Fünfzehn
Micah
Natürlich war der Mann, der die Tür öffnete, nicht der neunzehnjährige Junge aus meinen Erinnerungen und die Worte flohen bei seinem Anblick aus meinem Kopf. Er sah schockiert aus, seine dunklen Haare zerzaust, seine Augen eulenhaft hinter seiner Brille und sein Mund stand offen. Ich konnte die Narben auf seinem Gesicht sehen, die Verdrehungen von Brandnarben, die von glatt zu zerklüftet wechselten, von seinem linken Wangenknochen zu seinem Kiefer. Ich erinnerte mich daran, wie ich meine Hände über das Feuer gelegt hatte, das an seiner Haut fraß, die Flammen erstickt hatte, damit er nicht starb. Ich erinnerte mich an seine Schreie und sie hatten mich nie verlassen.
Mein Selbstbewusstsein verabschiedete sich und das zeigte sich wahrscheinlich deutlich in der Art, wie ich zurücktaumelte. Ich fing mich im letzten Moment und ich konnte schwören, dass ich ein Aufblitzen von Traurigkeit in seinen Augen sah. Dann verschwand sie und an ihre Stelle trat ein kühles Willkommen.
Chris trat von der Tür zurück und öffnete sie weit. „Mann, wenn das nicht Micah Lennox ist. Ich habe mich gefragt, wann du endlich herkommen würdest.“
„Chris“, war alles, was ich sagen konnte.
„Komm rein“, sagte er und drehte sich um, ging den Flur entlang in die Küche. Er hatte Handläufe, die auf beiden Seiten an der Wand angebracht waren, benutzte sie, um sich schnell zu bewegen. Ich schaute auf sein rechtes Bein. Er trug eine abgeschnittene Jogginghose und ich konnte seinen Stumpf sehen. Das Ergebnis dessen, was ich getan hatte, vor Augen zu haben, war schlimmer als jeder Schrecken, den ich mir vorstellen konnte und Scham breitete sich in mir aus.
Ich habe ihm das angetan .
„Steh nicht einfach da und lass die Kälte rein“, rief Chris mir zu. Ich folgte ihm ins Haus, schloss die Tür und fragte mich, was zur Hölle ich als Nächstes tun sollte. „Zieh deinen Mantel und die Schuhe aus, ich mache Kaffee. Oder möchtest du Bier?“
„Es tut mir leid, ich weiß nicht, was ich hier mache. Ich weiß, dass ich Daniel versprochen habe, dass ich nicht zurückkommen würde, aber ich bin hier und, verdammt, ich wollte dich einfach nur sehen.“
„Kaffee oder Bier?“, wiederholte er, ignorierte meine leidenschaftliche Rede und die Entschuldigung, dass ich wieder in Whisper Ridge war, gleich mit.
„Chris—“
„Such dir ein verdammtes Getränk aus, Micah! Das ist keine schwierige Frage.“
„Kaffee“, sagte ich und räusperte mich dann, als meine Stimme brach.
Ich zog meine Schuhe aus und hängte meinen Mantel auf den Haken, tappte dann den Flur entlang ihm nach, kam an einer Wand mit Bildern in nicht zusammenpassenden Rahmen vorbei und weigerte mich zu schauen, ob dort welche von vor dem Unfall hingen. Ich hatte bereits klare Bilder davon, wie Chris ausgesehen hatte und die Erinnerung daran, wie er brannte, sein Bein bei dem Unfall zerschmettert.
Und seine Schreie.
Ich zögerte vor der Küche, hatte keine Ahnung, was ich tun oder sagen sollte oder warum zur Hölle ich überhaupt hier war.
Du bist für Rachel hier. Du willst sicherstellen, dass er deine Sünden nicht deiner Schwester und ihrer kleinen Familie anlastet .
„Kaffee.“ Chris hielt die Tasse gerade außerhalb meiner Reichweite und danach zu greifen, führte dazu, dass ich die kleine Küche betrat. Mit einer geschmeidigen Bewegung, die nicht vermuten ließ, dass er nur ein Bein hatte, schlüpfte er an mir vorbei und nahm meinen Platz an der Tür ein. Mit einem Mal war ich in dem kleinen Raum gefangen, ohne einen Ausweg zu haben.
„Danke“, meinte ich, sogar als jeder Muskel in mir sich zur Flucht anspannte. Er rührte sich nicht vom Fleck.
„Was willst du?“, fragte er, nicht anklagend, sondern neugierig.
„Es geht um Rachel. Ich muss dich um etwas bitten und ich weiß, dass es sich um einen Gefallen handelt, aber kannst du das außer Acht lassen und sehen, dass dies alles für Rachel ist?“
Gott, das klang so albern. Wir hatten so ein gewaltiges Ding zwischen uns sitzen, das eiterte wie eine offene Wunde und ich erzählte ihm, dass ich hier war, um ihn um einen verdammten Gefallen zu bitten?
„Jesus, Micah, beruhige dich.“
Aber ich konnte mich nicht beruhigen. Ich war vollkommen durcheinander und mir war klar, dass er das genauso gut sehen konnte, wie ich es fühlte.
„Ich habe dir geschrieben“, platzte ich heraus. Briefe aus dem Gefängnis, bettelnd, bittend, dann voller Schuld und das schien mir ein guter Anfang zu sein für alles, was ich sagen musste.
„Ich weiß.“ Er lehnte sich an den Türrahmen und verschränkte seine Arme vor seinem Brustkorb. Ich sah, dass er nichts zu trinken hatte. Da ich mich im Nachteil fühlte, stellte ich meinen Kaffee auf die Arbeitsplatte, wo er seinen gelassen hatte.
„Ich wollte nur, dass du weißt …“
„Dass es dir leidtut“, sagte Chris. „Ich musste deine Briefe nicht lesen, um zu wissen, dass darin stehen würde, dass es dir leidtut.“
„Oh.“ Wie sollte ich darauf antworten? Er starrte durch mich hindurch und ich fühlte mich heiß, beschämt, wütend und traurig, alles gleichzeitig. Die Wut war ganz auf mich selbst gerichtet.
„Ich habe dich gehasst“, sagte er mit Nachdruck. Ich suchte nach Abscheu in seinem Gesichtsausdruck oder Wut, aber seltsamerweise war er ruhig, fokussiert und hielt meinen Blick fest.
„Es tut mir so leid.“ Was sonst konnte ich sagen? Es tat mir leid. Dass ich die Schlüssel und das Auto genommen hatte, dass ich meinen Freunden zugestimmt hatte, in das verdammte Ding zu steigen und zu versuchen, über die Brücke zu springen. Ich war mehr als fertig, ich wurde von Reue verschlungen und das würde immer so sein. Es war eine Schwärze, die nie zu vergehen schien, ganz egal wie sehr ich mir einzureden versuchte, dass ich ein dummes Kind gewesen war.
Ich war neunzehn gewesen. Alt genug, um keine dämlichen Risiken einzugehen.
„Gott, ich habe dich so sehr gehasst.“ Chris schüttelte seinen Kopf.
„Ich habe es verdient.“
Er ignorierte mich und redete weiter. „Jeden Tag, den ich voller Schmerzen aufgewacht bin, habe ich mir gewünscht, ich könnte sterben, ich habe gefleht, zu dem Unfall zurückkehren zu können und dich dazu zu bringen, mich im Auto zu lassen.“
„Was zur Hölle?“ Das Auto hatte gebrannt, die Flammen waren um uns herum hochgeschlagen. „Du wärest bei lebendigem Leib verbrannt worden. Ich hätte dich niemals verbrennen lassen.“ Das Entsetzen bei dem Gedanken raubte mir den Atem. Ich wäre in dieses Auto gegangen, selbst wenn es kurz vor der Explosion gewesen wäre. Ich hätte alles getan, um Chris und Isaac zu befreien.
„Du verstehst es nicht. Ich bin im Krankenhaus aufgewacht und mein Bein war weg und alles, was ich je gewollt hatte, war auch weg. Mein Leben war weg. Meine Freundin, du erinnerst dich an Susie? Weg. Die Schmerzen, zur Hölle, so etwas hatte ich noch nie erlebt, mein Gesicht war vernarbt, die Gehirnerschütterung und dann, das Schlimmste, die Phantomschmerzen, wenn ich versuchsweise mit den Zehen wackelte und da nichts war. Weißt du, was direkt nach dem Unfall ankam? Als ich noch im Koma lag? Ein Brief, der mich zum Probetraining fürs Baseball einlud. Und ich war im Bett und ich konnte mich nicht bewegen und der Schmerz war unerträglich. Mom hat mir den Brief vorgelesen, als ich aufgewacht bin und sie hat die ganze Zeit über geschluchzt. Ich habe dich verabscheut und ich wollte unbedingt sterben. Wusstest du, dass ich sogar Tabletten genommen habe? Eine Überdosis Schmerzmittel, die Dad für seinen Rücken mit nach Hause genommen hatte? Ich habe versucht, den Schmerz zu beenden und die Physiotherapie und die endlose Schwärze meiner Zukunft. Ich hätte auch Erfolg gehabt, wenn Daniel mich nicht gefunden hätte.“
Jedes Gramm Energie verließ mich und ich sank gegen die Arbeitsplatte. „Verdammt—“ Ich dachte nicht, dass ich die Kraft hatte, dagegen anzukämpfen. Es war das, was ich erwartet hatte und verdiente.
Aber Chris war noch nicht fertig, darum stählte ich mich für mehr.
„Ich habe mir eingeredet, dass alles deine Schuld war.“ Er atmete heftig aus. „Ich habe die Briefe nicht geöffnet, weil ich deine Entschuldigung nicht lesen wollte. Du hättest mich beinahe umgebracht und ich hatte mein Bein verloren. Es war alles deine Schuld .“
„Ich weiß. Jesus, ich weiß.“
„Nein, du weißt gar nichts, weil ich falsch lag, Micah. Und rate mal? Meine Familie ließ mich nicht sterben, sie zogen mich zurück und ich fing langsam an, zu begreifen, was passiert war. Ein Unfall, Micah, es war nur ein verdammter Unfall und er wäre nicht passiert, wenn ich aufgehört hätte, dich dazu herauszufordern, dich mir zu beweisen.“
„Du hast nicht—“
Er ließ mich nichts sagen.
„Ich habe damals deine Briefe dennoch nicht geöffnet, denn obwohl alle auf Ein-Mann-Missionen gegangen sind, um sicherzustellen, dass ich sah, dass du für das, was passiert ist, bezahlt hast, stimmte das nicht. Wie konntest du je für etwas bezahlen, dass nicht deine Schuld war? Verdammt . Es war nicht deine Schuld.“
„Das war es, ich habe das Auto genommen und es gefahren, ich habe Isaac umgebracht und dein Leben zerstört“, schnappte ich, weil es meine Bürde war , alles war meine Schuld. Wer zur Hölle war Chris, dass er mir sagte, was ich fühlen sollte und was nicht?
„Erinnerst du dich an diese Nacht?“, fragte Chris geduldig.
„Natürlich tue ich das.“ Jeden. Einzelnen. Moment.
„Wir waren die Könige der Welt“, sagte Chris und er war in Erinnerungen verloren. „Drei beste Freunde am Weihnachtsabend, nichts konnte uns etwas anhaben und als du mit dem Auto gekommen bist, wollten ich und Isaac unbedingt bei allem dabei sein, was du machst. Wir waren immer zusammen, daran erinnerst du dich.“
Ich war froh, dass die Arbeitsplatte mich aufrecht hielt. Chris löste seine Arme und seine Hände waren zu Fäusten geballt. Ich wollte, dass er mich schlug, wie Daniel es getan hatte. Vielleicht würde ich dann anfangen, eine Art Frieden zu verspüren. Gewalt gegen mich als Kind hatte mir gezeigt, dass man die Dinge so in Ordnung brachte. Ich brauchte das jetzt.
Stattdessen flüsterte ich nur: „Ich erinnere mich.“
„Du bist beim ersten Mal über den Whisper Ridge Creek gesprungen und glatt auf den Reifen gelandet und es war das beste Gefühl der Welt. Ich war high, so sehr habe ich es geliebt.“
„Ja.“
Chris lächelte. „Ich habe dir gesagt, dass du es noch mal machen sollst.“
Ich nickte. Chris war immer der ausdrucksstärkste von uns gewesen, ein Stromkabel, zu Großem bestimmt, vielleicht sogar dazu, eines Tages für unsere geliebten Chicago Cubs zu spielen. Er wäre ein Millionär und würde einen Jet haben und diesen Jet mit Mädchen füllen und ein paar zusätzlichen Jungs, nur für mich. Er hatte das gesagt und er hatte immer recht. Und in dieser Nacht hatte er mir gesagt, dass ich noch einmal fahren sollte. Aber das hieß nicht, dass ich es tun musste.
„Und du erinnerst dich daran, dass Isaac geschrien hat, dass du fahren sollst und ich habe zu ihm zurückgeschaut und er saß auf dem Rücksitz, grinste wie ein Irrer. Er war total betrunken und so verdammt glücklich.“
„Chris, bitte—“
Mir war schlecht, ich wollte unbedingt, dass Chris aufhörte zu reden. Ich erinnerte mich an jede schreckliche Sekunde, wie ich auf der Nebenstraße beschleunigte, auf die kaputte Brücke zu, mit der absoluten Sicherheit, dass ich das Holz genau richtig erwischen würde und wir erneut über den Bach springen würden, der das Lennox und Sheridan Land trennte. Ich hatte es gerade gemacht, es war nichts, ein Sprung von einem Meter, den wir, als wir kleiner gewesen waren, jeden Tag mit unseren Rädern gemacht hatten und das Auto rumpelte und knurrte die Straße entlang zu unserem Ziel. Wir trafen das Holz genau und es fühlte sich an wie zuvor. Wir flogen.
Gott, wie wir geflogen sind .
Als ich meinen Fokus von diesen Erinnerungen losriss, verschwand meine Fähigkeit zu stehen und ich glitt an dem Küchenschrank nach unten, bis ich auf dem Boden saß, meine Beine nach oben gezogen und meine Arme um sie geschlungen.
Chris gab einen Laut von sich. Lachte er? Wie konnte er lachen, wenn er sich an das erinnerte, was geschehen war? Lachte er darüber, wie armselig ich war, auf dem Boden zusammengerollt? Ich hob den Blick, aber er lachte nicht, er weinte und lächelte gleichzeitig.
„Ich erinnere mich an das letzte Mal“, sagte er und wischte sich die Tränen fort. „Ich habe zu Isaac geschaut, gerade als wir abgehoben sind und er war high vor Freude.“ Er setzte sich mir gegenüber auf den Boden. „Das Holz der Brücke war verrottet, es gab nach, das Auto verlor die Haftung, Micah. Du konntest die Drehung nicht kontrollieren, wir waren in der Hand des Schicksals.“
Manchmal träumte ich von dem Moment, als alles schiefging und in einigen dieser Träume schaffte ich es, das bockende Bewegungsmoment des Autos zu kontrollieren und es sicher zu landen. Wenn ich aus diesen Träumen aufwachte, in denen niemand starb, weinte ich vor Erleichterung, bis mir klar wurde, dass es nur eine Illusion war.
In diesem Moment wusste ich nicht, was ich sagen sollte.
Chris hatte immer noch Tränen in den Augen. Ich wünschte, ich hätte weinen können, aber ich war innerlich leer.
„Ich habe dich für eine lange Zeit gehasst, habe dir die Schuld an allem gegeben, meinen Karrierechancen, die futsch waren, der Tatsache, dass ich mein Bein verloren hatte, aber weißt du was? Der Unfall war nicht deine Schuld, wir alle wollten in diesem Auto sitzen und als es passiert ist, hast du Isaac herausgezogen und dein eigenes Leben im Feuer riskiert, um mich zu retten. Du hast mich aus dem Feuer gezogen, als ich bei lebendigem Leib hätte verbrennen können und du hast mir eine zweite Chance zu leben gegeben.“
„Wir hätten nicht in diesem Auto sein sollen“, sagte ich, wollte, dass Chris zugab, dass dies alles passiert war, weil ich das Auto ausgeliehen hatte. Es gestohlen hatte .
„Aber das waren wir und wir waren Kinder. Ich hätte derjenige sein können, der fuhr, wenn ich nicht dieses Bier getrunken hätte. Ich war derjenige, der Daniels Auto fahren wollte. Ich war eifersüchtig, weil er den Chevy hatte und ich wollte nur über die Brücke springen. Du hättest nicht fahren sollen. Wenn ich den Unfall gebaut hätte, bin ich mir nicht so sicher, ob ich so tapfer gewesen wäre, um zurück in die Flammen zu gehen.“ Er beugte sich zu mir und griff nach meinem Arm, schob die Ärmel des Oberteils zurück und entblößte den verdrehten Knoten Narben dort. Ich ließ zu, dass er mich berührte, er hatte sich das Recht verdient, den Beweis zu sehen.
„Du wärst reingegangen“, verteidigte ich ihn. „Jeder von uns wäre zurückgegangen, wenn er gedacht hätte, er könnte damit die anderen retten.“
Er glitt mit seiner Hand nach unten und verflocht unsere Finger, was sich falsch anfühlte, aber ich entzog ihm meine Hand nicht. Wenn er sie halten wollte, würde ich nichts einwenden.
„Ich habe dich vermisst“, sagte er und stieß mich mit der Schulter an. „Isaac war tot, du warst fort und ich war allein. So lange Zeit waren es nur wir drei gewesen und dann war es plötzlich nur ich und ich wollte sterben und für eine lange Zeit habe ich, ja, gehasst, was du getan hast. Dann habe ich Bonnie kennengelernt.“
„Eine feste Freundin?“
„Nein, sie war viel zu gut für mich“, sagte er mit einem Lächeln. „Sie lag in dem Zimmer neben meinem, unser Alter, Leukämie, ein wunderschönes Mädchen, die meine absolute Überzeugung, dass ich sterben wollte, durchschaute und es mir auf den Kopf zugesagt hat.“
Er neigte seinen Kopf nach hinten gegen den Küchenschrank. „Weißt du, sie war dabei zu sterben und sie hatte keine zweite Chance. Ich könnte sagen, dass ich irgendwie eine Erleuchtung hatte, als sie starb, aber das ist damals nicht eingetreten.“ Er hielt inne und ich schaute zu ihm, dann zurück auf unsere verflochtenen Hände. „Es passierte an dem Tag, als ich in mein Zimmer auf dem College gezogen bin. Ich hatte mich nicht einmal einschreiben wollen, zur Hölle, ich habe die Schule gerade so geschafft, aber du weißt ja, besondere Behandlung für das kaputte Kind und all das.“
Dann lachte er, als ob das so verdammt lustig wäre. „Daniel und Scott haben mir geholfen, die Anträge auszufüllen, für Unis, wo ich immer noch Baseball spielen konnte, es gab Ligen für Amputierte, es gab Unterstützung und Hoffnung. Dann hatte ich in mir keinen Platz mehr, um dich zu hassen. Ich habe dir jedes Mal, wenn ich mich schlafen gelegt habe, dafür gedankt, dass du mich aus dem brennenden Auto gezogen und es mir so ermöglicht hast, den Rest meines Lebens zu haben.“
Tränen brannten in meinen Augen, ich war mir nicht sicher, ob es Tränen der Schuld oder Scham oder des Mitleids waren. Ich wusste nur, dass ich die Hand meines besten Freundes hielt und dass er irgendwie, in der Verrücktheit von allem, mich nicht hasste.
„Ich habe dann versucht, dich zu finden, so sehr mir Dinge wie Google helfen konnten und deine Schwester, ich habe sogar Amy und Jeff gefragt, wo du warst, aber sie haben gesagt, dass sie es nicht wissen. Ich weiß, dass du ihnen Geld geschickt hast, Jeff war sehr offen darüber, wie er dachte, dass du dein Geld verdienst, aber er weigerte sich, mir eine Adresse oder so etwas zu geben. Gott weiß, wen sie damit bestrafen wollten.“
„Ich habe ihnen gesagt, dass sie nicht mitteilen sollten, wo ich war. Ich bin überrascht, dass sie es dir nicht erzählt haben, es wäre eine Möglichkeit gewesen, die Familie von der Schuld des Mordes zu reinigen.“
Ich meinte es halb im Scherz, aber es klang falsch. Ich wartete darauf, dass Chris enttäuscht sein würde, aber das war er nicht, er sah mich einfach mit einer hochgezogenen Braue an und ich schämte mich wieder.
„Ich habe weiter versucht, dich zu finden, Google hat versagt und du und deine Schwester, ihr wart beide verschwunden. Ich habe aber weitergesucht, habe dich endlich gefunden, als Lehrer in einem Pferdetrainings- und Unterrichtsprogramm auf einer Ranch, aber als ich am nächsten Tag wieder nachgesehen habe, hatten sie die Seite mit dir gelöscht.“
Das war ziemlich einfach zu erklären. An dem Tag, als ich die Infos über mich auf der K-Webseite gefunden hatte, war ich wütend gewesen. Ich wollte nicht, dass irgendjemand wusste, wo ich war. Die einzige Person, die meine Nummer hatte, war Rachel und nur, weil ich sie an dem Tag, als ich aus dem Gefängnis kam, auf dem College gesucht und ihr dann eine Nachricht auf dem Handy hinterlassen hatte. Sie hatte nicht zurückgerufen oder abgehoben, aber ich nahm das alte Nokia mit derselben Nummer überallhin mit, nur für den Fall. Ich war ihr großer Bruder und ich wollte, dass sie wusste, dass ich für sie da war, wenn sie mich brauchte.
Chris unterbrach meine Erinnerungen mit einem Stupser. „Ich habe aber den Namen der Ranch aufgeschrieben und dir einen langen Brief geschrieben.“
„Das hast du? Scheiße, den habe ich nie bekommen.“
„Ich habe einen Brief geschrieben. Ich habe nicht gesagt, dass ich ihn verschickt habe.“ Chris kicherte und lehnte sich wieder an mich, ehe er unsere Finger löste, geschickt aufstand, die Arbeitsplatte als Stütze benutzte. Er nickte in Richtung seines Kaffees. „Bring den mit, ja?“
Ich beeilte mich aufzustehen, viel weniger anmutig als Chris. „Warte! Warum hast du ihn nicht geschickt?“
Er ging in sein Wohnzimmer und ich folgte, wir beide setzten uns auf Stühle, die Kaffeetassen standen auf dem Tisch zwischen uns.
„Als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, habe ich dieses ausschweifende Essay geschrieben, dass ich versuchen würde, dir zu vergeben. Es war ein selbstgerechter, ich bin so viel besser als du Brief, aber verurteile mich nicht, ich war neunzehn und ich schrieb, was ich musste, um das Gift loszuwerden. Den habe ich auch nie geschickt. Aber dieser neue Brief war anders, weil ich in meinem Herzen wusste, dass keiner von uns Schuld hatte. Nicht ich, weil ich dich wegen deiner Beziehung zu Daniel verarscht und dich gezwungen habe, dich zu beweisen, indem du seine Schlüssel nimmst. Oder weil wir all das Bier getrunken haben oder dass Isaac uns angestachelt hat, nachdem ich die Brücke erwähnt habe. Wir waren Kinder, Micah. Nur Kinder.“
Irgendein namenloser Knoten in mir löste sich bei seinen Worten. Ich kannte Chris und ich glaubte, was er sagte.
Wir redeten eine Weile, die Worte kamen manchmal gestelzt. Wir waren beste Freunde gewesen, seit wir beide wussten, was ein Freund war, aber jetzt waren wir beide erwachsen, beide wurden wir bald dreißig und eine Menge Zeit war vergangen.
„Jetzt wo du da bist, wirst du wieder mit Daniel zusammenkommen?“, fragte Chris, als ich mir den Mantel anzog, um zu gehen. Die Frage erwischte mich kalt.
„Nein. Ich bleibe nicht lange in der Stadt.“
„Schade“, sagte er.
„Ich bin mir nicht sicher, ob Daniel mich wirklich hier haben möchte.“
„Ihm geht es nicht gut, aber er ist vor ein paar Monaten zurückgekommen, hat das Henderson Haus gekauft.“
„Das Spukhaus?“
„Genau das. Jedenfalls, wenn du ihm etwas Luft lässt, wird er dich bald wieder nerven, wie er es früher getan hat.“
Die sensorische Erinnerung an unsere Küsse kitzelte mich. „Keine Chance, dass das passiert“, sagte ich und tippte an meine Lippe, dort wo sie verheilte.
„Um ehrlich zu sein, könnte Daniel im Moment Ablenkung gebrauchen.“
Als ich ging, war es beinahe Mitternacht und der Schnee lag schwer auf dem Boden und in der Luft. Chris umarmte mich und ich erwiderte die Umarmung. Die Schuld blieb toxisch in meiner Seele, aber seine Worte kämpften um Raum und ich fragte mich, ob ich eines Tages die Art Frieden kennen würde, die er geschafft hatte zu finden.
Das Bier reichte aus, um die Konfrontation mit meinem Dad weniger schlimm zu machen.
Ich war zu meinem üblichen Versteck gegangen, dem Haus der Sheridans. Nur, dass sie alle unterwegs waren, mit Ausnahme von Daniel und war das nicht wirklich blöd.
„Du bist zu Hause“, sagte ich, als ich in ihre Küche taumelte, das Bier in der Hand.
„Wow, du hast eine gute Beobachtungsgabe“, kommentierte Daniel und las weiter in dem riesigen Buch, das ihn in seinem Bann zu haben schien. Der Küchentisch war mit Notizbüchern bedeckt und einer Packung Marker und ich konnte nur daran denken, dass Daniel so verdammt gut aussah.
Sexy. Faszinierend. Und alles, was ich je wollte.
Was offensichtlich der Grund war, warum ich jetzt kaum ein vernünftiges Wort herausbrachte.
„Ja, also … wie läuft es auf dem College?“
Daniel schaute mich über seine Lesebrille hinweg an und ich konnte nicht umhin zu denken, dass er meinen Mangel an interessantem Gesprächsstoff verurteilte.
„Gut“, sagte er und nahm seine Brille ab. „Noch ein Jahr und ich bin mit dem Grundstudium fertig.“
„Und was dann?“ Ich wusste, dass Daniel sein ganzes Leben geplant hatte. Er hatte sich sein College für das Grundstudium ausgesucht, war auf ein medizinisches College gegangen und wollte seine Zeit als Assistenzarzt in einem Krankenhaus weit weg von hier absolvieren. Zumindest hatte Chris mir das erzählt.
„Medizinstudium, Assistenzarzt, nach Hause.“ Die Liste war immer dieselbe, am Ende kam Daniel nach Hause nach Whisper Creek, um mit seinem Vater in der Familienpraxis zu arbeiten, sie eines Tages zu übernehmen, damit sein Dad sich zur Ruhe setzen konnte.
„Cool.“
Ich wich rückwärts aus der Küche, um zu gehen, und ehe ich mich versah, folgte er mir aus dem Haus, schloss die Tür hinter sich ab.
„Ich brauche frische Luft“, verkündete er und irgendwie fingen wir an, nebeneinander zu gehen. Wir kamen zum Henderson Haus, dem Spukhaus und in stummer Einigkeit betraten wir das Durcheinander des Gartens, durch dieselbe Lücke im Zaun wie immer und ohne zu Zögern marschierten wir zu dem Baum in der Mitte, der von dem Chaos aus Gräsern und Büschen umgeben war.
Wir redeten nicht, doch als er mich an sich zog und gegen den Baum drückte und mich küsste, stand meine Welt auf dem Kopf.
Daniel zu küssen war so unvermeidlich wie der Sonnenaufgang und ebenso dramatisch. Ich küsste mit jedem Teil von mir, war hart, brauchte etwas. Wir machten es, direkt an dem Baum, ich kam in meiner verdammten Hose und Daniel? Er hielt seinen Schwanz und schloss meine Hand über seiner und ich fühlte das Pulsieren, als er kam.
Und es war so richtig.
Ich fuhr auf dem Weg zurück zur Ranch an dem Henderson Haus vorbei, mit seinem geisterhaften Erscheinungsbild und seinem dichten Gestrüpp.
Warum hatte Daniel das Haus gekauft? War es Anerkennung dessen, was dieser Ort für uns als Kinder bedeutet hatte oder ging es um den Garten oder hatte er es als Fick dich gegen das getan, was hier passiert war?
Wer zur Hölle wusste das?