah auch nur in der Nähe von Whisper Ridge war.
Micah umbringen? Ich hatte gesagt, dass ich das tun würde.
In meinen grausamsten Träumen damals hatte ich Micah wehtun wollen für das, was er getan hatte, meine Hände um seine Kehle legen und ihn erwürgen wollen.
Dann waren da noch die anderen Träume, die, die ich nicht aufhalten konnte, wo ich nur einen perfekten Sommer sehen konnte, in dem ich gedacht hatte, ich wäre verliebt.
Ich hatte vor neun Jahren ein Versprechen abgegeben. Ich hatte Micah gesagt, dass wenn ich ihn je wieder in Whisper Ridge sehen sollte, ich ihm wehtun würde. Genau wie ich es an Isaacs frischem Grab getan hatte. Ich würde ihn immer und immer wieder schlagen, bis die Enden meiner Furcht und Schuld ausgefranst und abgeschnitten waren.
Aber ich war jetzt ein Arzt, ich fügte keinen Schaden zu und meine Welt war anders. Für einen Mann, der gesehen hatte, was ich hatte, konnte es kein Schwarz und Weiß mehr geben.
Das Schlimmste daran war, dass ich die Schuld am Leben erhalten hatte, während ich in der Notaufnahme arbeitete, weil es mein Job war, Leben zu retten, ganz egal, wie sie zu mir gekommen waren. Es gab keine Zeit für Richtersprüche, wenn meine Hand sich im Brustkorb eines Gangmitglieds befand und versuchte, eine Kugel zu finden. Alles dort war eine Mischung aus Grau, die ich nie wirklich verstehen konnte, die mich aber fundamental verändert hatte.
Und dann war die Notaufnahme abgeriegelt worden und ich hatte mich inmitten einer Situation befunden, die mich erneut aufgewühlt und verändert hatte.
„Ich werde ihn nicht umbringen“, sagte ich. „Ich bin kein Mörder, verdammt noch mal.“
„Wenn du ihn also siehst, wirst du nur mit ihm reden?“ Michelle klang so, als ob sie besorgt schon vor einer Weile hinter sich gelassen hätte. „Du wirst ihn nicht konfrontieren und Probleme für Chris machen?“
Jesus
. Ich hatte nicht einmal daran gedacht, wie mein Bruder darauf reagieren würde, dass Micah in der Stadt war.
Michelle redete weiter. „Ihm geht es gut, Daniel, er braucht es nicht, dass du mit Micah kämpfst.“
Diese Aussage traf mich schwer. „Ich habe gerade gesagt, dass ich ihm nichts tun werde. Ich werde Chris keinen Ärger machen.“ Dann kam mir, dass es eine viel wichtigere Frage gab, die beantwortet werden musste. „Verdammt, weiß Chris, dass er wieder da ist?“
Beste Freunde, seit sie klein gewesen waren, hatten mein Bruder Chris und der gerade zurückgekehrte Micah Lennox sich nahegestanden. Diese beiden und Isaac Jennings waren durch ein unzerreißbares Band verbunden gewesen. Sie waren zusammen aufgewachsen, hatten Ärger gefunden, wo immer sie konnten, waren zueinandergestanden mehr als jeder Freund, den ich je gehabt hatte.
Isaac ist tot. Chris hat ein Bein verloren. Micah lebt
.
„Ich glaube nicht, dass Chris es weiß. Anscheinend ist Micah erst seit letzter Nacht wieder zurück“, sagte Scott. Er sank gegen die Tür. Mit einem Mal war er nicht der Typ, der trainierte, Grundstücke wie Süßigkeiten verkaufte und sich selbstbewusst aus jeder Situation herausreden konnte. Nein, dieser Scott war derjenige, der sich darauf verließ, dass sein großer Bruder sich zusammenriss, sich um alles kümmerte. Es konnte nicht sein, dass ich mich mitten in einer Panikattacke befand. Das brauchte er nicht. Ich konzentrierte mich auf meine Atmung, auf das verzweifelte Bedürfnis nach Luft, hielt mich davon ab, nach meiner Kehle zu greifen. Ich drehte mich um und starrte aus dem Fenster, auf die Berge und endlich hatte ich etwas Kontrolle.
„Ihr müsst es mich
Chris sagen lassen.“ Ich konnte nicht glauben, dass die Worte meinen Mund verlassen hatten. Ich hatte so viele Jahre damit verbracht, der Notwendigkeit auszuweichen, mit meinem Bruder über den Unfall zu reden. Was machte ich da, wenn ich sagte, ich würde mit ihm reden?
Michelle seufzte. „Daniel, du vermeidest es, mit Chris über den Unfall zu reden, seit du nach Hause gekommen bist—“
„Nein, tue ich nicht“, log ich. „Ich werde es ihm sagen“, unterbrach ich, ehe Michelle anfangen konnte, absolut verständnisvoll und unterstützend zu werden, und noch etwas mehr die Mauer einreißen konnte, die ich um meine Emotionen herum errichtet hatte. Ich war der Älteste und Chris musste es von mir erfahren.
„Und du wirst Micah nichts Dummes antun, wenn du ihn siehst?“ Michelle sah aus, als ob sie gleich wieder anfangen würde zu weinen. Ich kam mit den meisten Dingen klar, aber nicht mit den Tränen meiner Schwester. Sie war diejenige gewesen, die meine Hände verbunden hatte, wo sie aufgerissen
waren, als ich Micah immer und immer wieder geschlagen hatte. Warum sollte sie jetzt etwas anderes von mir erwarten?
Ich fing ihren Blick ein. Über die Jahre hatte ich gelernt, wie ich lügen musste und gleichzeitig so wirken konnte, als würde ich die Wahrheit sagen. Sie war diejenige von meinen Geschwistern, die mich immer durchschaute, aber an diesem Tag glaubte ich, war sie bereit, jedes Wort zu glauben, das ich sagte.
„Es ist neun Jahre her, Michelle. Ich werde ihm nicht wehtun.“
„Du hast ihm die Schuld dafür gegeben, was mit Chris passiert ist“, murmelte sie.
„Das war damals.“
Ich hatte für Micah Lennox keinen Hass mehr in meinem Herzen. Auch kein Mitleid oder Vergebung.
Ich hatte nichts.
Kein Mitgefühl oder Verständnis, nur einen großen leeren Raum, der nichts außer schlimmen Erinnerungen enthielt. Welche, die ich nicht zu oft herauszog, um darüber nachzudenken. Jegliche noch verweilende Empathie, die ich für Micah empfunden hatte, war verschwunden, nachdem ich Chris gefunden hatte, als er versucht hatte, Selbstmord zu begehen. Ich hatte ihn im Bad entdeckt, wo er eine Flasche Tabletten geschluckt hatte, weil er sich nicht vorstellen konnte, ein Leben zu haben, nachdem er ein Bein verloren hatte.
Als ich vor sechs Monaten in der Notaufnahme gewesen war, mit einer Waffe an meiner Schläfe, war es nicht mein Leben gewesen, das vor meinen Augen abgelaufen war, es war ein ganzes Durcheinander aus Bedauern über den Unfall, meinen Bruder und die Rolle, die ich bei allem gespielt hatte. Ich hatte nicht speziell an Micah gedacht und was wir einander bedeutet hatten. Aber es schien, dass ich seit diesem Tag nicht in der Lage gewesen war, das Gefühl loszuwerden, dass ich ihn finden
sollte. Vielleicht konnten wir uns dafür entschuldigen, was wir beide getan hatten. Oder, wenn wir uns nicht entschuldigten, dann könnten wir zumindest über die Dinge reden, damit die Vergangenheit endlich zur Ruhe kommen konnte.
War seine Anwesenheit in Whisper Ridge meine Chance, etwas Frieden zu finden?
Sie gingen, Michelle hielt sich an Scotts Arm fest und warf einen letzten Blick über ihre Schulter. Scott war wieder jovial und laut mit den Leuten und Angestellten im Wartezimmer — seine Art, mit Stress umzugehen. Michelle war erschüttert. Sie brauchte das nicht, nicht, wenn sie so kurz davorstand, ihr Kind zu bekommen.
Ich sollte mit Chris reden
. Zur Hölle, das könnte genau der richtige Zeitpunkt sein, um zwischen mir und meinem Bruder alles zu klären und darüber hinwegzukommen, dass ich den Elefanten im Raum gemieden hatte. Wenn Chris überhaupt über die Dinge sprechen wollte, die geschehen waren. Und wenn ich die Panik überwinden konnte, die ich verspürte, wann immer ich mich irgendetwas stellen musste.
Ich war der Erste, der zugab, dass mein Kopf so voller Lärm war, dass ich keinen Platz mehr für das echte Leben hatte. Ich hatte die letzten drei Jahre damit verbracht, in der Notaufnahme eines der geschäftigsten Krankenhäuser in Charlotte, North Carolina zu arbeiten. Dort war ich ständig in höchster Alarmbereitschaft gewesen, hatte mich von einer Krise zur nächsten bewegt. Zurückzukommen war meine
Entscheidung gewesen, aber ich hatte es nicht geschafft, den Instinkt, sofort in den Kampfmodus zu gehen, wenn etwas passierte, hinter mir zu lassen.
Meine Therapeutin in Charlotte hatte es als Über-Bewusstsein bezeichnet.
Der Therapeut, zu dem ich hier gewechselt war, Devin, sagte dasselbe und arbeitete mit mir an meinen Gedankenprozessen. Es war eine langsame und frustrierende Angelegenheit.
Ich selbst bezeichnete es einfach nur als Unfähigkeit, meinen Kopf klarzubekommen, obwohl ich wusste, was mit mir passierte.
Doktor, heile dich selbst
.