Ich fuhr an den Straßenrand, sobald ich das Lennox Land verlassen hatte, und schaltete den Motor ab. Was zur Hölle hatte ich gerade getan? Neil hatte gesagt, dass er sich darum kümmern würde, dass er zurückkommen und mir genau sagen würde, wie viel Ärger ich am Hals hatte. Doch als er gekommen war und mir erklärt hatte, dass Micah nichts mit mir zu tun haben wollte, dass er keine Anzeige erstattete, hatte ich keine Erleichterung verspürt.
Ich musste jetzt bezahlen. Ich war an der Reihe, von ihm niedergeschlagen zu werden. Vielleicht konnte ich, wenn er das tat, mein verdammtes Leben neu starten.
Irgendetwas musste es neu starten.
Übelkeit packte mich, ein vertrautes Gefühl dieser Tage. Ich legte meinen Kopf auf das Lenkrad, schloss meine Augen und ging alle Übungen durch, die ich gelernt hatte, um das Chaos in meinem Kopf zu kontrollieren. Die Flashbacks hatten aufgehört, die Albträume waren leichter geworden, aber ich war weit davon entfernt, über das hinwegzukommen, was mir zugestoßen war. Wenn man dann noch Micahs Rückkehr hinzufügte, war ich am Ende.
Meine Fingerknöchel schmerzten — aber sein Gesicht — ich hatte ihm die Lippe aufgeschlagen.
Ich konnte nicht atmen und riss die Tür auf. Die eiskalte Luft, die mit mehr Schnee drohte, biss mir scharf ins Gesicht. Ich trat in die kalte Dunkelheit, zog meinen Mantel fest um mich, schnappte mir meine Taschenlampe und knallte die Autotür zu. Dann ging ich los, weg von meinem Auto, den kleinen Hügel neben der Straße hinauf und darauf entlang. Ich hatte keine Richtung im Kopf, war aber nicht überrascht, als ich bei der Steinbrücke ankam, die über den Whisper Ridge Creek führte. Dort hatten sich früher die Überreste einer Holzbrücke befunden, aber nach dem Unfall, der vor neun Jahren so viele Leben zerstört hatte, hatte die Stadt diese Steinbrücke gebaut, breit genug, um darüber zu gehen, aber nicht mehr. An der Seite war eine kleine Plakette angebracht, aber ich musste sie nicht lesen, um zu wissen, was darauf stand. Ein einzelner Name, Isaac, und ein Datum, Dezember 2009 und drei Buchstaben. RIP. Ich fuhr den Namen im nassen Schnee nach, fischte dann meine Handschuhe heraus, als der kalte Wind durch meinen Mantel drang.
Niemand konnte lange im eisigen Wind stehen und die Wärme des Autos war ein Segen.
Ich wusste, dass ich zu Chris fahren und ihm sagen musste, dass Micah wieder da war. Ich zögerte nur das Unvermeidliche hinaus. Er würde bald zu Hause sein. Ich parkte vor seinem Haus und wartete, neigte meinen Kopf nach hinten und schloss meine Augen. Ich musste eingeschlafen sein oder mich zumindest so weit entspannt haben, dass ich nicht mehr ganz bei Bewusstsein war.
Der Schlag gegen das Fenster ließ mich aufschrecken und ich schlug mir den Kopf an der Decke an, fluchte, griff mir vor Schock an den Brustkorb.
Chris schaute mich durch das Fenster an und er sah reuevoll aus, aber dann grinste er, als er sah, wie ich zurückwich. Ich öffnete aus Rache die Tür direkt vor seiner Nase und die einzige Person, die sich wehtat, war ich, als meine Tür gegen seinen Rollstuhl krachte.
„Was machst du im Rollstuhl?“, fragte ich, als ich mich aufrichtete.
„Langer Tag“, sagte Chris lächelnd. Ich erinnerte mich an eine Zeit, als er es gehasst hatte, ihn zu benutzen, aber jetzt war es für ihn in Ordnung, ihn zu brauchen. Zumindest machte er diesen Eindruck auf jeden, der fragte, aber ich war eine Weile nicht zu Hause gewesen, darum hatte ich vielleicht einiges davon verpasst, wie er jetzt zurechtkam.
Er rollte sich wie ein Profi die kleine Rampe hinauf in sein Haus und ich folgte, schloss hinter mir die Tür und rührte mich dann nicht vom Fleck.
„Was?“ Chris starrte zu mir auf.
Ich kam gleich zur Sache. „Micah Lennox ist zurück.“
Chris drückte sich aus dem Stuhl, streckte sich und marschierte dann in die Küche. In Jeans, die er jetzt trug, konnte man nicht erkennen, dass er vom linken Knie abwärts eine Prothese trug. Er ging so selbstbewusst und mit seinem Rücken zu mir, wodurch seine Narben nicht sichtbar waren, schien es, als ob nichts in seinem Leben geschehen wäre. Er hielt sich fit, arbeitete an der örtlichen Highschool als Sportlehrer und unterrichtete Englisch, aber ich wünschte mir, er hätte sein können, was ihm bestimmt gewesen war und mein Herz schmerzte immer noch über den Verlust seiner Träume.
Er fing an, Kaffee zu machen, und ich lehnte mich an den Türrahmen. „Hast du mich nicht gehört? Micah ist wieder in der Stadt.“
Chris stellte zwei Tassen nebeneinander auf die Arbeitsplatte und der einzige Beweis, dass er die Worte gehört hatte und sie
verarbeitete, war, dass er still war. Das und die Tatsache, dass er die Narben auf seinem Gesicht mit den Fingern nachfuhr. Das machte er, wenn er scharf nachdachte.
„Ich weiß“, sagte er schließlich nach einer Weile. „Miriam hat es Nancy erzählt, deren Tochter mit Liam aus meiner Klasse befreundet ist. Die Textnachricht kam um Viertel nach elf, innerhalb von fünf Minuten wusste es der ganze Bus und ich natürlich auch.“ Er erklärte es so genau, als ob es lebenswichtig wäre, dass ich den Vorgang verstand.
„Chris, es tut mir leid.“
Er drehte sich zu mir um. „Was tut dir
leid?“
Dass Micah meine Schlüssel genommen, mein Auto gefahren hat, dass ich nicht gedacht habe, dass ich ihn aufhalten müsste.
„Dass du es auf diese Weise herausfinden musstest“, sagte ich stattdessen.
Er zuckte mit den Schultern und konzentrierte sich wieder auf den Kaffee. Seine Schultern waren steif und er beugte sich vor, bis seine Hüfte an der Arbeitsplatte lehnte. Dann stützte er seine Hände dort auf und seufzte.
„Alle wissen, was damals passiert ist“, fing er an. „Aber als die Kinder mit der Flüsterpost anfingen, habe ich sie aufgehalten. Als es bei den Kindern ankam, die direkt hinter mir saßen, war ich eine Art Geist, ein Kind, das gestorben war und von den Toten wiedererweckt wurde.“ Er lächelte mich an und zuckte mit den Schultern. „Ich würde es vorziehen, wenn sie weiter glauben würden, dass ich ein knallharter Ninja gewesen bin, aber hey, ich kann den Tratsch nicht kontrollieren. Du weißt, wie es ist, diese Kinder haben mich so gesehen, seit sie klein waren und alle wissen, was wirklich passiert ist, aber ich habe den Bus anhalten lassen und habe sie um mich versammelt und ich habe den Kindern alles ganz genau erzählt. Ich habe ihnen gesagt, dass wir drei jung waren, dass wir Idioten waren,
dass wir nicht in diesem Auto hätten sein sollen, es war ein schlimmer Unfall und dass sie, wenn sie endlich Autofahren dürfen, sich daran erinnern sollen, verantwortliche Fahrer zu sein.“ Er schnaubte. „Zur Hölle, es hat sich als Lehrmoment entpuppt.“
Chris und ich hatten nicht mehr über den Unfall gesprochen, seit ich ihn gefunden hatte, als er versucht hatte, sich umzubringen, als der Schrecken von dem, was ihm zugestoßen war, zu unerträglich geworden war. Ich hatte mich dem bis jetzt nicht stellen können, aber im Moment war ich auch nicht in einem besseren geistigen Zustand, um rational zu reden. Er klang, als ob er mit allen Erinnerungen klarkam.
„Wie kannst du so ruhig sein?“, fragte ich. Ich konnte nicht glauben, dass er da lehnte, als ob nichts davon eine Rolle spielte, über seinen Tag redete, als ob er die Geschichte seines Lebens nicht einem Bus voller Kinder hatte erzählen müssen.
Chris schnaubte ein Lachen. „Was soll ich deiner Meinung nach tun, Daniel? Du warst da, am Anfang, nach dem Unfall, warst da, als ich aufgewacht bin. Du hast mich gefunden, als ich versucht habe, Selbstmord zu begehen, aber dann bist du wieder aufs College gegangen. Du hast die Teile meines Lebens verpasst, wo ich mich bei jedem, der zuhörte, über die Ungerechtigkeit dessen, was passiert war, beschwert habe. Die Teile, wo Schuld und Hass beinahe beendeten, was der Unfall begonnen hatte. Dann hast du auch die Erkenntnis verpasst, dass ich ein Leben habe und eine Familie, die mich liebt und ich wollte, dass es ein gutes Leben ist. Ich bin durch mit dem Hass und wenn ich Micah sehe, werde ich ihm wahrscheinlich die Hand schütteln und ihn fragen, wie es ihm geht.“
„Du meinst, was er nach seiner Zeit im Gefängnis gemacht hat.“ Ich konnte die Bitterkeit in meiner Stimme nicht unterdrücken. Chris starrte mich an und da war eine Enttäuschung, die sogar ich lesen konnte.
„Ein Jahr im Gefängnis ist genug für jeden Mann, der für etwas bezahlt, für das er nicht bezahlen sollte.“
„Er hat mein Auto genommen, er hat es gefahren, er hat Isaac getötet, dich verletzt.“
Ich hatte wirklich keine Ahnung, wie Chris so gelassen sein konnte. Er hatte alles vor sich liegen gehabt, eine Profi-Karriere im Baseball, eine Frau, Kinder, eine Zukunft. Und was hatte er jetzt? Eine Stelle als Lehrer in einer Schule, die keinen Kilometer vom Ort seiner Geburt entfernt war.
Chris war dasjenige der Sheridan Kinder gewesen, das die Welt hätte sehen sollen.
Und was war daraus geworden?
Wir hatten jedoch nie wirklich darüber gesprochen, wie er sich fühlte und ich wusste, dass ein Teil von ihm mir die Schuld für meinen Anteil an dieser schicksalhaften Nacht geben musste. Er hatte jedes Recht dazu. Chris war mit dem Kaffee fertig und reichte mir eine Tasse, führte mich dann aus der Küche und in sein Wohnzimmer, wo ich auf das Sofa mit Blick über seinen Garten sank. Es erstaunte mich, wie wunderschön Chris’ Garten war, sogar im Winter war er eine Palette von Grüntönen vor dem Schnee.
War ich erstaunt, weil er der Einzige in unserer Familie war, der einen grünen Daumen hatte? Oder war es, weil er es geschafft hatte, solche Schönheit zu schaffen, obwohl ihm ein Bein fehlte? Ich wünschte mir zu wissen, wie ich den Stolz auf meinen Bruder von dem Bedauern über das, was geschehen war, trennen konnte.
Chris setzte sich auf seinen eigenen Stuhl und inhalierte dann den Duft des Kaffees. Er war müde, aber es ging ihm gut und ihn so zu sehen war ein Häkchen in der Spalte, dauerhaft in Whisper Ridge zu bleiben. Ich war durch das College und das Medizinstudium, dann eine Facharztausbildung und Notfallmedizin zu lange von meiner Familie getrennt gewesen.
Ich wollte Michelles Baby sehen, Chris dabei beobachten, wie er sein Leben lebte, wenn ich das Hindernis überwinden konnte, mich mit ihm der Vergangenheit zu stellen. Ich musste erleben, wie Scott Landgeschäfte rein durch Reden abschloss. Ich wollte da sein, wenn Mark seinen Abschluss machte und bei der großen Familienparty mitfeiern. Zur Hölle, ich wollte am Sonntag den Braten bei Mom und Dad und der Arzt für eine neue Generation von Whisper Ridge Patienten sein.
Zumindest dachte ich, dass ich das wollte.
Endlich fing Chris an zu reden. „Ich liebe mein Leben, verstehst du? Lehrer zu sein, mit den Kindern in inklusiven Teams zu arbeiten, ein Kämpfer für inklusiven Sport zu sein. Wer weiß, ob ich es überhaupt je in die Profi-Liga geschafft hätte?“
„Das hättest du.“ Ich war äußerst stolz auf das, was alle meine Geschwister konnten.
Er zuckte mit den Schultern. „Akzeptier einfach, dass ich glücklich bin
, in Ordnung?“
War es das? Die große Diskussion, die ich gefürchtet hatte? War es möglich, dass Chris’ gelassener Blick auf sein neues Leben, eines, wo er glücklich war, ausreichte, dass die Sorgen nachließen?
„In Ordnung.“
„Hast du Micah gesehen?“, fragte Chris.
„An Isaacs Grab. Ich habe ihn geschlagen.“ Instinktiv versteckte ich meine Fingerknöchel, aber indem ich das tat, lenkte ich die Aufmerksamkeit auf sie und Chris’ Lächeln verschwand.
„Was zur Hölle, Daniel?“
Ich stellte meinen Kaffee ab und stand auf. Ich wollte die Wut in mir erklären, die Schuld, die Erinnerungen an den Unfall, die sich so unentwirrbar mit den Erinnerungen
daran, was mir in der Stadt widerfahren war, verwoben hatten. Andererseits wollte ich über nichts davon reden.
Am wenigsten mit Chris. Wir waren gute Brüder, solange wir den ganzen Schlamassel versteckten und beiseiteschoben. Auf diese Weise funktionierte es für mich.
Ich schüttelte meinen Kopf, als er anfing aufzustehen.
„Steh nicht auf, ich muss los, aber ich wollte dich nur wissen lassen, dass er hier ist und wenn du mich brauchst …“
„Wenn ich dich wirklich brauchen würde, was würdest du tun? In die entgegengesetzte Richtung laufen?“ Er war so verdammt enttäuscht. „Daniel, bitte geh nicht. Ich dachte, du wolltest reden, also lass uns reden. Das haben wir schon lange nicht mehr gemacht.“
„Ein andermal. Wir sehen uns am Sonntag beim Essen“, sagte ich und ging, so schnell ich konnte. Die Wände kamen auf mich zu und ich musste nach draußen.