Sechzehn
Daniel
Chris betrat mein Haus, ohne zu klopfen. Die ganze Familie hatte Schlüssel, aber sie könnten wenigstens anklopfen.
„Komm einfach rein, ja? Was, wenn ich in Gesellschaft wäre?“, fauchte ich meinen Bruder an, als er es sich auf meinem einzigen Küchenstuhl bequem machte.
„Wie du meinst. Hör zu, ich habe letzten Abend mit Micah geredet“, verkündete Chris. Ich war für die Praxis bereits spät dran, aber das reichte aus, um mich zum Innehalten zu bringen. Warum sollte Chris mit Micah reden? Was konnten diese beiden sich schon zu sagen haben?
„Ja?“ Ich versuchte, nicht interessiert zu klingen, und Chris schnaubte.
„Er war mein bester Freund, als ich ein Kind war, Daniel. Er war zu mir gekommen, etwas wegen eines Gefallens für Rachel. Ich habe ihm keine Chance gegeben und ich habe ein paar Dinge richtiggestellt. Wie, dass ich ihm nicht die Schuld gebe und dass ich, er und Isaac Kinder waren und dass ich glücklich bin.“
Ich konnte nicht glauben, was ich hörte und eine vertraute Traurigkeit packte mich. Was war los mit den Leuten, dass sie herumgingen und Dinge akzeptierten und Vergebung für vergangene Verbrechen anboten? Das Gewicht auf meinem Brustkorb war intensiv, meine Atmung behindert und ich konnte durchaus sehen, dass ich eine plötzliche Panikattacke bekommen würde. Ich hatte ihn geküsst, hatte Gefühle für ihn und die ganze Zeit über hatte er vorgehabt, mich zu hintergehen und mit Chris zu reden?
„Verdammt“, sagte ich, als ich zu Atem kam. „Warum solltest du so etwas überhaupt zu ihm sagen, Chris—?“
„Hör auf.“ Chris legte seine Hand flach auf meinen Brustkorb. „Atme.“
Ich versuchte zu atmen, aber alles, was ich vor meinem geistigen Auge sehen konnte, war Chris im Krankenhaus, wie er weinte, als er aufwachte.
Chris, der versuchte, Selbstmord zu begehen.
„Du musst mit ihm reden“, murmelte mein Bruder und bewegte seine Hand nicht. „Ich glaube, dass du das, was in der Notaufnahme mit dir passiert ist, mit dem Unfall vor neun Jahren verwechselst. Du musst Micah vergeben und dir selbst und einen klaren Kopf bekommen.“
„Ich kann das in meinem Kopf nicht trennen.“
„Das ist eigentlich ganz einfach. Wir alle wissen, dass du ihn geliebt hast.“
„Ich war zweiundzwanzig. Ich wusste nicht, was Liebe ist. Wir waren nur zwei Typen, die sich gegenseitig einen herunterholten.“ Ich war vulgär, wahrscheinlich in der Hoffnung, Chris dazu zu bringen, mich in Ruhe zu lassen, aber er hörte nicht auf. Zumindest begann meine Atmung, sich zu beruhigen.
„Es spielt keine Rolle, wie alt du warst, du musst dich mit dem, was passiert ist, auseinandersetzen.“
„Das habe ich. Das tue ich.“
„Nein, hast du nicht. Und du tust es nicht.“
Ich drängte mich an Chris vorbei, um ihn wegzustoßen, hielt ihn für den Fall, dass er stürzte, noch als ich die Bewegung ausführte. Er schüttelte mich ab.
„Du kannst so viel dagegenhalten, wie du möchtest und du musst mich nicht mehr davor bewahren zu fallen, großer Bruder. Reiß dich zusammen und rede mit jemandem.“
„Ich gehe zu einem verdammten Seelenklempner.“
„Ich meinte aus deiner Familie. Du hast es vermieden, mit mir zu reden, seit du nach Hause gekommen bist. Rede mit uns.“
„Wie du es nach dem Unfall gemacht hast?“, fauchte ich.
„Ich habe mit euch allen geredet. Ich habe meiner Familie vertraut.“
„Nein, hast du nicht! Du hast versucht, Selbstmord zu begehen!“
Das war das Furchtbarste, was ich zu meinem Bruder sagen konnte und es schmerzte, als ich es aussprach, aber es war Teil des Giftes in mir. Ich wollte, dass er wütend auf mich war, ich sehnte mich nach einer Konfrontation, damit ich echte Emotionen unter Wut begraben konnte.
„Nett.“ Chris’ Ton war voller Sarkasmus. „Ist das alles, was du hast?“
Ich wollte unbedingt, dass er auf mich losging, wie ich es mit Micah an Isaacs Grab getan hatte, dass er seiner Aggression und Wut über das, was ich gesagt hatte, freien Lauf ließ. Er stand nur da und schüttelte seinen Kopf, lächelte traurig, als ob er überhaupt keine Wut in sich tragen würde.
„Scheiße“, murmelte ich. Jedes bisschen Adrenalin verließ mich in einem Sturzbach.
„Ja, bist du.“
„Chris—“
„Du bist zurück aufs College gegangen, du hattest eine Karriere, du bist abgehauen und du hast es jeden einzelnen Tag, den ich dich gesehen habe, vermieden, über den Unfall zu reden. Jetzt bist du wieder da und kannst es immer noch nicht ertragen, mich anzusehen. Sind es die Narben? Oder die Tatsache, dass ich mein Bein verloren habe? Wird dir schlecht, wenn du mich ansiehst?“
„Was? Nein!“, sagte ich schockiert.
„Dann rede mit mir, rede mit uns und verdammt noch mal, hör auf dir Sorgen über Scheiße zu machen, die vor neun Jahren passiert ist und stelle dich den realen Problemen, die von dem Zwischenfall im Krankenhaus herrühren.“
Und dann ging er. Ich sah von meiner Eingangstür aus zu, wie er in sein Auto stieg und wartete auf eine Art Verstehen, was zur Hölle gerade passiert war.
Ich hatte mit jemandem geredet, nach der Sache im Krankenhaus, mit derselben Frau, die mir gesagt hatte, dass ich die klassischen Anzeichen von PTSD zeigte und mir dessen bewusst sein musste. Die ganze Sache war vom Krankenhaus als Teil ihrer Versicherung angeboten worden und ich ging zu ein paar Terminen. Zumindest den verpflichtenden. Ich hatte keinen Experten gebraucht, der mir sagte, dass ich unter Schock stand oder dass ich voller Trauer und Entsetzen war wegen dem, was geschehen war. Die Leute mussten mich nur in Ruhe lassen und ich würde es überwinden oder zumindest irgendwo verstecken, wo es keine große Rolle spielte.
Hier in Whisper Ridge mit einem neuen Therapeuten anzufangen, mit Devin, jemandem, der die Stadt und die Familien kannte, war eine andere Art der Therapie gewesen, aber es funktionierte.
Die Wasser waren trüb. Würde ich diese Gefühle der Hilflosigkeit und Furcht je überwinden und hatte Chris recht? War ich je an einem Punkt angelangt, wo ich mich mit seiner Verletzung abgefunden habe? Hatte ich das über die PTSD vergessen?
Ein Text von Scott unterbrach meine Gedanken. Er sagte, dass ich ihn an diesem Abend zu Hause besuchen sollte, um über den Deal zu reden das Lennox Land zu kaufen.
Ich konnte nicht wirklich Nein sagen, weil ich, genau wie der Rest der Sheridan Geschwister, vor fünf Jahren in Sheridan Properties investiert hatte. Es war unsere Geste des Vertrauens auf Scott und seine Fähigkeit, jedem alles verkaufen zu können und die Tatsache, dass er an seinen Projekten auch selbst mitarbeitete. Sein Mantra war, dass wenn es gebaut werden konnte, er wissen wollte wie. Die Firma war ein Erfolg, die Investition solide und er hatte ein Team, das an meinem Grundstück arbeitete.
Sobald ich mit der Arbeit fertig war, fuhr ich zu Scott, aber ich wäre beinahe nach links abgebogen, als ich Mom durch die Vorhänge linsen sah. Ich hatte nichts, worüber ich mir Sorgen machen musste, sie reagierten über und sie mussten mich in Ruhe lassen. Jetzt war meine Chance, ihnen das zu sagen und vielleicht konnte ich Chris davon überzeugen, dass ich kein komplettes Arschloch war.
„Ihr habt lange genug gebraucht“, sagte ich, als ich durch die Tür trat. Sie waren alle da und ich wollte wetten, dass wenn sie es versucht hätten, sie Mark, der weit weg auf dem College war, über Facetime dazuschalten hätten können.
Scott reichte mir einen Kaffee. Das war zumindest etwas. Wenigstens hatte ich eine heiße Tasse, hinter der ich mich verstecken konnte. Ich setzte mich auf den nächsten Stuhl und wartete, schätzte die Emotionen der Menschen ein, die um mich herum saßen. Michelle war ruhelos, ging die kurze Strecke zwischen dem Sofa und den Verandatüren hin und her, rieb sich dabei ihren unteren Rücken. Meine Augen wurden schmal, als ich sie musterte. Das Baby war eindeutig abgesunken. Sie wollte eine Hausgeburt und die Hebamme war auf Abruf, genau wie ich.
Der Teil von mir, der glaubte, dass die Geburt eine natürliche, friedliche Angelegenheit war, die zu Hause weniger stressig sein würde, kämpfte mit dem Arzt, der viel zu viel gesehen hatte, um zu wollen, dass Michelle sich so weit vom nächsten Krankenhaus entfernt befand.
„Geht es dir gut?“, fragte ich sie und sie nickte.
„Alles gut, Junior ist nur ruhelos, das ist alles.“
„Ich bin überrascht, dass sie dich herbestellt haben“, sagte ich und ignorierte den Rest der Familie, um mich nur auf sie zu konzentrieren.
„Das wollte ich auf gar keinen Fall verpassen, großer Bruder“, meinte sie und lächelte mich sanft an.
Dad räusperte sich. Offensichtlich war er der Sprecher für die Familie.
„Wir machen uns Sorgen um dich, Sohn“, fing er an.
Ich seufzte schwer.
Ich gab meine Standardantwort. „Das müsst ihr nicht. Es geht mir gut. Ich bin glücklich in Whisper Ridge und ja, ich bin ein Jahr früher hergezogen als im Großen Plan vorgesehen, aber das ist in Ordnung.“ Mir wurde klar, dass ich das Wort ‚gut‘ benutzte und das würde niemanden überzeugen. ‚Gut‘ war eines dieser Wörter wie ‚in Ordnung‘, das überhaupt nichts bedeutete.
Chris und Michelle tauschten einen Blick und es machte mich wütend, dass sie nicht wussten, womit sie anfangen sollten mit mir zu reden.
„Du erzählst uns gar nichts von dem, was in Charlotte passiert ist“, meinte Michelle schließlich. Chris nickte.
„Ihr habt die Nachrichten gesehen“, gab ich zurück.
„Vielleicht ist es an der Zeit, dass du uns deine Version erzählst“, hakte Mom nach. „Nur, damit wir einen Eindruck davon bekommen—“
„Wovon, Mom?“
„Vielleicht, wie du dich fühlst?“ Das kam von Michelle, die sich direkt mir gegenüber hingesetzt hatte.
„Was genau wollt ihr wissen? Huh?“
„Wie wäre es mit allem, Dummkopf?“, sagte Scott und mein Geduldsfaden riss.
„Ihr wollt wissen, wie viele Kugeln in der Wand steckten? Oder dass sich das Blut nicht von den zerschmetterten Fliesen hat abwaschen lassen? Oder dass ich meine Kollegin gehalten habe, sogar nachdem sie schon tot war?“ Ich blieb ruhig, als ich die Fragen stellte, aber ich konnte spüren, dass ich anfing, mich von meinen Gefühlen überwältigen zu lassen.
„Daniel!“, warnte Dad mich und ich nahm an, ich hätte Reue empfinden sollen, aber ich machte weiter.
„Schön, hier kommt es. Der Typ mit der Waffe, wir haben ihn gekannt, wir hatten seinen Bruder in der Woche zuvor behandelt, nicht ich, es war diese andere Ärztin, Julia — wir nennen sie Jules.“ Ich sollte diesen Satz wahrscheinlich korrigieren, ‚wir haben sie Jules genannt‘, weil sie jetzt tot war. Das musste ich aber nicht, weil jeder in diesem Zimmer wusste, dass Julia Maine gestorben war. So viel war in den Nachrichten berichtet worden, zusammen mit einem Bild von ihr, ihrem Ehemann und ihrer kleinen Tochter, die noch ein Baby war.
„Mach weiter“, ermunterte Chris mich. Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass ich aufgehört hatte zu reden, als ich mich an das Foto erinnert hatte. Julia war erst seit einer Woche wieder in der Arbeit gewesen und sie war getötet worden, von einem Mann, der sich den Weg durch die Sicherheitskontrollen mit Hilfe von Freundschaft und List erschlichen hatte.
„Emmet Hutton war mit seinem Bruder in die Notaufnahme gekommen. Julia hatte es geschafft, den Bruder zu retten, und er wurde entlassen. Emmet kam zurück, eine Woche später, mit Blumen und Schokolade. Sie haben ihn reingelassen …“ Ich hielt inne, um meine Gedanken zu ordnen. „Sein Bruder war tot, an diesem Tag bei einer Schießerei aus dem Auto von einer Gang getötet. Emmet hatte sich eingeredet, dass es unsere Schuld war, weil wir seinen Bruder so früh entlassen hatten und er wollte auf keinen von uns hören. Hielt mir eine Ewigkeit lang eine Waffe unter die Nase, richtete sie dann auf Jules’ Kopf und erschoss sie. Direkt vor mir.“
Ich warf einen Blick auf die Gesichter vor mir. Ich kannte jedes einzelne so gut und ich konnte ihre Reaktionen sehen, ihre kleinen Ticks lesen. Scott runzelte die Stirn. Er hasste es, in einer Situation nicht die Kontrolle zu haben. Michelle konnte mich nicht direkt ansehen. Chris hielt ihre Hand. Er machte das oft, Leute berühren, etwas, das er nach seinem Aufenthalt im Krankenhaus angefangen hatte, eine Art von Versicherung, dass er im Raum anwesend war, wie ich vermutete.
„Das Security-Team hatte gesagt, dass wir auf einen Unterhändler warten sollten, aber ich hatte andere Ideen. Ich meine, ich war ausgebildet und ich dachte, ich könnte zu ihm durchdringen. Ich versuchte, ihn zu beruhigen, erklärte, dass wenn jemand anderes starb, das den Verlust seines Bruders nicht ausgleichen würde. Er wurde mit jeder Sekunde nervöser und ich versuchte weiter, ihn zu beruhigen. Aber ich war nicht das Ziel, nach dem er suchte, Julia war es und er rief sie nach vorne. Ich hielt sie auf, schob sie hinter mich, aber sie blieb dort nicht. Wenn sie dortgeblieben wäre, hätte die Kugel vielleicht mich getroffen und sie würde immer noch bei ihrem Baby sein.“
Ich schloss kurz meine Augen. „Emmet wollte nicht mir ihr reden oder verhandeln, er wollte sie töten und er hat ihr ins Gesicht geschossen. Ich habe sie aufgefangen, als sie fiel.“ Ich strich über die Vorderseite meines Hemdes. „Das Blut war überall auf mir, auf dem Boden und ich hielt sie in meinen Armen, als er direkt vor mir die Waffe auf sich selbst richtete.“
Ich wollte meine Worte fühlen, ich wünschte mir, ich könnte mich mit ihnen verbinden, aber ich fühlte mich tot.
„Heilige Scheiße, Danny“, murmelte Scott.
„Die Polizei hat mir gesagt, dass es keine Rolle gespielt hätte, sogar wenn wir gewartet hätten. Emmet war eiskalt entschlossen gewesen, hatte Notizen und einen Brief bei sich zu Hause hinterlassen. Er hatte alles geplant, sich mit den Angestellten angefreundet, ihnen gedankt, weil sie sich um seinen Bruder gekümmert haben.“ Ich hielt inne und atmete durch den Schmerz in meinem Brustkorb.
„Jesus“, murmelte Chris.
„Aber es ist meine Schuld. Ich sehe uns dort stehen, eine Waffe auf uns gerichtet und ich bin so selbstbewusst, so verdammt arrogant, weil ich denke, dass ich es besser weiß, und ich habe mit dem Typen geredet und er hat sie erschossen. Darum spielt es keine Rolle, was die Polizei sagt, es hätte anders enden können.“
Ein Chor aus Lärm vermischte sich in meinem Kopf, als alle versuchten, einander zu übertönen. Endlich gewann die lauteste Stimme. Dieselbe, die uns immer dazu brachte, zuzuhören. Mom.
„Ihr alle, stopp!“, rief sie und ich musste es ihnen lassen, sie alle hörten mit ihrer vokalen Unterstützung dessen, was ich getan hatte, auf.
Sie wussten nicht genug, um mir zu sagen, dass es nicht meine Schuld war. Ich erinnerte mich an jede Sekunde und konnte sie in meinem Kopf in Zeitlupe abspielen. Ich konnte eine Person durch jedes Wort, jede Bewegung, jeden Fehler führen und am Ende war ich es, Doktor Sheridan, der es vermasselt hatte. Natürlich hatte meine Therapeutin in der Stadt mir gesagt, dass Schuldgefühle keine gute Sache waren. Aber es war der Wechsel zu Devin und die Gespräche mit ihm, die mich über den Klippenrand gestoßen hatten. Er verband meine Reaktion auf das, was an diesem Tag geschehen war, mit einem falschen Schuldgefühl wegen dem, was vor neun Jahren passiert war. Ich hatte das als Unsinn abgetan, aber der Gedanke, dass er vielleicht recht hatte, war in meinem Kopf, wand sich herum und nagte an mir.
„Denkst du, dass du damit leben musst?“, fragte Mom, oh, so sanft. Sie hatte wahrscheinlich Angst, dass ich zerbrechen würde, wenn sie die falsche Frage stellte und ja, ich war unglücklich und nervös, aber ich stand nicht kurz davor, die Kontrolle zu verlieren. Nicht bei meiner Familie.
Nun, zumindest nicht im Wohnzimmer von Scotts Haus.
„Es ist nicht so, dass ich mich dafür entscheide, damit zu leben. Ich tue es einfach, Mom.“
Sie nickte. „Das verstehe ich, Liebling.“
Meine Mom und mein Dad hatten mir und meinen Geschwistern beigebracht, dass eine Person es mit der Welt aufnehmen und gewinnen konnte, dass, wenn man es wirklich versuchte, man alles bekommen konnte. Sie hatten keine Aufgeber großgezogen und an manchen Tagen machte ich nur deswegen weiter. Ansonsten glaubte ich, wäre ich von Schuld verschlungen worden. So wie die Dinge laut meinem Therapeuten standen, hatte ich die Schuld wegen des Autounfalls, als ich jünger gewesen war, abgekapselt, sie den Gefühlen über Julias Tod hinzugefügt, dann alles beiseitegelegt und das ganze Chaos manifestierte sich in posttraumatischem Stress.
„Die Schuld der Überlebenden“, sagte Michelle und setzte sich neben mich, nahm meine Hand. Wir haben alles darüber gelesen.“
Natürlich hatten sie das. Höchstwahrscheinlich war es Dad, der Artikel oder Bücher gefunden und seine Tage damit verbracht hatte, Notizen zu machen, die er mit dem Rest der Familie diskutierte, genau wie er es gemacht hatte, als wir Chris nach dem Unfall aus dem Krankenhaus nach Hause geholt hatten.
„Eine wissende Person ist eine starke Person“, hatte er damals zu uns gesagt und ohne Zweifel jetzt zu meiner Mom und meinen Geschwistern.
„Bitte, macht euch keine Sorgen um mich.“
Ich hätte genauso gut zu einem Zimmer voller leerer Stühle sprechen können, so sehr ignorierte meine Familie diese Bitte. Ich würde weiter Essenskörbe von Mom bekommen, Kaffee in der Arbeit von Dad und Besuche und Textnachrichten vom Rest von ihnen.
„Können wir über die Micah Sache reden?“, fragte Chris und starrte mich direkt an.
Ich hätte etwas in der Art von „was ist mit der Micah Sache?“ sagen können, aber es gab wirklich keinen Grund dafür. „Du meinst, weil ich ihn geschlagen habe? Oder schauen wir ganz weit zurück auf den Unfall oder sogar noch weiter, als er und ich zusammen waren?“
„Alles davon, Liebling. Jemanden zu schlagen sieht dir nicht ähnlich“, sagte Mom und sah bestürzt aus. Wenn es eine Person in der Familie gab, die ich sehr ungern aufregte, dann war sie es. Sie hatte diese Art, so traurig zu wirken, und ich fühlte mich verantwortlich, weil ich ihr das Herz gebrochen hatte.
„Ungeklärte Wut“, fasste ich zusammen. „Vielleicht eine schwache Verbindung zu der Schießerei, wer weiß. Micah hat versprochen, dass er nicht zurückkommen würde, wenn man dann noch alles andere hinzufügt, habe ich einen Blick auf sein Gesicht geworfen und ihn geschlagen.“
„Ich habe sein Gesicht gesehen“, fing Michelle an. „Das war nicht nur ein Schlag.“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, es war nur einer, aber ich habe ihn überrascht. Außerdem hat er mich vor ein paar Tagen geküsst.“
Schweigen. So still, dass ich meine Atmung hören konnte. Warum zur Hölle hatte ich ihnen das erzählt?
„Mit Zunge?“, fragte Scott und es kümmerte mich nicht, dass er versuchte, die Stimmung aufzuheitern, das war eine Arschloch-Frage.
„Fick dich“, schnappte ich.
„Jungs!“, griff Mom ein.
„Hast du ihn zurückgeküsst?“, drängte Scott weiter.
„Das geht dich einen Sch— nichts an.“
Scott und Chris tauschten wissende Blicke und ich wusste, was einer von ihnen als Nächstes sagen würde und ich wollte auf gar keinen Fall, dass sie dieses Thema anschnitten. Andererseits, was für eine Intervention wäre es, wenn sie mich nicht mit allem konfrontierten, was mir vielleicht Kummer bereitete?
„Ist da mehr an der Sache mit Micah? Kannst du ihm endlich vergeben? Hast du immer noch Gefühle für ihn?“, fragte Chris, nachdem er eindeutig den kurzen Strohhalm in dem „Daniel die schwierigen Fragen stellen“ Spiel gezogen hatte.
„Jesus Christus, es war ein Kuss.“ Ich hatte nicht erwartet, dass er so schnell auf den Punkt kommen würde.
Chris lachte dramatisch. „Ein Kuss reicht aus“, meinte er.
Scott konnte mir nicht in die Augen sehen, aber seine Lippen waren fest zusammengepresst, hielten etwas zurück. Ich gab ihm keine Gelegenheit, alles herauszulassen und marschierte weiter.
„Ihn jetzt wiederzusehen hat Erinnerungen ans Licht gebracht, über die ich nicht nachdenken möchte. Ganz sicher keine guten und wenn man dann noch bedenkt, womit ich mich gerade herumschlage, dann ist es schwer. War das alles, was ihr fragen wolltet?“
Wieder herrschte Schweigen und ich wäre beinahe gegangen, dachte, dass sie fertig waren.
„Gehst du zu jemandem? Einem Therapeuten?“, fragte Dad, immer der Pragmatische, und ein Experte darin, Familiendiskussionen zu führen.
„Devin Hastings“, gab ich zu. „Drüben in Collier Springs.“ Devin war jemand, den ich in der Schule gekannt hatte und ich redete regelmäßig mit ihm. Er war ein guter Zuhörer und half mir, das, was in Charlotte geschehen war, aufzuarbeiten. Er war erst vor Kurzem zurück nach Whisper Ridge gezogen. Ich glaubte, dass er in der Stadt ebenso ausgebrannt war wie ich, aber für jemanden, der Leuten so viel zuhörte, wie er es tat, war er kein Mann, der seine eigenen Probleme mit anderen teilte.
„Wir sind also fertig, oder?“ Ich stand auf, streckte mich demonstrativ und ging dann zur Tür. „Danke, dass ihr euch Sorgen macht, Leute, das bedeutet mir eine Menge“, sagte ich und ging.
Als ich durch den Schnee zurück zu meinem Haus spazierte, fühlte ich ein Aufblitzen von Wut über Chris’ Frage, aber ich unterdrückte sie schnell. Es ging niemanden etwas an, ob ich Gefühle hatte oder ob Micah mich geküsst hatte.
Noch, dass ich ihn hatte zurückküssen wollen und es nicht getan hatte.
Und nein, ich hatte absolut keine tiefen, dunklen Gefühle für den Mann, der das Leben meines Bruders gestohlen und einen anderen getötet hatte. Nun, außer der offensichtlichen Wut. Richtig?
Lügner .