Vierzehn
Micah
Ich sah zu, wie Daniel davonfuhr, wartete, bis das Rot seiner Rücklichter im wirbelnden Schnee verschwand und ich stand immer noch in der Kälte.
Ich konnte nicht glauben, dass ich ihn geküsst hatte. Ich hatte kein Recht, das zu tun. Aber in diesem einen Moment hatte ich das Gefühl gehabt, als ob ich ihn berühren könnte und die letzten neun Jahre auf magische Weise verschwinden würden. Dann hatte ich seine Haare gestreichelt, als er eine Panikattacke hatte und Gott, ich hatte ihn auf die Wange geküsst.
Was zur Hölle hatte ich mir gedacht?
Vielleicht, dass Laurie es ohne mich besser hatte? Stimmte das? Ich konnte gut mit Kindern umgehen und Laurie war wie ich, als ich klein war. Ich wollte unbedingt, dass er mich mochte, dass er sich an mich wandte, wenn er etwas brauchte. Ich wollte nicht, dass er mich hasste. Zur Hölle, meine selbstsüchtige Seite wollte, dass es ihm ohne mir nicht gut ging.
Es fühlte sich an, als ob alles auf mich zurasen würde, als ob die Polizei nur einen Kilometer entfernt wäre, auf dem Weg, um mich zu holen, um mich von hier wegzubringen. Ich war noch nicht fertig. Ich musste auf der Ranch alles in Ordnung bringen, die Abläufe festlegen, das verdammte Land verkaufen, um alles zu finanzieren. Ich musste es für Rachel, Laurie und das Baby richtig machen. Daniel war bei Rachel professionell, gab keine Anzeichen, dass die Wut und das Misstrauen, die er für mich empfand, je auf sie oder ihre Kinder übertragen werden würden.
„Kommst du rein?“, fragte Rachel von der Tür und schreckte mich auf. Ich drehte mich zu ihr, ein Lächeln auf mein Gesicht geklebt, betrat dann die Wärme der Küche. Das Abendessen stand auf dem Tisch, eine Art Eintopf, der hervorragend roch und Berge von Kartoffeln in einer großen Schüssel in der Mitte. Ich sah, dass sie für mich gedeckt hatten, aber mir war übel und ich konnte im Moment nicht essen.
„Wo wohnt Chris?“, fragte ich meine Tante, sobald ich in der Küche war. Sie hatte mir den Rücken zugewandt, rührte den Eintopf, aber ich konnte sehen, dass ihre Schultern sich bei der Frage anspannten.
„Er wird dich nicht sehen wollen“, sagte sie.
Obwohl das wahrscheinlich stimmte, wollte ich meine Frage verteidigen. „Du weißt nicht, ob er mich sehen will.“
Sie gab einen ungläubigen Laut von sich.
„Jesus, Amy“, schnappte ich. „Wirst du es endlich gut sein lassen? Mir wird dein Scheiß langsam zu viel.“
Ich hatte noch nie so mit ihr gesprochen, zur Hölle, ich hatte noch nie mit irgendjemandem so geredet. Aber ich war so fertig von allem, was ich im Auto gerade erlebt hatte und der Tatsache, dass ich draußen schlief und dass, wenn ich im Haus war, ich nur Wut und Elend bekam. Diese Art Umfeld war nicht gut für Laurie und ich wollte, dass alles beendet und beiseitegelegt wurde. Amy legte den Holzlöffel nachdrücklich auf den Halter und stützte ihre Hände auf die Seiten des Herdes, sah mich nicht an, zeigte nicht, was sie fühlte.
„Du bist gegangen, Micah“, sagte sie. Dann drehte sie sich zu mir um und ich sah Trauer und Wut in ihrem Gesicht. „Rachel ist aufs College gegangen, du bist nach dem Gefängnis nicht zurückgekehrt und hast mich mit deinem Dad allein gelassen und ich musste mich um alles kümmern. Die Ranch, die Trinkerei deines Vaters, die Hölle, zu der die Lennox Ranch geworden war. Wusstest du, dass ich es war, die deinen Dad gefunden hat, an dem Tag, als er gestorben ist?“
„Nein, wusste ich nicht.“
„Du weißt nichts von dem, was wir tun mussten. Ich kam in das Haus und es war still, aber da war ein Geruch, wie Eisen und dann war da all das Blut. Weißt du, was ich gesehen habe?“ Sie kam näher und senkte ihre Stimme. „Er war im Bad, klammerte sich an ein Bild deiner Mom.“
Ihre Stimme brach und für einen Moment dachte ich, sie würde vielleicht weinen. Ich hatte nicht gewusst, wer ihn gefunden hatte, nur, dass der Mann, der Rachel und mich gehasst hatte, fort war. Ich trauerte auf meine Weise um ihn, mit einem kleinen Schluck Whiskey und einem Toast auf die Pferde, um die ich mich gekümmert hatte. Der Anruf war nicht von Amy gekommen, sondern von Jeff, der die Worte nicht herausbrachte und auflegte, sobald er sicher war, dass ich die verdammte Nachricht verstanden hatte.
„Es tut mir leid, aber ich habe nicht wissen können, was er tun würde.“
Sie sah mich wütend an. „Es ist mir egal, warum du nicht zurückgekommen bist, aber du kannst dich nicht hier in meine Küche stellen und mir sagen, dass du keine Lust mehr auf meinen Scheiß hast.“ Das Wort klang falsch aus ihrem Mund, sie fluchte nie. Meine Abwehrhaltung löste sich so schnell auf, wie sie gekommen war.
„Ich wünschte, ich wäre nicht gegangen. Es tut mir leid. Vielleicht, wenn ich geblieben wäre, hätte ich mich als Mann um Dads Probleme kümmern können, vielleicht hätte ich Rachel dazu bringen können, nach Hause zu kommen. Vielleicht hätten wir alle zu Hause sein können und es wäre perfekt gewesen. Ich weiß es nicht.“
Es war eine große Rede und ich dachte, dass sie vielleicht etwas darauf zu sagen hatte, mir erklären würde, was für einen Mist ich redete oder dass sie eine Meinung dazu hätte. Stattdessen wandte sie sich wieder dem Abendessen zu, das sie vorbereitete.
„Chris ist unten in Trent, fährt einen Pick-up, blau, drittes Haus von hinten.“
Ich zog meinen Mantel erneut an und verließ das Haus, ehe irgendjemand weiteren Zweifel zu dem signifikanten Haufen hinzufügen konnte, den ich bereits mit mir trug. Dass Amy mich anschrie, hatte mich aus meiner eigenen Starre gerissen und einen dieser eng verknüllten Fäden aus Schuld in mir gelöst. Entschuldigungen für das, was ich getan und nicht getan hatte, waren läuternd, aber ich bezweifelte, dass meine Probleme mit Amy alle aus der Welt geschafft waren. Das Leben und Beziehungen waren nicht einfach und ich hatte Jahre Zeit gehabt, mich daran zu gewöhnen.
In die Stadt zu kommen war eine Herausforderung. Mein alter Truck rutschte und schleuderte auf dem Neuschnee und ich hatte keine Zweifel, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis die Lennox Ranch eingeschneit war. Die Stadt war größtenteils freigeräumt und ich fuhr durch das Zentrum, schaute mir zum ersten Mal die Straßen an, die ich einmal als Heimat bezeichnet hatte.
Einige Läden waren noch da, wie Bridges Mercantile. Er gehörte Nigel Bridges und war von seinem Vater gegründet worden. Der Tante-Emma-Laden war schlecht gealtert, aber das Licht war an und ich sah, dass jemand hineinging. Früher hatte ich bei Bridges alles bekommen können, was ich wollte, von Lutschern für einen Cent bis hin zu Fernbedienungen für Autos. Ich fragte mich, ob es immer noch so war oder ob die Dinge sich so weiterentwickelt hatten, dass ich sie nicht mehr erkennen würde. Es gab einen Coffeeshop, wo früher der Diner gewesen war, aber ein neuer Diner war am Ende der Straße in der Nähe des geschlossenen Schönheitssalons aufgetaucht. Ich hatte dort meinen ersten Haarschnitt bekommen und jede Minute gehasst. Nach diesem Besuch schnitt meine Mom mir die Haare zu Hause raspelkurz, dann, nachdem sie gestorben war, machte ich es selbst. Es war ein Look, den ich lange beibehalten hatte. Ich strich mit einer Hand durch meine Haare, sie wurden jetzt länger und wenn ich nicht aufpasste, würde ich am Ende wie Laurie aussehen.
Ich bog von der Main ab, in Richtung Trent Drive, benannt nach dem Mann, der sich hier niedergelassen und diese Stadt zu Füßen der Wind River Mountain Range oder, wie die Einheimischen sie nannten, den Winds, gegründet hatte. Ich fand Chris’ Haus mit Leichtigkeit. Wenn der Truck es mir nicht verraten hätte, dann wäre die Rampe zur Eingangstür ein weiterer Hinweis gewesen. Ich schaltete den Motor ein paar Häuser von seinem entfernt aus, saß in der Dunkelheit, bis die Fahrerkabine so kalt war, dass ich entweder aus dem Truck aussteigen und zu Chris’ Haus gehen oder den Motor wieder anschalten und fahren musste.
Er war während meiner Verhandlung im Koma gewesen und dann, als ich eingesperrt war, hatte er mich nicht besucht. Ich hatte ihm aus dem Gefängnis geschrieben, so viele Male, aber es war keine Antwort gekommen und es war offensichtlich, dass er nichts mit mir zu tun haben wollte.
Ich konnte nicht einmal daran denken, wann ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, ansonsten würde ich wieder in den Truck steigen und zurück zur Ranch fahren.
Aber ich musste die Dinge für Rachel und die Kinder in Ordnung bringen, wenn sie bleiben sollte. Ich wollte nicht, dass irgendjemand es ihr schwer machte, darum musste ich wissen, ob Chris wegen mir meine Familie hasste.
Die Schultern zurückgezogen und mit einem erdrückenden Gewicht auf dem Brustkorb, ging ich zur Eingangstür und klopfte.