Neunzehn
Micah
Ich schaffte es aus der Stadt heraus, ehe ich den Truck an der Straßenseite parken und aussteigen musste, um Luft zu bekommen. Der Wind war beißend, Schnee stach in entblößte Haut und ich hieß den Schmerz willkommen, solange meine Scham mich wärmte.
Scham. Wut. Leidenschaft. Begehren. Ich wünschte mir inständig, ich hätte sie zerteilen und jedes einzelne Gefühl identifizieren können, damit ich verstehen konnte, wie zur Hölle ich mich fühlte. Ich trat gegen einen Reifen, das Wummern ein beruhigender Laut in der Kälte, dann trat ich erneut dagegen. Meine behandschuhten Hände zu Fäusten geballt, schlug ich auf die Motorhaube, hörte erst auf, als ich den Schmerz nicht mehr fühlen konnte.
Er hat mich geküsst .
Warum hatte er mir diesen Kuss aufgezwungen und dann, wie hatte ich zu ihm zurückkehren und es zu so viel mehr als das werden lassen können?
Ich habe den Kuss erwidert .
Ich legte meine Hände auf die Tür, senkte meinen Kopf und versuchte, jede einzelne Sekunde zu durchleben. Ich hatte neun Jahre Zeit gehabt, seinen Geschmack zu vergessen oder die Art, wie wir zusammenpassten, aber das war der zweite Kuss. Wenn ich mir selbst gegenüber ehrlich war, gab es keinen einzigen Tag, an dem ich nicht irgendwie an ihn dachte. Ich hätte ihn wegschubsen und stehenlassen, einen Schlussstrich unter das Unmögliche ziehen sollen.
Aber das hatte ich nicht getan. Ich war nicht nur nicht gegangen, ich hatte ihn ernsthaft geküsst, mit Leidenschaft und Begehren und allem, was ich in mir hatte.
„Verdammte Scheiße!“, brüllte ich in den Schnee.
Dann, als ob das Schicksal meinen Kopf nicht schon genügend durcheinandergebracht hätte, sah ich das Aufblitzen von Lichtern und den Truck, der hinter meinem anhielt. Ich starrte in die Scheinwerfer, fasziniert von dem Schnee, der in ihrem Lichtkegel tanzte.
„Micah“, sagte Neil, als er neben mir stand. Er schlug seine Hände zusammen und entließ einen Hauch kalter Luft. „Brauchst du Hilfe?“, fragte er, deutete auf meinen Truck. Ich wusste, was er sah, einen heruntergekommenen Haufen Metall, der am Straßenrand liegen geblieben war und einen Mann, der nichts dagegen unternahm.
Ich brauchte tatsächlich Hilfe, aber nicht die Art Hilfe, die Neil mir geben konnte.
„Ich habe nur frische Luft geschnappt“, sagte ich und bedauerte es. Ich hätte andeuten sollen, dass mein Truck kaputt war oder etwas anderes, das keine Fragen heraufbeschwor.
Neil sank tiefer in seinen Mantel. „Habe auf dem Weg in die Stadt gesehen, dass du bei Daniel geparkt hast.“
Großartig. Das Letzte, was ich brauchte, war ein Vortrag, dass ich mich von Daniel fernhalten sollte oder, schlimmer noch, eine Art formale Meinung über das, was ich getan hatte. Ich öffnete die Autotür. „Ich fahre jetzt los.“ Er hielt mich mit einer behandschuhten Hand auf meinem Arm auf.
„Geht es dir gut? Macht er es dir schwer?“
Ja. Ich habe ihn geschubst und er hat mich geküsst und meine Lippe wieder aufgerissen, aber in diesem Kuss lag Verzweiflung und ich wollte mehr, darum habe ich mir von ihm gestohlen, was ich brauchte und bin gegangen. Und es geht mir nicht gut .
„Alles in Ordnung, wir haben nur geredet. Ich muss jetzt los, wenn das alles war, Sheriff?“
Neil schüttelte seinen Kopf bei diesem letzten Teil, sprach mich aber nicht darauf an. Er trat zurück und als ich in meinen Rückfahrspiegel schaute, stieg er gerade in sein eigenes Fahrzeug. Ich fuhr vorsichtig auf den eisigen Straßen, schaffte es zur Ranch und wartete gute fünf Minuten, erwartete, dass er hinter mir auftauchte. Es gab keine Spur von ihm.
Ich ging ins Haus. Es war erst zehn Uhr und das Zimmer in der Schlafbaracke war nicht einmal mit den Heizungen, die ich gekauft hatte, ein Ort, an dem man sich aufwärmen konnte. In der Küche gab es Kaffee und für eine Weile hatte ich sie für mich. Irgendwann tauchte Jeff auf, schnaubte mich an, als ob ich kein Recht hätte, in meinem eigenen verdammten Haus zu sein, und ging dann wieder. Ich erwartete, dass Amy kommen und mir erklären würde, dass ich sie in Ruhe lassen sollte, aber das tat sie nicht.
Es war Rachel, die herkam, angezogen, ihre Schläfen rieb. Laurie war hinter ihr, in Jeans, Stiefeln und seinem neuen dicken Mantel.
„Was ist los?“ Hatte jemand vom Kult sie gefunden? Wollte sie, dass wir gingen? Ich war sofort auf den Beinen, bereit zu fliehen.
„Micah“, murmelte sie. „Ich muss ins Krankenhaus. Da ist Blut.“
Sie fiel gegen den Türrahmen, ehe ich sie erreichen konnte und ich sah das Blut, das an ihren Beinen nach unten lief, ihr Kleid durchtränkte. Der Knall lockte Jeff und Amy an, beide wütend und wahrscheinlich dachten sie, dass ich den Lärm veranstaltete, aber sie wurden auf der Stelle freundlich, als sie sahen, dass es Rachel war.
Ich war sofort an ihrer Seite und sie packte mich so heftig, wie Laurie es vielleicht tun würde. Ich blinzelte sie für einen Moment schockiert an und dann geschah alles in Hochgeschwindigkeit.
Amy legte eine Hand auf Lauries Kopf. „Geht, wir kümmern uns um Laurie.“
„Nein!“, schrie Laurie.
„Wir nehmen ihn mit“, sagte ich und wartete nicht auf Einwände. Ich wollte Laurie hier nicht allein zurücklassen, er brauchte seine Mom und Hölle, vielleicht brauchte er sogar mich.
Irgendwie schaffte ich es, sie ins Auto zu befördern, nahm Laurie in meine Arme und schnallte ihn in seinen neuen Autositz. Wir mussten durch Whisper Ridge fahren und ich wäre beinahe bei Daniels Haus stehen geblieben, nur dass Rachel nicht gesagt hatte, dass sie einen Arzt brauchte, sondern dass sie ins Krankenhaus musste. Die Blutungen hörten nicht auf. Sie schloss ihre Augen.
„Bleib bei mir, Rachel, komm schon …“
Ich wiederholte die Worte immer wieder und auf dem Rücksitz war Laurie tödlich still.
Als wir auf den Parkplatz des Collier Springs Krankenhauses rutschten, parkte ich direkt beim Noteingang und sprang heraus, raste nach drinnen.
„Ich brauche Hilfe“, schrie ich und alles passierte gleichzeitig. „Meine Schwester, sie ist schwanger und blutet.“ Sie wurde aus dem Auto auf eine Bahre gezogen, das Blut dunkel auf ihrem Rock und Flecken auf dem Autositz. Ich schnallte Laurie ab und hielt ihn, damit er seine Mom sehen konnte, beantwortete die Fragen, so gut ich konnte. Ihren Namen, ihr Alter, in welcher Woche sie war, die Blutungen, die Kopfschmerzen. Bis ich auf einmal im Flur stand und die Stille ohrenbetäubend war. Ich konnte nicht durch die Türen, auf denen Nur Personal stand, ich konnte ihre Hand nicht halten und ich konnte es nicht in Ordnung bringen.
Wir alle bezahlen irgendwann für unsere Sünden . Die Stimme meines Vaters in meinem Kopf jagte mir Schauder über den Rücken. Bezahlte Rachel für das, was ich vor all diesen Jahren getan hatte? War das meine Schuld? Oder war es ihre, weil sie einen Mann getötet hatte? Vielleicht, wenn ich nicht zu Daniels Haus gegangen wäre, wäre ich bei ihr gewesen, hätte ihr helfen können, sobald die Blutungen einsetzten. Laurie drückte mich und ich umarmte ihn fest und setzte mich auf einen Stuhl.
„Wir haben ein Familienzimmer“, erklärte ein freundlicher Pfleger, aber ich würde nicht von dieser Tür weichen und nichts, was dieser Typ sagte, würde mich oder Laurie davon überzeugen, von hier wegzugehen. Laurie zitterte und ich zog meinen Mantel aus und wickelte ihn darin ein, genau wie ich es an jenem ersten Tag auf der Veranda getan hatte. Es konnte sein, dass ihm einfach nur kalt war, aber vielleicht war es auch mehr und ich tat mein Bestes, um ihn zu trösten, bis er endlich aufhörte zu zittern.
„Micah?“ Ich hob den Kopf, wollte, dass es ein Arzt war, der mir sagte, was passiert war, mir versicherte, dass es Rachel und dem Baby gut gehen würde. Es war kein Arzt. Es war Chris. „Ist alles in Ordnung?“
Ich starrte zu ihm auf, zu dem Freund, mit dem ich früher alles geteilt hatte. Ich wollte ihm erzählen, dass Rachel im Krankenhaus war, dass sie vielleicht das Baby verlieren würde, von dem Blut in meinem Auto, aber das tat ich nicht. Ich war nicht in der Lage, einen Satz zu formulieren, der Sinn ergeben hätte.
Nichts ergab einen Sinn .
Chris nickte mir zu, setzte sich dann auf den Stuhl neben mir, legte eine Hand auf meine.
„Wir schaffen das, Kumpel“, murmelte er.
Er wollte nicht einmal wissen, was los war, es war ihm egal. Er wusste nur, dass ich hier war, mit meinem Neffen und er musste angenommen haben, dass es um Rachel ging. Er sagte nichts und das Mitgefühl, das er zeigte, hätte mich auf die Knie gezwungen, wenn ich nicht Laurie in meinen Armen gehabt hätte.
„Es ist Rachel, sie …“
„Ja.“
Wir saßen eine Weile schweigend da, bis Laurie sich aus meinem Mantel herauswand.
„Wo ist Mama?“, fragte er mich und obwohl er sich fest an meinen Mantel klammerte, starrte er Chris an.
„Alles wird gut“, sagte ich, die kleine Lüge kam mir leicht über die Lippen. Ich hatte volles Vertrauen, dass sie es schaffen würde, und ich würde nichts Gegenteiliges sagen, wenn Laurie mich hören konnte.
Er drehte sich auf meinem Schoß und kletterte herunter, schüttelte meinen und seinen eigenen Mantel ab und setzte sich dann auf den kleinen, bequemen Haufen.
„Papa hat gesagt, dass Mama das Baby des Teufels hat“, flüsterte Laurie. „Ist Mama darum weg?“ Er sah so klein aus, wie er dasaß und mein Herz brach erneut. Was für eine Art Mann erzählt seinem Sohn, dass ein neues Baby vom Teufel kam? Neben mir versteifte Chris sich und dann zog er sein Handy heraus, schickte eine Textnachricht. Ich wollte nicht wissen, was er geschickt hatte, wahrscheinlich etwas an den Sheriff, um ihm zu sagen, dass hier ein Kind war, das davon redete, der ältere Bruder des Babys des Teufels zu sein. Ich wollte Laurie hochheben, Rachel finden und sie nach Hause auf die Ranch bringen, mich dort verschanzen und sie beide beschützen.
„Deine Mama wird ein wunderschönes Baby bekommen“, sagte ich und Laurie lächelte mich an.
„Und mein Papa ist jetzt sowieso tot.“
Jesus, jeden Moment würde Laurie alles erzählen. Das durfte nicht passieren. Was sollte ich zu ihm sagen? Wie sollte ich ihn aufhalten? Alles lief schief.
„Du hast ein Metallbein“, sagte Laurie, riss mich aus meinen wirbelnden Gedanken und dann ging er auf den Knien zu Chris und redete mit ihm. „Bist du ein Metallmann?“
Zwei Dinge fielen mir auf. Das Erste war, dass ein normales Kind wohl den Ausdruck Roboter benutzt hätte, aber vielleicht kannte Laurie dieses Konzept nicht. Das Zweite war, dass Laurie willens war, mit meinem alten Freund zu reden und nicht vor ihm zurückschreckte. Er hatte auch aufgehört, über seinen Dad zu reden, was wohl die dritte Sache war.
„Es ist nur mein Bein“, erklärte Chris und zog sein Hosenbein ein wenig nach oben. Ich hatte es noch nie so aus der Nähe gesehen. Nahe genug, um es zu berühren, und es handelte sich um eine komplizierte Metallkonstruktion, die in einem Schuh endete. „Wie heißt du?“, fragte er. „Ich bin Chris.“
„Laurence“, murmelte Laurie, aber er war mehr an dem Bein interessiert als an der Tatsache, dass er gerade seinen Namen verraten hatte.
„Nicht anfassen, Laurie“, warnte ich ihn und er sah mit einer Falte zwischen seinen Augen zu mir auf, ehe er sich wieder dem glänzenden neuen Ding zuwandte, über das er mehr erfahren wollte.
„Schon gut, Laurie“, ermutigte Chris ihn, übernahm die Kurzversion seines Namens. „Du kannst es anfassen.“
Laurie streckte die Hand aus und berührte die Prothese, lehnte sich dann nach hinten und starrte erwartungsvoll zu Chris auf. Er hatte eindeutig eine Menge Fragen, aber sie traten in den Hintergrund, als die Personaltür sich öffnete und der letzte Mann, den ich zu sehen erwartete, herauskam. Daniel. Er grinste breit, erwartete Chris offensichtlich hier draußen im Flur und nicht den Mann, den er vor Kurzem geküsst hatte. Ungefragt strichen meine Finger über meine offene Lippe und ich sah den Moment, als ihm klar wurde, dass Chris nicht allein war. Sein Grinsen verschwand und er sah vorsichtig aus. Er war ein Arzt, er wirkte ernst und ich zählte zwei und zwei zusammen und bekam fünf.
Ich stand sofort auf. „Geht es Rachel gut? Meine Schwester? Geht es ihr gut?“
Daniel hielt an, machte auf dem Absatz kehrt, um zurück durch die Tür zu gehen. „Ich werde es herausfinden.“
„Das war Doktor Daniel“, kommentierte Laurie, tätschelte immer noch Chris’ Bein, als ob er sich die Form merken wollte, wenn er es nicht mehr anfassen konnte.
„Wenn irgendjemand herausfinden kann, was los ist, dann er“, meinte Chris.
„In Ordnung.“ Dann kam es mir, dass Chris hier war, im Krankenhaus.
„Wir sind alle wegen Michelle hier“, erklärte er. „Sie hat ein kleines Mädchen bekommen und Daniel hat darauf bestanden, dass sie herkommt, damit er das Baby untersuchen kann.“ Chris ging nicht ins Detail, ich nahm an, dass er die Tatsache respektierte, dass mit meiner Schwester offenbar etwas nicht in Ordnung war, während seine eigene gerade ihr Baby bekommen hatte, wahrscheinlich im Kreis der Familie, mit sanfter Walmusik und verdammten Kerzen. Die Tür öffnete sich erneut und Daniel stand zögerlich dort.
Chris sah ihn im selben Moment wie ich. „Hey, Laurie, wie wäre es, wenn wir uns etwas zu essen suchen?“
„Nein.“
„In Ordnung.“ Er beugte sich zu Laurie hinunter. „Was ist mit der Ranch. Gefällt es dir da?“
Laurie schaute ihn unter seinen langen blonden Haaren hervor an und runzelte die Stirn. „Pferde“, sagte er. Nur das eine Wort, aber es reichte, dass Chris etwas hatte, womit er arbeiten konnte.
„Ich liebe Pferde“, sagte er. „Welches ist dein liebstes?“
„Das braune“, sagte er und schob seine Haare zur Seite.
„Meine Lieblingspferde sind braun“, verkündete Chris.
„Kuchen“, warf ich ein. Laurie kam sofort auf die Beine und sah mich erwartungsvoll an. „Chris wird mit dir einen Kuchen holen, wenn du das möchtest. Ich bleibe hier.“
„Kann ein Metallmann Kuchen essen?“, fragte Laurie und stupste Chris’ Prothese an, um die Frage zu unterstreichen.
„Ja“, antwortete Chris und grinste. „So viel Kuchen.“
Laurie war unsicher, aber dann, wie es bei so vielen Kindern der Fall war, brachte die Aussicht auf Schokoladenkuchen ihn dazu, Chris’ Hand zu nehmen und mit ihm wegzugehen. Er warf einmal einen Blick zurück, brachte Chris zweimal dazu, stehenzubleiben. Ich winkte und grinste, als ob die Welt nicht um mich herum auseinanderbrechen würde. Sobald er um die Ecke war, stand ich auf und kam zur Sache.
„Geht es ihr gut?“
„Sie ist wohlauf“, sagte Daniel sofort und bedeutete mir dann, ihm in eine ruhige Ecke zu folgen. Der Flur war leer, aber zumindest hatte ich so die Illusion von Privatsphäre.
„Sie ist für morgen für einen Ultraschall gebucht“, erklärte ich schnell. „Und die Hebamme hat gesagt, dass alles gut zu sein scheint. Was kann ich tun? Warum blutet sie?“
Daniel hob eine Hand.
„Deine Schwester hat etwas, das Placenta Praevia genannt wird. Es ist sehr selten.“
„Geht es dem Baby gut, wird bei Rachel alles wieder in Ordnung kommen, warum war da so viel Blut, hatte sie Schmerzen?“
Er hielt inne, wog ab, ob er es mir sagen konnte oder nicht und ich konnte nichts gegen die Wut tun, die sich in mir zusammenballte.
Er sollte es mir besser auf der Stelle sagen. Ich bin alles, was sie hat .
„Ich weiß, dass es keinen Sinn ergibt, aber schwere, unkontrollierte Blutungen können ohne jegliche Schmerzen auftreten. Wenn Rachel in der zwanzigsten Woche einen Ultraschall gehabt hätte, hätte man darauf vielleicht etwas erkannt, das Anlass zur Sorge gibt, aber ich weiß, dass sie keinen hatte. Wir hätten Bettruhe empfohlen, aber dafür ist es zu spät.“ Er legte eine Hand auf meine Schulter. „Sie schlagen einen Kaiserschnitt vor, um die übermäßigen, lebensbedrohlichen Blutungen zu stoppen und zu verhindern, dass das Baby Sauerstoffmangel erleidet. Sie ist im Moment wach, in der Lage, ihre eigene Entscheidung zu treffen, aber sie will dich sehen.“
Ich kannte die Probleme, die auftraten, wenn Stuten trächtig waren — das war mein Gebiet, Fohlen auf die Welt zu bringen, mich um die Probleme zu kümmern, aber das hier? Zur Hölle, das waren meine Schwester und ihr Baby und jetzt wollte sie mit mir reden? Was würde ich sagen? Natürlich sollte sie den Kaiserschnitt machen lassen, wenn das sie und das Baby rettete, aber was, wenn es zu spät war? Das alles musste mir ins Gesicht geschrieben gewesen sein. Daniel beobachtete mich während meines gesamten Gedankengangs.
„Alles wird gut“, sagte er sanft und tätschelte meinen Arm, führte mich dann zu meiner Schwester und ließ mich allein.
Das Zimmer, in dem Rachel sich befand, war sauber und ordentlich und voller Maschinen. Im Moment gab es kein Blut oder zumindest keines, das ich sehen konnte, aber sie hatte eine Infusion und eine Krankenschwester schrieb etwas auf ein Klemmbrett, bevor sie an Knöpfen auf einem Monitor drehte. Rachel lächelte mich an, als ich eintrat, das erste Mal, dass ich ein echtes Lächeln auf ihrem Gesicht sah, seit ich sie aus dem Kult geholt hatte.
Sobald die Krankenschwester fort war, waren es nur noch wir beide. Als wir noch Kinder waren, bin ich manchmal in ihr Zimmer gegangen, um mit ihr zu reden, wenn es wirklich schlimm war. Wie als Mom gestorben war oder wenn Dad trank. Das letzte Mal, dass wir wirklich geredet hatten, war der Tag des Unfalls gewesen, direkt nachdem ich lautstark mit Dad wegen allem gestritten hatte, das zwischen uns schwärte. Sie war im ersten Semester auf dem College gewesen und sie hatte für die Gerichtsverhandlung bleiben wollen. Ich hatte ihr gesagt, dass ich sie nicht dabeihaben wollte. Sie war aufs College zurückgegangen und Hölle, ich war froh, dass sie auf mich gehört und das nicht miterlebt hatte. Dieser eine Anruf an sie, den ich mit der Nummer meines beschissenen Handys gemacht hatte, war die einzige Verbindung, die wir hatten. Ich war nie nach Whisper Ridge zurückgekehrt und sie auch nicht.
Irgendwie auf dem Weg hatten wir diese Bruder-Schwester-Verbindung verloren und ich hasste es, dass unsere Familie so geworden war. Ihre weiß-blonden Haare waren aus dem Gesicht geschoben und sie sah müde, aber friedlich aus.
„Du musst mir etwas versprechen“, sagte sie und hielt mir ihre Hand hin, die ich nahm.
„Alles“, sagte ich, die Gefühle schnürten mir die Stimme ab.
„Wenn mir etwas zustößt, nimmst du Laurie und schenkst ihm ein gutes Leben.“
Ich wich zurück, als ob sie mich geschlagen hätte. „Dir wird nichts zustoßen.“
Sie machte entschlossen weiter. „Ich habe kein Testament oder eine Familie abgesehen von dir und ich möchte, dass du um Laurie kämpfst, wenn sie versuchen, ihn dir wegzunehmen.“
„Jesus, Rachel—“
„Laurie und das Baby, beide. Versprich es mir.“ Ihr Tonfall war wild, und Hölle, es war einfach, das zu versprechen, sie waren genauso mein Blut, wie sie es war.
„Natürlich, es besteht kein Grund, mich darum zu bitten.“
„Und du wirst der Polizei sagen, was beim Kult wirklich mit Callum passiert ist. Du sagst ihnen, dass ich es war, wenn irgendetwas passiert.“
Ich nickte, aber nichts würde Rachel wehtun. Ich würde das nicht zulassen.
Ich verließ das Zimmer, als die Krankenschwester hereinkam, meine Gedanken wirbelten um das, was ich gerade versprochen hatte und wie wichtig es war, alles richtig zu machen. Daniel stand direkt vor der Tür, wartete auf mich und ich blieb vor ihm stehen. Wusste nicht, was ich sagen sollte. Er umfasste mein Gesicht und ich ließ ihn, weil ich diese Berührung unbedingt brauchte. Ich lehnte mich in sie hinein und wartete darauf, dass er etwas sagte oder sich bewegte. Irgendetwas. Er umarmte mich und hielt mich an sich gedrückt und alles kam zurück. Ich hatte ihn gebraucht, als ich neunzehn war, diesen sicheren Ort wo ich sein konnte, wer ich sein wollte und jetzt, mit achtundzwanzig, brauchte ich ihn erneut.
Die Entscheidungen, die ich getroffen hatte? Die Fehler? Nichts davon hatte eine Bedeutung, wenn ich in seinen Armen war und ich wollte nur noch weinen.
Erst als ich vor dem Zimmer saß, mit Laurie auf meinem Schoß, darauf wartete, dass für meine Schwester endlich einmal etwas funktionierte, erkannte ich endlich an, dass schlimme Dinge immer der Lennox Familie zuzustoßen schienen.
Laurie musste ein anderes Leben bekommen.