Zehn
Micah
Ich ließ Rachel am nächsten Morgen schlafen, schrieb ihr eine Nachricht. Ich hatte nicht schlafen können, mein Kopf voller Panik und Furcht und all den Erinnerungen an mich und Daniel zusammen, als ich gedacht hatte, dass wir vielleicht für immer währen würden.
Ich beschäftigte Laurie so gut ich konnte, indem ich über Pferde redete und setzte ihn dann in den Truck und fuhr nach Collier Springs, in die größte, aber nächstliegende Mall, die ich finden konnte.
Laurie stand für eine lange Zeit im Eingang eines großen Outlet Stores, der von einigen kleineren Läden umgeben war. Seine Augen waren geweitet und er hatte eindeutig Panik. Das war mehr als nur eine sture Weigerung, sich zu bewegen und dann fing er an zu hyperventilieren. Ich hob ihn hoch und versicherte ihm, dass nichts in einer Mall ihn verletzen würde.
Zuerst wand er sich, dann wurde er ganz still und irgendwie, nach ein paar eiligen, keuchenden Atemzügen, begann er sich zu entspannen, als ob er mir vertraute. Er umklammerte meinen Hals, was das Einkaufen ein wenig erschwerte. Erst als wir nach Kleidung für ihn suchten, lockerte er seinen Griff und saß bequem in meinen Armen. Ich dachte darüber nach, ihn in den Sitz des Einkaufswagens zu setzen. Aber das hätte ihm vielleicht das Gefühl gegeben, gefangen zu sein, und er wog nichts, darum war er leicht zu halten. Er hatte keine Meinung zu Kleidung, aber die Sachen, die er trug, eine Jeans, die ihm zu kurz war, ein T-Shirt, das seinen Körper ertrinken ließ und einen Pulli, dessen Ärmel abgeschnitten waren, war auch nicht wirklich der letzte Schrei.
Ich hatte die Ranch, auf der ich arbeitete, in aller Eile verlassen, ohne irgendwelche Besitztümer außer meinem Handy und einem Ladegerät. Darum kaufte ich mir selbst Jeans, Oberteile, Pullis und tat dann dasselbe für Rachel und Laurie, Mäntel, Handschuhe, Schals und wir waren auf alles vorbereitet, was der Winter in Wyoming uns antun konnte. Ich fand ein Feldbett, das für die kurze Zeit, die ich hier sein würde, ausreichte, zwei ölbetriebene Heizkörper und ich kaufte auch noch Babysachen, inklusive Windeln für Neugeborene, nur für den Fall. Wer zur Hölle wusste, was Rachel brauchte? Dennoch schaute ich mir eine Liste auf Google an und kaufte etwas von allem, denn wenn sie gestern Wehen bekommen hätte, hätten wir nichts gehabt. Ich las auch die Kommentare zu dem Post, etwas über zusätzliche Schnuller und Windeln, also machte ich das und der Einkaufswagen war beinahe voll.
Vitamine, wie Daniel es gesagt hatte, waren etwas problematischer. Was brauchte eine schwangere Frau? Ich schaute wieder bei Google nach und dieses Mal las ich gründlicher nach, war frustriert von der Menge an Informationen und nahm jedes Vitamin aus dem Regal. Vielleicht wusste Rachel es besser? Oder ich könnte die Hebamme fragen, wenn wir zu ihr gingen.
Nicht, dass Rachel zu einer Hebamme wollte. Das war die eine Sache, die sie immer wieder betont hatte.
„Ich habe Laurie allein auf die Welt gebracht, ich kann das wieder tun.“
Es brach mir das Herz, dass sie allein gewesen war. Es brachte mich um, dass ich nicht einmal gewusst hatte, dass ich einen Neffen hatte, und ich umarmte ihn kurz. Er gab einen protestierenden Laut von sich, klammerte sich aber an mich, darum dachte ich, dass es im Großen und Ganzen in Ordnung für ihn war, wenn sein emotionaler Onkel die Grenzen für Umarmungen testete.
Ich wanderte durch den Gang mit den Spielsachen, wartete darauf, dass Laurie mir sagte, ich sollte anhalten und mir etwas genauer ansehen, für das er sich interessierte. Action Man? War das eine gute Wahl? Sie alle schienen winzige Waffen zu tragen und ich dachte nicht, dass das eine gute Sache war. Ich hob ein Kinderbrettspiel hoch, Tempo, kleine Schnecke , und einige sehr bunte Bücher und stopfte alles, so gut ich konnte, in den Wagen. Danach wusste ich nicht, was ich tun sollte.
Was wollten normale Fünfjährige? Zumindest jene, die den Beginn ihres Lebens nicht von der Welt isoliert verbracht hatten? Die Kinder, mit denen ich in meinem alten Job arbeitete, waren alle älter, Teenager und bei ihnen ging es nur um Handys und Handyspiele, aber wenn ich bedachte, wo Laurie seine ersten fünf Jahre verbracht hatte, bezweifelte ich, dass er so etwas wollte. Oder brauchte.
Er schien ebenso verloren zu sein wie ich und dann fiel sein Blick auf die Puzzles. Er wand sich aus meinem Griff, um sie anzusehen, hielt meine Hand und zog mich näher, war anscheinend von den tausenden Mustern fasziniert. Vielleicht hatte Rachel beim Kult Zugang zu Puzzeln gehabt? Wer wusste das schon, aber das war es, was er wollte und er suchte verschiedene Schwierigkeitsgrade aus, einige davon fand ich für sein Alter viel zu anspruchsvoll. Dennoch machte ich keine Einwände und sie gesellten sich zu der Kleidung im Einkaufswagen.
„Mom hilft mir“, erklärte er, als wir an der Kasse warteten. Dabei hielt er meine Hand fest. „Wirst du mir auch helfen, Sir?“
Das war der längste Satz, den ich je von ihm gehört hatte.
„Natürlich werde ich das und du kannst mich Onkel Micah nennen, wenn du möchtest.“ Er nickte, als ob ich ihm ein wertvolles Geschenk gemacht hätte und dann zog er die Nase kraus. Er schien angestrengt über etwas nachzudenken, dabei die Konsequenzen in Betracht zu ziehen. In seinen blassen Augen sah ich eine alte Seele.
„Ich habe für dich eines mit Pferden genommen“, sagte er nach dieser Pause und wartete auf eine Antwort.
„Ich liebe Puzzles mit Pferden.“
Ich hatte noch nie ein Puzzle gemacht, an das ich mich erinnern konnte, aber ich hatte eindeutig das Richtige gesagt.
Ich zerzauste seine blonden Haare und er lächelte zu mir auf. Kein Grinsen, nicht das Lächeln eines Kindes, das eine ganze Menge Spielsachen hatte, aber ein Lächeln, das seine Augen mit Licht füllte. Ich konnte nicht anders, als das Lächeln zu erwidern.
„Zur Hölle, Micah Lennox, bist du das?“
Ich versteifte mich bei der Frage. Jesus, wie weit musste ich von Whisper Ridge fort, um Leute zu meiden, die mit mir reden wollten? Ich drehte mich zur Besitzerin der Stimme um und mein bisher so ruhiger Einkauf wurde jäh unterbrochen.
Zur Hölle mit meinem Leben. Daniels Schwester, Michelle. Noch eine Verbindung zu Chris und allem, was ich getan habe. Noch jemand, dem ich in die Augen sehen und mich verteidigen musste.
„Michelle“, sagte ich und warf einen Blick auf ihren Bauch. Sie war viel runder als Rachel, stand kurz vor der Geburt. Sie sah gesünder aus als Rachel, in einem Kleid, das für Schwangerschaften gemacht war, ihre Haare waren sorgsam frisiert und sie trug einen riesigen Diamanten an ihrer linken Hand. Das war es, was ich für Rachel gewollt hatte und Bedauern überfiel mich, dass sie das nicht haben würde. Ich hatte ein paar lockere Röcke und Oberteile in der Abteilung für werdende Mütter ausgesucht, aber ich war ein Rancharbeiter, der in Jeans und Sweatshirts lebte. Was wusste ich über schwangere Frauen und was sie trugen?
Frag Michelle.
Rede nicht mit Michelle .
„Noch zwei Wochen“, beantwortete sie meine unausgesprochene Frage und rieb ihren Bauch, lächelte mich dann an. Lächeln entwaffnete mich. Sie hätte dieselbe Wut in sich tragen sollen wie Daniel, warum also versuchte sie nicht, mich zu schlagen, oder verlangte, dass ich ging? „Wie geht es dir?“, fragte sie stattdessen und sah mich erwartungsvoll an.
„Mir geht es gut“, log ich. Ich stand mitten in einer Mall, kaufte Kleidung mit meinem überforderten, emotional verwundeten Neffen, hoffte auf Anonymität und redete jetzt mit der Schwester des Typen, der mich geschlagen hatte und mich hasste. Wie konnte dieser Tag überhaupt real sein?
„Oh, Micah, es tut mir so leid. Daniel hat dich echt erwischt“, sagte sie und hob die Hand, um mein Gesicht zu berühren. Ich wich zurück und stieß gegen den Einkaufswagen. „Entschuldige“, sagte sie, legte sofort wieder ihre Hand auf ihren Bauch.
Sie hatte versucht, mich zu berühren, ich hatte überreagiert. Ihr war es peinlich. Ich schämte mich. Und jetzt waren uns die höflichen Gesprächsthemen ausgegangen. Worüber sonst konnten wir reden? Das letzte Mal, als sie mich getroffen hatte, hatte sie mich im Krankenhaus gesehen und versucht, mich zu umarmen, hatte mir vergeben wollen. Ich hatte ihre Umarmungen damals nicht gewollt und auch nicht ihre Vergebung und ich brauchte beides auch nicht.
Schließlich hatte ich ihren Bruder verletzt und einen anderen jungen Mann getötet.
Im Moment hatte sie mich gefragt, wie es mir ging, hatte mir erzählt, dass sie ein Kind erwartete, wir hatten die Tatsache abgehakt, dass ihr Bruder sich die Zeit genommen hatte, um mich zu schlagen, und ich war irgendwie fertig. Nur, dass wir in dieser Schlange gefangen waren. Das war meine Vorstellung von der Hölle. Laurie zupfte an meiner Jeans und ich hob ihn hoch.
„Oh, wer ist der kleine Mann?“, fragte Michelle.
Laurie vergrub sein Gesicht an meinem Hals.
„Er hat Probleme mit Fremden“, erklärte ich, obwohl ich nicht wusste, warum ich mir die Mühe machte. Ich wollte nur hier rauskommen, ohne mit einer anderen Person in Verbindung zu treten, und schon gar nicht mit einer Sheridan. Was ich gerade gesagt hatte, eröffnete das Feld für eine Diskussion über Kinder und ihre Ängste.
„Oh, Liebling, ich weiß, was du meinst“, sagte Michelle zu Laurie, nicht mir. „Ich hasse es, an solche Orte zu gehen, all der Lärm und die Farben. Was hältst du davon, eine Schwester oder einen Bruder zu bekommen? Doktor Daniel hat mir gesagt, dass deine Mama ein Baby bekommt, genau wie ich.“ Laurie schaute immer noch nicht auf, aber er entspannte sich ein wenig. „Hey, wie wäre es, wenn mein Baby sich mit deinem Baby anfreundet, wie würdest du das finden?“
Ich öffnete meinen Mund, um zu antworten, aber Laurie war schneller.
„Keine Freunde“, schnappte er.
„In Ordnung. Das ist in Ordnung.“ Sie sah kurz zu mir und in ihrem Gesicht standen so viele Fragen. Zum Glück musste ich keine davon beantworten, weil Laurie laut redete.
„Ich kümmere mich um mein Baby“, sagte er wild.
Michelle war überrascht, überspielte es aber mit einem Lächeln. „Es ist eine gewaltige Aufgabe, ein großer Bruder zu sein. Aber du wirst hervorragend sein.“
„Niemand wird ihm wehtun“, fügte Laurie hinzu und vergrub sein Gesicht dann wieder.
Ich wünschte mir sehnlichst, dass wir endlich bezahlen konnten, als Michelles Augen vor Emotionen zu glänzen begannen.
„Micah?“, sagte sie leise. In diesem einzigen Wort lagen alle Fragen. War Laurie wehgetan worden, wie meinte er das, warum war er so entschlossen, sein Geschwister zu beschützen?
Zum Glück ging es vorwärts und wir waren an der Reihe und ich konnte Michelle den Rücken zuwenden, stopfte Dinge willkürlich in Tüten, alles mit einer Hand, bezahlte und rannte dann praktisch mit dem Einkaufswagen zu meinem Truck.
Wie verdammt dämlich war das, dass ich versuchte, vor einer schwangeren Frau zu fliehen, damit ich nicht mit ihr reden musste?
Wir kamen zur Ranch zurück, als es gerade dunkel wurde, packten die Kleidung und die Babysachen in Rachels Zimmer und den Rest in die Schlafbaracke für mich. Es würde für eine kurze Weile ausreichen. Erst als ich mir sicher war, dass Laurie entspannt bei seiner Mom war, verließ ich das Haus und rief Henry Boville Junior an, den Besitzer der Ländereien eine Stunde von Denver entfernt, den ich stehengelassen hatte, um Rachel zu holen.
Er hob nach dem dritten Klingeln ab.
„Micah, hey. Zur Hölle, wann kommst du zurück, die Schüler vermissen dich und Jem ist ganz traurig.“
Das traf mich schwer. Ich vermisste Jem, er war mein Pferd, ein wunderschönes Quarterhorse. Und die Kinder, ich vermisste sie auch.
Oder zumindest vermisste ich sie, als Henry sie erwähnte, aber um ehrlich zu sein, hatte ich bis jetzt nicht viel an sie gedacht, zu beschäftigt mit meiner Familie, dieser Stadt, den Geheimnissen.
Und Daniel .
„Henry, ich brauche etwas mehr Zeit.“
Henry lachte. Er war ein guter Mann, ungefähr in meinem Alter. Er hielt die finanziellen Zügel der Triple-K Ranch. Für ihn zu arbeiten war ein Glücksfall für mich gewesen. Ihn kümmerte meine Vorstrafe nicht und ich war jetzt seit sieben Jahren bei ihm. Es gab wenig, was ich nicht über die Verwaltung der Triple-K wusste und ich war eher Henrys rechte Hand als ein Ranchhelfer. Ich trainierte die Pferde, verdiente ordentliche Boni und hatte mir einen Namen gemacht.
Ich hätte mir gewünscht, auf meinem Eigentum zu arbeiten, mein Leben auf der Lennox Ranch zu verbringen, aber das würde nie passieren.
„Keine Sorge, Kumpel, hier ist es ruhig und Arnie arbeitet mit den Schülern, die es durch den Schnee noch hierherschaffen.“
Die K war so abgelegen wie die Lennox Ranch, darum waren sie, wenn die Stürme richtig schlimm wurden, abgeschnitten. Sie waren im Winter nicht übermäßig beschäftigt, weil sie Pferde züchteten und kein Land für Vieh hatten.
„Arme Kinder“, scherzte ich. Arnie war nicht der Geduldigste mit den Teenagern und was er als ihre Handy-Obsession bezeichnete.
„Ist bei dir alles in Ordnung? Kann ich irgendwie helfen?“
Er war bei mir gewesen, als Rachel angerufen und mich um Hilfe angefleht hatte. Zur Hölle, er hatte mir geholfen, die Plane von meinem Truck zu ziehen und das Ding anzuwerfen.
„Nein, alles in Ordnung, ich brauche nur ein paar Wochen.“
„Solange du im Frühjahr wieder da bist …“
Henry Junior scherzte, aber darunter lag ein Hauch Betteln und das Bedürfnis nach Versicherung. Wie, in Gottes Namen, konnte ich ihn beruhigen, wenn ich nicht wusste, was passieren würde?
„Natürlich.“
Wir beendeten den Anruf mit den üblichen Bro-Sprüchen. Ich sah in Henry einen engen Freund, vielleicht meinen einzigen Freund. Ich war im Leben mit leichtem Gepäck gereist und jetzt kannte ich es nicht mehr anders. Ich vermisste die K, wünschte mir für einen Sekundenbruchteil, dass ich wieder dort wäre, bei meinem unkomplizierten Leben und den wenigen Verantwortungen.
Aber ich hatte eine Entscheidung getroffen, die eigentlich gar keine Entscheidung gewesen war. Rachel, Laurie und das ungeborene Kind mussten meine Priorität sein.
Jetzt musste ich einen Weg finden, damit zu leben.