Ich hing die nächsten Tage im Krankenhaus herum und behielt Rachel im Auge, sogar nachdem Michelle nach ihrer kurzen Untersuchung nach Hause gegangen war. Ich dachte nicht, dass sie mir vergeben würde, dass ich sie gezwungen hatte, ins Krankenhaus zu fahren, nachdem Abby geboren war, aber ich bestand darauf, dass ich sowohl sie als auch meine wunderschöne, verletzliche Nichte untersucht haben wollte.
Ich verstand vollkommen, warum meine Familie dachte, ich wäre neurotisch, aber ich hatte in der Notaufnahme zu viele Tode gesehen und Michelle, gesegnet sei sie, gab mir nach. Ich glaubte, sie betrachtete es als mit meiner PTSD umgehen
; ich betrachtete es als medizinisch auf Nummer sicher gehen.
Aber Rachel war immer noch auf ihrem Zimmer und vor drei Nächten hatten sie einen Kaiserschnitt durchführen müssen. Die Ärzte und diensthabenden Hebammen hatten ihr Corticosteroide gegeben, um die Lungenentwicklung des Babys zu beschleunigen, und hatten es geschafft, die Blutungen zu stoppen, aber in der sechsunddreißigsten Woche hatte das Baby geholt werden müssen. Der kleine Junge war leise angekommen,
wurde für Untersuchungen weggebracht und Rachel hatte die meiste Zeit über geweint.
Nicht, dass ich dabei gewesen wäre. Micah hatte es mir erzählt. Er verbrachte eine Menge Zeit damit, zwischen der Ranch und dem Krankenhaus hin- und herzufahren, und sah erschöpft aus. Scott hatte mir erzählt, dass Micah rund um die Uhr mit einer Crew arbeitete, um viele Jahre Vernachlässigung in den weiter entfernten Teilen des Besitzes zu reparieren. Zäune wurden instandgesetzt und ein Steinschlag beseitigt. All das geschah in furchtbarem Wetter, mit Schnee auf dem Boden und ich fühlte eine Verzweiflung in Micah, wann immer ich ihn sah. Ich tat so, als ob ich die Einzelheiten von Scott nicht erfahren wollte, aber in Wirklichkeit musste ich alles hören.
Und ich sah ihn oft. Wie jetzt zum Beispiel. Ich wusste, wo ich ihn finden würde. Es war Mittagszeit und er würde in Rachels Zimmer sein, mit Laurie im Schlepptau und Essen für Rachel, das er von zu Hause mitgebracht hatte. Laurie hatte sich mittlerweile an das Krankenhaus gewöhnt, seine eigene kleine Ecke im Zimmer seiner Mutter war voller Puzzles. Ich setzte mich immer neben ihn, um ihm zu helfen, aber er ließ mich nicht viel machen, darum beschränkte ich die Interaktion darauf, ihm ein Stück zu reichen, von dem ich dachte, dass es passen würde. Ich redete mit Rachel, aber ich war nicht lange bei ihr und sie schien auf ihren neuen Sohn fokussiert zu sein, den sie Oliver genannt hatte und auf Laurie. Manchmal war Scott da und er brachte Rachel zum Lächeln, Hölle, Laurie redete sogar mit ihm und ich weigerte mich, deswegen eifersüchtig zu sein.
Denn, hey, ich war erwachsen und viel zu alt, um auf einen meiner Brüder eifersüchtig zu sein.
Ich hatte angefangen, das Krankenhaus während meiner langen Mittagspause zu besuchen, die zu haben ein Luxus war. Ich erinnerte mich an Schichten in der Notaufnahme, bei denen ich einen ganzen Tag lang nichts zu mir genommen hatte
und als ich mein letztes Sandwich aß, machte ich mir eine geistige Notiz, dass ich mich mehr bewegen musste, um dagegen anzusteuern. Vielleicht konnte ich anfangen zu laufen oder einfach Stunden damit verbringen, vom Keller meines Hauses bis zum Dachboden zu gehen. Vier Treppen und gleichzeitig konnte ich mir überlegen, was ich renovieren wollte.
Baby Oliver wog gesunde drei Kilo und Rachel hatte Glück, dass ihr die schlimmsten postnatalen Depressionen erspart geblieben waren. Anders als Michelle, die während einer Folge Simpsons
geweint und verkündet hatte, dass sie keine weiteren Kinder bekommen würde. Ich hatte so etwas schon oft gesehen und ich kannte Michelle, sobald sie sich besser fühlte, würde sie ein weiteres wollen. Dennoch behielt ich sie im Auge, denn manchmal blieb der Baby-Blues länger, als er sollte. Ich und Mom kümmerten uns um sie und schickten sie schlafen, bis Rick, ihr liebender Ehemann und hingebungsvoller Vater, aus der Arbeit kam. Das war der beste Tag überhaupt, weil ich meine Nichte, Abby, eine ganze Stunde lang knuddeln konnte.
Als ich sah, wie Micah Oliver hielt, mit Rachel redete, blieb ich wie angewurzelt stehen. Wie es der Zufall wollte, hatte ich noch nicht gesehen, wie Micah den neuen Erdenbürger hielt. Das Baby war so winzig in seinen Armen und er war entspannt.
Ich trat ein.
„Doktor Daniel!“, rief Laurie mir zu, sein kleines Gesicht wurde von einem Lächeln erhellt. „Wir gehen nach Hause, wir alle.“
Ich schaute zu Micah, der nickte und eine Welle der Enttäuschung ließ mich darüber nachdenken, wie wichtig mir diese kleine Familie war. Was war an Rachel und Laurie und Oliver, das mich so fürsorglich machte und warum hoffte ich, dass Oliver einen besseren Start bekam als Laurie?
Weil ich ein normales menschliches Wesen mit Mitgefühl bin. Muss sonst nichts heißen
.
Dann war da Micah. Warum kümmerte mich sein Wohlergehen? Es machte mir Sorgen, dass er müde und erschöpft war, unrasiert und seine Haare länger, als ich sie je gesehen hatte. Ich wusste, dass es mir abgehen würde, sie in meiner Mittagspause zu sehen.
„Das ist wunderbar“, sagte ich mit so viel Begeisterung, wie ich konnte. Micah sah mich mit schmalen Augen an und runzelte dann seine Stirn ob meines erzwungenen Enthusiasmus. „Wie dem auch sei, auf Wiedersehen.“ Ich wich aus dem Zimmer und ging nach draußen, ehe sie mich fragen konnten, warum ich ging, marschierte direkt zum Personalparkplatz, der von einer Reihe Virginischer Traubenkirschen vom Krankenhaus abgeschirmt war. Ich war schon beinahe im Auto, hatte die Tür offen, als Micah mich aufhielt.
„Ich habe genug von deinem Scheiß“, fauchte er und ich drehte mich zu ihm um. Er sah wütend aus und stur und immer noch erschöpft. „Ich werde bald gehen, also hör auf, deinen Mist an meiner Schwester und den Kindern auszulassen.“
Ich hörte die Worte, fühlte mich aber wirklich verloren. Ich war hereingekommen, hatte Hallo gesagt, dann auf Wiedersehen und das war es auch schon gewesen. Wovon zur Hölle redete Micah?
„Was?“, sagte ich und er trat in meinen persönlichen Raum. Ich wünschte, er würde das nicht tun, es war nervenaufreibend und erregend und eintausend andere schlechte Dinge dazwischen.
„Rachel ist eine verdammt gute Mutter.“
„Da bin ich mir sicher.“
Er stieß mich mit dem Finger an und ich ließ es ihm dieses Mal durchgehen. „Weißt du, ihr Arsch von einem Ehemann hat sie geschlagen und ich wette, er war nicht der Einzige und ich weiß, dass sie es hingenommen hat, wenn das bedeutete, dass Laurie in Ruhe gelassen wurde.“
„Micah—“
„Du kannst also enttäuscht aussehen, dass sie endlich nach Hause darf, oder dir Sorgen machen, dass du sie nicht mehr vierundzwanzig Stunden überwachen kannst, Arschloch. Aber sie wird verdammt hart für ihre Familie arbeiten und sie wird eine genauso gute Mutter sein wie deine Schwester und du wirst diesbezüglich keine Kommentare abgeben oder dich einmischen oder dreinschauen, als ob das Baby für immer die Arschkarte hat, wegen dem, was du über mich denkst. Verstanden?“
Er hatte schlechte Laune, ich konnte das sogar durch die Erschöpfung sehen, aber er hatte alles falsch verstanden und meine Reaktion hatte etwas in ihm zerbrochen. Er stieß mich wieder mit dem Finger an, als ob er seine Worte unterstreichen wollte und ich hielt ihn fest.
„Hör auf damit“, sagte ich, so ruhig ich konnte. Ich war hier gefangen, an meinem Auto, mit Micah so nahe. „Ich bin enttäuscht, dass sie nach Hause geht, weil ich gerne zu Besuch gekommen bin, sie gerne gesehen habe, Laurie und dich. Wenn ihr wieder auf der Ranch seid—war es das.“
Er sah unsicher aus und trat ein wenig von mir zurück. Ich ließ seinen Finger nicht los, stattdessen verflocht ich meine Finger mit seinen. Ich redete weiter. „Rachel liebt ihre Kinder offensichtlich und hat es geschafft, aus einer schrecklichen Situation zu entkommen, mit deiner Hilfe. Jetzt versucht sie einen Neuanfang. Ich bewundere sie und, Hölle, ich bin erstaunt, was für ein guter Bruder du bist.“
Er löste seine Finger und ich wusste, dass ich es falsch ausgedrückt hatte. Was ich sagte, kam von einem Punkt in mir, der immer noch über das wütend war, was er vor neun Jahren getan hatte, aber dabei war etwas Verständnis, Vergebung, Friede.
„In Ordnung“, sagte er mit einem Schulterzucken, akzeptierte, was ich gerade gesagt hatte und verstand es falsch,
weil er nicht wusste, was in meinem Kopf vor sich ging. Natürlich konnte er das nicht. Ich hatte nichts davon richtig erklärt. Vielleicht wurde es Zeit, zu spezifizieren, was ich sagen wollte.
Aber nicht hier. Nicht jetzt.
„Kannst du zum Haus kommen? Ich denke, wir sollten … Nein. Ich würde gerne reden.“
Ich wartete darauf, dass er mir sagte, dass ich mich vom Acker machen sollte, aber das tat er nicht. Er war nachdenklich und steckte seine Hände in seine Taschen. Wir waren hier geschützt, aber der Wind war dennoch beißend und er war ohne seinen Mantel gekommen.
„In Ordnung“, sagte er nach einer Weile. „Scott kommt heute Abend zur Ranch. Danach fahre ich zu dir.“
Mein Auto war ein ruhiger Ort, um einen Nervenzusammenbruch zu haben, und ich hatte immer noch zwanzig Minuten, um nach Whisper Ridge zu fahren. Ich rief Devin an, machte einen Termin aus und fuhr wieder in die Praxis.
Der Nachmittag war ruhig und als es endlich fünf war, war ich bereit zu gehen, fuhr zurück nach Collier Springs, zu den Räumen, in denen Devin seine Praxis hatte.
Ich hatte Glück, dass Devin einen Termin freihatte, als alles in meinem Kopf so aufgewühlt war. Er schüttelte meine Hand, schloss die Tür hinter uns und mit einem Mal verlor ich alle Gedanken, die ich gehabt hatte, all die Warum und Darum, all die Gründe, warum ich so verloren war.
„Wie geht es dir?“, Devin setzte sich auf seinen Stuhl. Bei unseren Terminen redeten wir zu Beginn immer über unwichtige Dinge, das Wetter, Sport, dann ging es weiter zur Familie, ehe wir uns den Hauptgründen zuwandten, warum ich bei ihm war.
„Daniel?“, hakte Devin nach.
Alles krachte mit solcher Wucht auf mich ein, dass es war, als ob ich nicht aufhören konnte. Ich erzählte ihm alles, was ich konnte und es war ein Wirbelsturm aus Selbstanklage, Schuld und Panik. Dann war da der Kuss. Ich redete in allen Einzelheiten über den Kuss und was ich dachte, dass er mir bedeutete.
Er hörte zu und dann, als ich fertig war, beugte er sich vor.
„Willst du meinen Rat?“, fragte er.
„Dafür bezahle ich dich.“ Ich lachte, mehr aus Nervosität als allem anderen. Ich hatte ihm alles erzählt, davon, wie ich mich verliebt hatte, von dem Verrat, der Verzweiflung, der Furcht und das alles lag zwischen uns.
„Du hast gesagt, dass Micah dir erzählt hat, warum er es getan hat und dann waren da die Küsse. Den zweiten hast du als zunächst wütend und dann nicht mehr beschrieben.“
„Ja.“
„Jetzt bist du an der Reihe, ihm alles zu erzählen, genau wie du es bei mir getan hast“, sagte Devin. „Du musst ihm sagen, warum du dich verraten gefühlt hast, warum alles wehtut und was dir vor ein paar Monaten in Charlotte zugestoßen ist. Du musst das alles rational sagen und ich weiß, dass das schwierig ist, weil alles mit dem Vorfall mit dem Schützen verwoben ist. Am Ende ist es wirklich einfach, Daniel, willst du ihm alles erzählen, was du mir gerade gesagt hast?“
Tue ich das?
„Ja. Das tue ich.“