Fünf
Daniel
Ich beendete meine Termine wie in Trance, es war nur gut, dass an diesem Nachmittag nicht viel los war. Wie Oma Sheridan immer gesagt hatte, die Zeit bewegte sich langsamer als eine Schnecke mit kaputtem Haus.
Der letzte Termin war um vier und ich hatte mehr als genügend Zeit, um zwischen den Patienten an meinem verdammten Schreibtisch zu sitzen und nachzudenken. Ich musste Berichte schreiben, Proben wegschicken, zwei Überweisungen ausstellen, hatte dazu noch Versicherungsformulare, die ich ausfüllen musste. Ich schob alles auf eine Seite und starrte aus dem Fenster, das auf die Felder hinter der Klinik hinausging und einen Blick auf Whisper Ridge bot. Ich konnte den ganzen Tag unseren kleinen Teil der Wind River Mountains anstarren. Die Winds waren mein Zen-Fokus, bei dem ich das Chaos in meinem Kopf vergaß und mich auf meine Atmung konzentrierte. An diesem Tag funktionierte es nicht. Tatsächlich funktionierte gar nichts. Nicht die Arbeit, nicht der Kaffee, nicht der Geheimvorrat Schokolade in meinem Schreibtisch, der zu meinem Trost geworden war, noch die wunderschönen Berge vor meinem Fenster.
Micah war zurück und meine sanften Gedanken, ihn zu finden und mit ihm zu reden verhärteten sich, während die Zeiger der Uhr sich bewegten. Warum war er zurück? Hatte er vor, zu bleiben? Er hatte geschworen, dass er niemals nach Hause zurückkommen würde, hatte mir ins Gesicht gesagt, dass er mir zustimmte, dass er toxisch war, dass er an allem schuld war und dass er nicht nach Whisper Ridge kommen würde, sobald er aus dem Gefängnis freikam.
Ich hätte wissen sollen, dass ich einem neunzehnjährigen Kind nicht trauen konnte, ein Versprechen abzugeben, das er halten würde.
Ich wusste nicht, was direkt nach dem Gefängnis mit ihm passiert war. Ich hatte gehört, dass er irgendwo auf eine Ranch gezogen war, aber es war mir egal. In der Familie redete niemand über ihn. Er war von einem zusätzlichen Bruder für uns fünf Sheridan-Geschwister zu weniger als nichts geworden.
Aber ich hatte Dinge gehört. Das passierte in kleinen Städten wie dieser. Vor allem von klatschenden Patienten, die äußerst eifrig waren, Bruchstücke von Informationen weiterzugeben, von denen sie dachten, dass ich sie wissen wollte. Angeblich schickte er Geld zu Amy und Jeff auf der Lennox Ranch. So wie es mir erzählt worden war, war es Micahs zusätzliches Geld, das die alte Ranch am Laufen hielt, aber das bezweifelte ich. Amy und Jeff arbeiteten von morgens bis abends und hielten sie so selbst am Laufen. Und wie viel konnte Micah als Helfer auf einer Ranch schon verdienen? Gerüchten zufolge hatte er angefangen, Autos zu stehlen oder dass er sein Geld auf andere zwielichtige Weise machte.
Ich hatte so viele verschiedene Theorien gehört, dass ich angefangen hatte zu glauben, dass Micah innerlich so schlecht war, wie alle sagten. Es spielte keine Rolle, dass wir eine Beziehung gehabt hatten, in der ich geglaubt hatte, dass ich ihn kennen würde. Er war der Mann, der meinen Bruder verletzt hatte und ich hätte alles geglaubt, das die Wut rechtfertigte, die so lange an der Grenze zum Hass gewesen war.
Was Rachel betraf, sie war für die Verhandlung nicht zurückgekommen, war auch nach dem College nie zurückgekehrt, aber das hatte mich nicht überrascht. Sie standen sich nahe, Micah und Rachel und obwohl sie von dem Krebs, der ihre Mom getötet hatte, als sie noch jung waren, getrennt worden waren, hatte Rachel sich immer um ihren großen Bruder gekümmert. Aber sie war wahrscheinlich von dem, was Micah getan hatte, genauso entsetzt gewesen wie der Rest der Stadt.
Dann war da noch Micahs Dad. Edward Lennox war ein großer Mann gewesen, gefährlich, der gerne auf seinen Sohn und seine Tochter losgegangen war, wenn sie einen Fehler machten. Er war ebenfalls tot, seine Handgelenke zerschnitten und mit einer finalen Kugel, die Blut und Gehirn an der Wand des Bades hinterließ.
Das war die Definition von dysfunktional. Die ganze Familie wurde von Dämonen getrieben, die ich nicht wirklich verstehen konnte. Kein Wunder, dass Micah schlecht geworden war, aber das entschuldigte nicht die eine Nacht, in der er das Leben meines Bruders zerstört hatte.
Ich hatte mich in den Bastard verliebt. Oder zumindest hatte ich gedacht, dass ich das hatte. Bis alles in die Brüche gegangen war.
Ich zog meinen schweren Schaffellmantel an, schaute auf die Uhr. Es war kurz nach vier und ich war mit den Patienten durch und zur Hölle, ich brauchte frische Luft. Ich schloss mein Patientenzimmer und ging wortlos an der Rezeption vorbei. Chloe rief mir nach, aber wenn ich angehalten, wenn sie versucht hätte, mit mir zu reden, wäre ich in diesem Moment vollkommen durchgedreht. Sie musste wissen, dass etwas los war, da Scott und Michelle mich besucht hatten und ich jetzt davonstürmte, als ob mein Hintern in Flammen stehen würde.
Ich wettete, dass sie bereits am Telefon war, um ihren Sohn Neil anzurufen, einen County Sheriff und jemanden, der die Sheridan/Lennox Geschichte nur zu gut kannte.
Wer in dieser Stadt tat das nicht? Wenn ich hinter der Main Street und der Kirche eine Linie zog und sie dann zurück zu Whisper Park führte, dann war die südliche Hälfte Sheridan Land und die nördliche Hälfte gehörte der Lennox Familie. Zwei Familien, die hart arbeiteten, um zu behalten, was ihnen gehörte und sie waren die meiste Zeit über ziemlich gut miteinander ausgekommen. Zur Hölle, Amy Lennox hätte meinen Onkel Liam heiraten sollen, ehe er zu jung starb, um sich ein eigenes Leben aufzubauen.
Vielleicht, wenn das geschehen wäre, der große Zusammenschluss zweier Familien, wäre der Weihnachtsabend 2009 nie passiert.
Ich erreichte das Ende der Straße, ehe irgendjemand aus der Praxis mich einholen konnte, ging so schnell, dass ich praktisch rannte. Mein Atem flog in weißen Wolken vor meinem Gesicht und die eisige Luft arbeitete sich in meine Lungen vor. Nach der Hitze in den Carolinas liebte ich den scharfen Kontrast von Eis und Schnee. Ich brauchte das.
Eine Erinnerung an die Person, die ich gerne wieder sein wollte.
Ich zog meine Mütze tief in meine Stirn, um die Wärme davon abzuhalten zu entkommen, und traf die Entscheidung, eine zusätzliche Lage Kleidung anzuziehen, ehe ich morgen in die Praxis ging.
„Guten Tag.“ Josiah Redfern, Bürgermeister und Schuldirektor, nickte mir zu, als er an mir vorbeiging und wurde langsamer, als ob er anhalten und reden wollte. Ich wollte nicht reden, darum nickte ich nur, ging aber weiter. Mir war es absolut egal, ob ich unhöflich war.
Ich musste hier raus .
Ein Auto wurde langsamer und kroch neben mir her und ich musste nicht einmal aufsehen, um zu wissen, wer es war. Der Sheriff oder, wie ich ihn kannte, nur der gewöhnliche alte Neil-den-ich-einmal-geküsst-habe. Gottverdammte Chloe und ihr Netzwerk an Leuten, die mich alle bemuttern wollten.
Der alte Daniel hätte einen Witz darüber gemacht, wie Neil am Gehsteig entlangkroch, der neue Daniel war nicht daran interessiert, irgendetwas wie ein Gespräch mit irgendjemandem anzufangen, während ich dieses erdrückende Gewicht auf meinem Brustkorb hatte.
„Daniel?“, rief Neil, aber ich ignorierte ihn weiter und das Auto heulte auf, um meine Aufmerksamkeit zu erregen.
Ich wurde ein wenig langsamer, war aber nicht bereit anzuhalten.
„Auf ein Wort, Dr. Sheridan?“, fragte Neil mehr, als dass er es verlangte. Er hatte diese Art an sich, mit seinen lang gezogenen Landjungen-Vokalen und seiner Oh, wie schlimm, Ma’am Weise, an Situationen heranzugehen, doch unter dem bestand er ganz aus Stahl. Ich mochte Neil. Er war einer meiner ältesten Freunde von der Highschool und wir hatten eine kurze Sache in dem Sommer nach dem Unfall gehabt.
Die Tatsache, dass er mich Dr. Sheridan nannte, machte es offiziell und ich hasste es, dass ich ihn mit dem Feuer von eintausend Sonnen verabscheute. Ich wusste, warum ich so viel Hass auf ihn fokussierte. Er musste Zugang zu mehr Informationen darüber haben, was in Charlotte passiert war. Sogar die Dinge, über die niemand redete. Jeden. Verdammten. Moment.
Ich verkroch mich tiefer in meinen Mantel, ging aber weiter.
„Daniel, komm schon, Mann“, sagte Neil mit einem Seufzen, beschleunigte dann ein wenig, fuhr mit seinem Truck vor mich und blockierte meinen Weg. Wenn ich mich stark und entschlossen gefühlt hätte, hätte ich mich vorbeidrängen, auf die verdammte Motorhaube springen, daran entlanggleiten, dramatisch landen und dann weitergehen können.
Aber ich fühlte mich nicht stark.
Und die einzige Entschlossenheit, die ich in mir hatte, war es, meine Wut und meinen Stress durch Spazieren loszuwerden.
Ich hielt an, kurz bevor ich gegen das Auto prallte und stand direkt vor Neil. Er hatte seine Arme vor dem Brustkorb verschränkt und sein Gesichtsausdruck war vorsichtig und kontrolliert. Er benutzte ganz klar kein Mitleid bei mir oder offenes Verständnis oder Mitgefühl. Ihm ging es in diesem Moment nur um den Job.
„Daniel, ich weiß, dass du gehört hast, dass Micah in der Stadt ist.“
„Ja.“
„Ich muss mit dir reden.“
„Ich habe keine Zeit zum Reden.“ Ich hatte Dinge zu tun, Orte, an die ich musste, zur Hölle, Leute, die ich treffen musste. Aber vor allem musste ich die Aggression und Furcht weggehen, die heiß wie Säure in mir brodelten.
Alles war falsch. Was in dem Krankenhaus in Charlotte passiert war, hatte meinen Fokus zerstört. Und obwohl ich vor all diesen Jahren mit Chris’ Verletzung irgendwie meinen Frieden gemacht hatte, packte mich der Schmerz darüber, wenn ich es am wenigsten erwartete.
Wie konnte ich irgendetwas davon loslassen? Es war mein Auto, das Micah gestohlen hatte, mein Auto, das getötet und verstümmelt hatte. Und jetzt war Micah wieder da und ich wollte sein Gesicht nicht sehen und ich musste zu Chris gehen und es ihm sagen und mich hunderten Dämonen aus meiner Vergangenheit stellen.
„Daniel, steig ins Auto“, sagte Neil. „Ich fahre dich nach Hause.“
Das Allerletzte, was ich brauchte, war mit Neil ins Auto zu steigen. Unsere Hintergrundgeschichte war kompliziert und alles davon war mit Micah und dem Unfall verwoben. Ich hatte ihn benutzt, nachdem Micah gegangen war. Er war die eine Person gewesen, an die ich mich wenden konnte, die nicht zur Familie gehörte. Er hatte gesehen, wie ich nach dem Unfall zusammengebrochen war. Hatte mich gehalten, nachdem ich Chris gefunden hatte, depressiv und mit dem Versuch, sich das Leben zu nehmen.
Er wird nur sehen, dass sich bei mir nichts verändert hat .
Ich öffnete meinen Mund, um etwas einzuwenden, aber worin lag der Sinn, irgendetwas von dem Chaos in meinem Kopf einer anderen Person zu erklären? Niemand brauchte davon zu wissen.
„Ich muss nur gehen“, sagte ich. Warum wollten die Leute mich nicht einfach in Ruhe lassen, damit ich allein meine Probleme bewältigen konnte, anstatt ständig von jemandem belästigt zu werden?
„Wir müssen reden. Mom hat gesagt, dass du es erfahren und aufgebracht ausgesehen hast.“
„Hurra, Nachrichten von der Frau, die effektiver ist als der verdammte CNN“, sagte ich. Ich machte einen Scherz, benutzte Sarkasmus, aber mein Tonfall war harsch, sogar ich konnte das hören und Neils Augen wurden schmal.
Großartig. Jetzt vermasselte ich das hier auch noch. Ich musste mich in keine wütende Diskussion darüber stürzen, dass Neils Mom das Nachrichtenzentrum der Stadt war. Wir alle wussten, dass dies eine Tatsache war, wir alle akzeptierten es und es war nicht wirklich ein Problem. Sie war auch das Muttertier der Stadt, machte sich um uns alle immer Sorgen und wir liebten sie dafür. Vielleicht brauchte ich es, dass Neil mir ins Gesicht sagte, dass ich ein Arschloch war, dann würde er mich wie einen normalen Mann behandeln, der schlecht über seine Mama geredet hatte.
Er machte keine Anstalten, das zu tun, tat es andererseits aber auch nicht einfach ab.
„Scheiße, Neil, es tut mir leid“, sagte ich und meinte es auch so.
Neil neigte seinen Kopf, akzeptierte meine lahme Entschuldigung. Wir starrten einander ein paar Momente lang an und ich konnte die Berechnung in seinem Gesicht sehen. Er kannte mich besser als einige, aber nicht so gut wie andere. Er musste mich gesehen und sich an das Kind erinnert haben, das ich gewesen war, wie ich neben meinem Bruder im Schmutz kniete und seine Hand hielt, während er ausblutete.
Er dachte wahrscheinlich, dass er den Mann erkannte, der ich jetzt war, aber niemand in dieser Stadt konnte mein wahres Ich kennen.
„Sag mir, wo du hingehst.“
Ich will hinauf zur Lennox Ranch und mit eigenen Augen sehen, dass er zurück ist. Ich will ihm sagen, dass er gehen soll, weil er hier nicht willkommen ist. Ich will Chris nicht sehen und ihm sagen, dass Micah hier auf der Lennox Ranch ist .
„Ich spaziere nur“, sagte ich laut.
„Daniel, sei ehrlich zu mir, bist du unterwegs zum Lennox Haus?“
Ich zog meine Hände aus meinen Taschen und hielt sie vor mich, die behandschuhten Handflächen nach oben. „Nein, Neil. Ich gehe keine fünf Kilometer bei diesem Wetter. Sehe ich so aus, als wäre ich dämlich?“
„Willst du darauf eine Antwort?“, erwiderte Neil und er lächelte und da war ein Aufblitzen des alten Neil zu sehen. Dem, mit dem ich herumgemacht hatte, der, der eine Zukunft mit mir gewollt und den ich von mir gestoßen hatte, sobald ich ihn nicht mehr brauchte.
Das sanfte Lächeln, das seine dunklen Augen strahlen ließ, machte mich fertig. Es entmannte mich und kroch in meinen Kopf und diese verdammten Tränen brannten wieder.
Kein Weinen mehr .
„Ich gehe nur zu Isaac“, meinte ich schließlich.
Er nickte. Jede Person in dieser Stadt ging hin und wieder zu Isaacs Grab, um den jungen Mann zu besuchen, der niemals älter als neunzehn werden würde. Vielleicht war es, um zu reden oder uns an unsere eigene Sterblichkeit zu erinnern, aber was es auch war, sein Grab war eine Art Heiligtum, wo wir uns selbst besser verstehen lernten. Ich brauchte das jetzt gerade.
„In Ordnung“, sagte Neil. „Ich werde herausfinden, warum Micah hier ist, in Ordnung?“
Da war dieser Hauch Mitgefühl, diese nachdrückliche Implikation, dass er sich Sorgen um mich machte, und ich weigerte mich, das zu akzeptieren.
„Wir müssen irgendwann mal wieder ein Bier zusammen trinken“, platzte ich heraus. „Wie wir es früher gemacht haben.“
Wie es normale Freunde tun .
Neil nickte auf seine mysteriöse Weise. „Das würde mich freuen.“ Er fuhr langsam rückwärts, aber ich bewegte mich nicht, bis er wieder auf der Straße war. „Ruf mich an, wenn du mich brauchst“, sagte er und ich wusste, was er zu sagen versuchte. Mach keine Dummheiten.
„Das werde ich“, versicherte ich ihm. Dann, als seine Rücklichter um die Ecke verschwanden, setzte ich meinen Spaziergang fort. Ich bog bei dem zugenagelten Schönheitssalon, der einst eine Generation Frauen aus Whisper Ridge gut hatte aussehen lassen, nach links ab und begann den langsamen Anstieg zu dem Friedhof hinter der winzigen Kirche. Ich wünschte mir, ich hätte dickere Handschuhe zur Arbeit mitgenommen. Ich schob meine Hände tiefer in meinen Mantel und vergrub mein Gesicht in meinem Schal.
Ich nahm den langen Weg. Das Letzte, was ich wollte, war mit irgendjemandem aus der Kirche zu reden und endlich kam ich zu den Grabsteinen, die aus dem Schnee herausragten, ging instinktiv in die Richtung von Isaacs Grab. Jemand war dort, eingehüllt in einen Mantel, dem Bild, das ich von vor all diesen Jahren in meinem Kopf hatte, unheimlich ähnlich.
Ich blieb stehen. Die unausgesprochene Regel war, dass wenn jemand mit Isaac redete, es Privatsache war und man nicht unterbrach.
Aber. Als der Mann sichtbar seufzte und sein Gesicht gen Himmel wandte, wusste ich, wer es war. Micah.
Blind, ohne einen Gedanken daran, was ich machte und mit einem scharfen Schmerz in meinem Herzen, ging ich um die Grabsteine herum, bis ich nur ein paar Meter hinter ihm stand.
Wenn ich ihn dazu bringen konnte zu gehen, dann würde ich mir niemals Sorgen darum machen müssen, dass Chris ihn wiedersah. Mein Job als großer Bruder wäre erledigt. Ich konnte mit Micah vernünftig reden. Er war einfach nur ein Mann. Richtig?
Und dann musste er gespürt haben, dass ich da war und er drehte sich um und zog die Kapuze herunter. Micahs Haare waren immer noch so weißblond, wie ich mich an sie erinnerte, seine blassen grauen Augen geweitet vor Schock und dann Resignation. All meine guten Vorsätze lösten sich auf, jeder einzelne Gedanke, Micah dazu zu ermuntern zu gehen oder rational mit ihm zu reden, floh schlicht unter dem Gewicht meiner Panik. Er war nicht nur Micah, er war alles, über das ich keine Kontrolle hatte. Er war der Mann mit der Waffe im Krankenhaus, er war die Person, die mein Herz brechen ließ.
„Du hast gesagt, dass du niemals zurückkehren wirst“, sprudelte es aus mir heraus, meine Hände waren an meinen Seiten zu Fäusten geballt.
Er sagte etwas zu mir, aber ich konnte es über das Summen in meinem Kopf nicht hören. An seiner Stelle stand der Mann, der mich in meiner Notaufnahme mit einer Waffe bedroht hatte, derjenige, der gedroht hatte, mich zu verletzen, und dann meine Freundin getötet hatte. Dieser ganze Schlamassel hatte sich, seit ich nach Hause gekommen war, zu diesem Punkt aufgebaut und es war reiner Zufall, dass es Micah war, der mir im Weg stand. Ich machte einen Schritt vorwärts, meine Hände zu Fäusten geballt.
„Ich musste für Rachel zurückkommen.“ In seinem Gesicht stand eine Entschuldigung geschrieben und Bedauern. Er bat mich stumm zu verstehen, aber der rote Nebel senkte sich und ich konnte nur noch daran denken, wie Chris reagieren würde, wenn er Micah sah.
„Du kannst hier nicht sein.“ Ich suchte nach einem Grund, warum ich die Kontrolle verlor. „Wenn mein Bruder dich sieht—“
„Ich musste zurückkommen. Ich hatte keine Wahl.“ Er hob seine Hände.
Ich schrie ihm direkt ins Gesicht und er zuckte nicht zusammen. „Was zur Hölle machst du hier?“ Ich schubste ihn und jeder kranke Gedanke, der durch meinen Kopf kroch, kam in hasserfüllten Worten voller Gift heraus.
Er wurde blass und ich schubste ihn erneut. Wut und Schrecken ballten sich in mir und mein Sichtfeld verschwamm und mit einem Mal stand nicht Micah dort, sondern der Mann mit der Waffe, der mich als Geisel genommen hatte. Meine Faust flog, wie sie es vor all diesen Jahren getan hatte. Sie traf auf seinen Mund und Blut tropfte aus seiner aufgeplatzten Lippe. Sein Kopf ruckte nach hinten und dann packte er mich, als ich mich bereitmachte, einen weiteren Schlag zu landen.
Er hielt mich nahe bei sich, als er sprach.
„Dieses Mal werde ich mich wehren.“ Er schubste mich weg und ich stolperte, und für eine grauenvolle Sekunde konnte ich ihn nur anstarren.
Dann legten die Panik und der Schmerz sich in mir und mir wurde klar, was ich getan hatte. Ich taumelte aus dem Friedhof, ließ Micah stehen und ging direkt zum Büro des Sheriffs, meine Hände an meinen Seiten, die Haut eisig. Das Büro war ein winziges Gebäude hinter dem Whisper Ridge Diner und ich fand Neil dort, wo ich wusste, dass er sein würde, an seinem Schreibtisch mit Akten und Ordnern um ihn herum.
Ich setzte mich auf den Besucherstuhl und hielt ihm meine Hände hin, die Knöchel an meiner rechten Hand rot, Micahs Blut auf ihnen. Neils Augen weiteten sich, aber ich hielt ihn mit einem Kopfschütteln vom Reden ab.
„Micah war dort. Ich habe ihn nicht umgebracht“, murmelte ich. „Aber ich habe ihn geschlagen. Ich verstehe nicht warum.“
„Daniel—“
„Du musst mich verhaften.“