Ich stand eine Weile vor dem Büro des Sheriffs, lange genug, dass meine Hände von der Kälte schmerzten.
Das Gebäude war noch genauso, wie ich mich daran erinnerte, ein niedriger Bungalow hinter dem Diner, mit weißen Fensterläden. Schneebedeckter Efeu machte die Kanten und Ecken weicher. Zu beiden Seiten der Tür standen leere Blumentöpfe und ein Anschlagbrett hinter Glas, auf dem jede Menge Flyer klebten. Es gab einen für Yoga in Collier Springs, einen für eine Mutter-Kind-Gruppe in der Kirche, andere warnten die Leser, ihre Räder abzusperren. Ich hatte sie alle zweimal gelesen und beinahe den Mut zusammengenommen, hineinzugehen, als die Tür sich öffnete und Neil erschien.
„Ich habe mich gefragt, wann du herkommen würdest. Kommst du rein?“, fragte er.
Er erwartete mich? Das war der Punkt, an dem ich entweder blieb oder mich umdrehte und ging.
„Ja.“ Ich hörte auf zu denken, trat einfach ein.
„Micah!“
Ich versteifte mich, als Daniel meinen Namen in meinem Rücken rief. Die letzte Person, die ich hier wollte, war er. Er
konnte meine Lügen auf der Stelle durchschauen. Er ließ mir jedoch keine Wahl, stellte sich neben mich und nahm meine freie Hand.
„Was machst du hier?“, fragte ich ihn.
„Chloe hat gesagt, dass sie dich hier hat stehen sehen“, sagte Daniel. „Lass uns gehen.“
„Ich muss etwas erledigen.“ Ich versuchte, seinen Griff abzuschütteln, aber er ließ einfach nicht los.
„Ich glaube, dass du etwas Dummes tun wirst.“
„Nein, ich tue, was für Laurie und Oliver das Richtige ist.“
„Wir sollten darüber reden“, beharrte Daniel.
„Nein.“ Ich konnte in diesem Moment nicht nachdrücklicher oder konzentrierter sein und obwohl Daniel sich Sorgen machte, wich er mir nicht von der Seite.
„Jungs, schwingt eure Ärsche hier rein—es ist eiskalt.“
Ich versuchte noch einmal, mich von Daniel zu lösen und er ließ los, aber nur, um durch die Tür zu gehen und sich dann umzudrehen und auf mich zu warten. Das hier könnte das letzte Mal sein, dass ich ihn sah, ehe er zusah, wie ich das, was wir hatten, wegwarf. Ich trat ein und Neil schloss die Tür hinter uns.
„Was ist los?“ Er schaute von mir zu Daniel.
„Ich möchte eine Anzeige erstatten“, sagte ich ohne Einführung.
Neil war verwirrt. „Du und
Daniel?“
Daniel ignorierte Neil und stellte sich zwischen uns. „Sei nicht dumm, Micah, du musst das nicht tun.“
„Ich bin ihr Bruder und sie hat so viel, für das sie leben kann.“
Daniel schüttelte mich. „Genau wie du!“
Neil schob eine Hand zwischen uns. „Was zur Hölle?“
„Ich möchte, dass Daniel geht“, sagte ich zu Neil und kehrte Daniel den Rücken zu.
„Lass uns bitte allein“, wandte Neil sich an Daniel und bedeutete, dass ich in sein Büro gehen sollte.
„Scheiße, Micah, nein. Neil—“
„Braucht Micah einen Arzt im Zimmer?“, fragte Neil und wartete.
„Wegen seiner klaren und momentanen geistigen Verwirrung, ja“, fauchte Daniel.
„Bitte verlass den Raum“, bat Neil, höflich, aber nachdrücklich.
Daniel stand auf. Ich konnte seinen Blick auf mir spüren. „Bitte, Micah, tu nichts Dummes.“
Ich wartete, bis er fort war, und schloss die Tür, ehe ich zu sprechen begann.
„Ich habe einen Mann erschossen“, sagte ich. Einfach so fing ich an, eine Geschichte zu erfinden, bei der Rachel überhaupt nicht in die Ermordung ihres Ehemannes involviert war. Ich machte weiter. „Du wirst es in deiner Datenbank finden, eine Schießerei auf privatem Land, fünfzehn Kilometer von Cody entfernt, im Gebäude der Brothers of Chiron. Ich bin dorthin gefahren, um Rachel und Laurie zu helfen, und habe in Notwehr einen Mann erschossen. Ein Privatdetektiv war diese Woche auf der Lennox Ranch, um Fragen zu stellen und ehe er tiefer vordringt, als nur zu fragen, möchte ich diesen Vorfall mit meiner Verhaftung zum Abschluss bringen.“
Das war genug, oder? Er würde den offenen Fall aufrufen, und er würde mich verhaften und ich würde ins Gefängnis gehen und Rachel und die Kinder würden in Sicherheit sein. Daniel würde es nicht verstehen, aber ich wusste, dass wenn es um Michelle ginge, er dasselbe tun würde.
Er zog einen Block zu sich heran und nahm einen Stift. Nichts in seiner Haltung deutete an, dass er nach einer Waffe oder Handschellen griff oder Verstärkung anfordern würde. Er
sah so ruhig aus, als ob ich ihm gesagt hätte, dass mein Name Micah ist.
„Fang von vorne an.“
„Ich habe dir gerade gesagt—“
„Von vorne.“
Ich dachte hektisch nach, weil ich nicht erwartet hatte, dass ich mir aus dem Stand eine ganze Geschichte einfallen lassen musste. Ich hatte gedacht, ich hätte Zeit, bevor ich verhaftet wurde, um mir eine solide Erzählung auszudenken.
„Rachel hat mich angerufen, hat mich gebeten, sie von dem Ort abzuholen, wo sie lebte, einer Gemeinschaft, die sich Brothers of Chiron nennt.“
„Bitte buchstabieren.“
„C.H.I.R.O.N.“ Neil kritzelte die Worte auf das Papier, aber ich war zu sehr damit beschäftigt, seinen Gesichtsausdruck zu beobachten, um zu sehen, was er schrieb. Ich musste diesen Moment sehen, wenn er alle Teile zusammenfügte.
Ich fuhr mit so vielen Fakten fort, wie ich mich erinnern konnte, weil die Ausschmückungen und Lügen später kommen würden. „Ich habe den Ort schnell gefunden, bin zum Zaun gekommen und habe das Tor gesehen. Ich wusste, dass ich richtig war, weil sie mir den Weg beschrieben hatte, aber da war nichts, keine Schilder, abgesehen von einer Warnung, dass man polizeilich belangt wird, wenn man hineingeht. Zum Teil Wald, zum Teil offenes Gelände und an der Vorderseite standen alte verrostete Autos, wie eine Barriere, nehme ich an.“
„Wie bist du reingekommen?“, fragte Neil.
„Seitenschneider aus dem Truck, ich habe also das Schild ignoriert und bin widerrechtlich eingedrungen.“
Neil nickte, als ob das absoluten Sinn ergab, und ich dachte, dass ich genug darüber erzählt hatte, was ich vorgefunden hatte, als ich angekommen war.
„Ungefähr dreißig Meter dahinter gab es ein weiteres Tor, als ob es irgendwann einmal der Eingang gewesen wäre, aber wer immer dort lebte, wollte den zusätzlichen Schutzring. Dort sah ich das Schild für die Brothers of Chiron, irgendein hochgestochenes Logo mit Kreisen. Ich war für alles gewappnet und ich erinnere mich, dass das Gelände vor dem Zaun schneebedeckt war, keine Fußspuren und niemand schien sich die Mühe gemacht zu haben, ihn zu räumen. Abgesehen von dem neuen Schloss an dem Tor, sah es aus, als ob überhaupt niemand dort leben würde. Ich hatte das Gefühl, dass ich beobachtet wurde, aber ich habe mich schnell einmal im Kreis gedreht und nichts entdecken können.“
„Es war Abend?“
„Acht, beinahe neun.“
„Wie gut konntest du sehen?“
„Ausreichend. Ich bin daran gewöhnt, im Dunkeln draußen zu sein“, verteidigte ich mich. „Und ich habe gelauscht.“
„Du bist also direkt hinein? Ohne zu zögern?“
„Ich habe darüber nachgedacht, was zur Hölle mich erwarten würde. Als Rachel angerufen hatte, war sie verzweifelt gewesen, hysterisch, ihre Welt implodierte und ich wusste nicht, was ich vorfinden würde. Sie hat immer und immer wieder gesagt, dass ihr Ehemann sie nicht gehen lassen wollte, dass keiner von ihnen sie gehen ließ. Dann, dass ihr Ehemann über Selbstmord gesprochen hatte und dass sie Angst hatte, er würde sie und ihren Sohn mitnehmen.“
„Warum hat sie nicht die Polizei gerufen?“
„Ihr Ehemann hat sie kontrolliert. Er hat gesagt, dass sie sein Eigentum ist“, erklärte ich. Das klang nicht dramatisch genug, um zu erklären, was für eine Art Mann Callum Prince gewesen war. „Er hat sie und Laurie missbraucht und sich hinter der Religion versteckt, um sicherzustellen, dass sie ihren Platz kannte. Sie war eine einsame Frau, verzweifelt und voller Furcht
um ihr Leben und das Leben ihrer Kinder, darum hat sie sich an mich gewandt.“
Er nickte.
„Die Tür war unverschlossen und ist leicht aufgegangen. Der Boden war nass, als ob der Schnee dort geschmolzen wäre, als sie offen stand und es war eiskalt. Ich trat ein und sah sie im selben Moment wie die Waffe, die sie auf mich gerichtet hatte. Sie schrie, dass sie mich töten würde, aber sie hat nicht mich gesehen, sie hat jemanden gesehen, der versuchte, sie davon abzuhalten zu gehen, und ich stand nur wie eine Steinfigur da. Ich bemerkte Laurie, der sich hinter ihren Beinen versteckte, nicht weinte, nur mit dieser Furcht in seinem Gesicht starrte. Dann sah ich, dass sie schwanger war. Es war wie ein doppelter Schlag.“
Bis jetzt keine Lügen, abgesehen von Callum Prince, der bereits tot am Boden lag.
„Aber sie hatte eine Waffe.“
„Es war die Waffe ihres Ehemannes.“
„Und sie hat endlich erkannt, dass du es warst?“
„Ich habe immer und immer wieder ‚Rachel, ich bin es‘ gesagt, im selben Ton, den ich bei einem verängstigten Pferd benutzen würde.“ Mir wurde bewusst, dass ich meine Hände langsam bewegte, und schaute auf sie herunter. Gott, ich war so im Moment verloren, dass ich mir vorstellen konnte, dort zu sein. „Sie hat endlich die Waffe gesenkt und ich habe sie ihr abgenommen, sie in meine Jacke geschoben und sie ist hingefallen. Ich habe sie aufgefangen und Laurie hinter ihr und sie hat geweint. Hat mir gesagt, dass er auf dem Weg ist, dass sie wegmuss, dass ich Laurie nehmen soll.“
„Und das war ihr Ehemann, derjenige, der kam.“
„Ja, das ich hatte ich zu diesem Zeitpunkt angenommen.“
Neil machte eine weitere Notiz auf seinem Papier und dieses Mal sah ich ihm beim Schreiben zu. Dort stand nicht viel, nur die
wichtigsten Punkte. Ich nahm an, dass die Befragung intensiver werden würde, sobald ich verhaftet wurde.
„Sie hatte keine Koffer, nichts. Nur Laurie. Darum bin ich zur vorderen Tür gegangen, mit Laurie auf meinem Arm und habe Rachel gestützt und …“ Ich schloss meine Augen, versuchte, mich genau daran zu erinnern, was passiert war und in welcher Reihenfolge. „Da war dieser Typ in der offenen Tür, er hatte eine Waffe in der Hand und wilde Augen, hektisch, als ob er high wäre. Er hat mich gefragt, was los ist, aber er wollte nicht wirklich eine Antwort. Da war dieser Hass in seinen Augen. Ich erinnere mich, dass ich Laurie auf meine andere Hüfte genommen habe, damit ich die Tasche mit der Waffe erreichen konnte.“ Ich warf Neil einen Blick zu. „Ich hatte noch nie zuvor so eine Waffe benutzt, aber das würde ich, wenn ich musste.“
„Gut“, sagte Neil, hielt die Dinge einfach. Ich konnte jedoch das Zögern in ihm sehen und ich fragte mich, ob dies
der Moment war, in dem ich seine ruhige Geduld verlor und er der Mann wurde, der mich verhaftete.
„Ich habe mich klar zu erkennen gegeben und dieser Mann hat gesagt, dass Rachel seine Frau ist und Laurie sein
Sohn, sein Eigentum. Immer und immer wieder. Nichts davon hat irgendwie Sinn ergeben. Ich habe versucht, ganz Alpha-Mann zu sein, weißt du, habe Rachel hinter mich geschoben, mich gedreht, damit Laurie geschützt war und ich habe mich aufgebaut wie ein verdammter Champion.“ Ein abschätziges Schnauben entkam mir. „Ich war nicht dort, um ein Held zu sein, ich musste nur Rachel da rausholen. Ich zog die Waffe und er hat mich ausgelacht, hat betont, dass er ohnehin bereit war zu sterben. Laurie fing zu weinen an und ich wusste mit absoluter Sicherheit, dass ich diesen Mann für das, was er meiner Familie angetan hatte, verletzen konnte.“
„Also hast du ihn erschossen?“
„Nein.“
Neil sah erleichtert aus. Das würde er nicht mehr sein, wenn er die ganze Geschichte hörte, die ich mir ausgedacht hatte. Alles bis jetzt war an die Wahrheit angelehnt, aber von diesem Punkt an war es frei erfunden.
„Er wollte, dass Laurie zu ihm geht, aber Laurie schrie mir ins Ohr und ich gab ihn Rachel und sagte ihr, dass sie ihn in mein Auto bringen sollte. Sie hatte schreckliche Angst, schrie, dass die anderen sie umbringen würden, und Callum wedelte mit der Waffe herum. Ich sagte, dass wir gehen würden und dass er mich erschießen müsste, um mich aufzuhalten. Er lachte wieder, ich schwöre, dass er unter Drogen stand, er war manisch vor Selbstbewusstsein und Arroganz. Ich trat über die Türschwelle und er bedrängte mich und verdammt, der Wahnsinn in seinen Augen. Ich habe noch nie zuvor so etwas gesehen. Wir hörten beide, wie die Tür des Autos sich schloss, sie hatte es mit Laurie dorthin geschafft. Seine Waffe wankte, als er über meine Schulter starrte und ich schlug ihm auf die Nase und er landete auf dem Boden. Ich schlug noch einmal zu, er war am Boden, benommen und ich ließ die Waffe fallen. Ich bin zum Auto gelaufen, habe dabei die Waffe wieder aufgehoben, aber er hat versucht, mich anzuspringen, und die Waffe ist losgegangen. Ich habe ihn erschossen.“
„Wo?“ Dieses Mal war Neil an der Reihe zu reden, er war bis jetzt so still gewesen.
Ich musste schnell nachdenken. Ich erinnerte mich daran, wie er dagelegen war und an das Blut und dann wusste ich genau, wo das Loch gewesen war.
„Die Kugel hat ihn am Hals erwischt.“
Neil klopfte mit seinem Stift auf seinen Block und musterte mich mit ruhigem Blick. „Hast du angehalten, um zu sehen, ob du ihm irgendwie helfen kannst?“
„Natürlich, ich habe seinen Puls überprüft, er war tot. Laurie war hysterisch und Rachel schluchzte und ich wusste nicht, was
ich tun sollte.“ Ich sah Neil wieder an und er nickte. „Es waren noch andere da, sie haben aus den Schatten heraus zugesehen, zwei von ihnen waren bewaffnet, darum bin ich in die Richtung des Autos gerannt, über den Zaun gesprungen und wir sind abgehauen. Hierher gefahren.“
Neil tippte mit seinem Stift weiter auf den Block, rang sich offensichtlich dazu durch, etwas in Zusammenfassung dieser ganzen Situation zu sagen.
„Ich möchte dir etwas zeigen.“ Er griff in seine Schreibtischschublade, öffnete eine Akte. „Der Privatdetektiv ist zuerst zu mir gekommen, wollte in Bezug auf den Fall der örtlichen Polizeibehörde seinen Respekt erweisen, hat mich aber ermutigt, seinen Besuch als inoffiziell zu betrachten. Er hat mir genügend Einzelheiten genannt, um zu beweisen, dass Rachel Lennox eine Person von Interesse ist und wollte wissen, was ich über sie und jeden, der mit ihr in die Stadt gekommen war, wusste. Er war hier, um einen vermissten Mann zu finden, nicht, um nach dir oder Rachel zu suchen.“
Das wusste ich, aber es spielte keine Rolle. Oder? Es musste immer noch einen Schuldigen geben, jemand musste bezahlen.
Neil fuhr fort. „Ich habe ein paar Gefallen eingefordert, aber sogar damit sind die Einzelheiten dieses Falles auf viel höherer Ebene gebunden, als ich es sehen kann. Der Fall ist abgeschlossen, Micah. Er wurde zum Mord-Selbstmord erklärt, als mehr Leichen in den verbrannten Ruinen des Hauses gefunden wurden. Die meisten waren zur Unkenntlichkeit verbrannt, alle mit Ausnahme eines Mannes, der anscheinend Selbstmord begangen hat und draußen gefunden wurde. Es wird angenommen, dass er derjenige war, der jedes Mitglied des Kultes getötet und dann das Feuer gelegt hat.“
Mir wurde schlecht. Wie kurz war Rachel davorgestanden zu sterben? Hätten sie sie umgebracht, obwohl sie schwanger war? „Wie viele sind umgekommen?“
„Zwei Männer, vier Frauen, zwei Kinder und ein Baby. Die Forensik weist auf Gift hin, ein Mann, dein Mann
, wurde mit einer Kugel in seiner Kehle gefunden. Es gab Beweise, dass dies eine Weltuntergangsreligion war.“
„Ich verstehe das nicht. Warum kam das nicht in den Nachrichten? Ich habe jeden Tag online nachgesehen. Stündlich.“
„Geld kann eine Menge Dinge vertuschen. Der Mann, der vermisst wird, ist der Sohn eines US-Senators, sein Bruder war in dem Kult. Es wurde nicht öffentlich gemacht und ich nehme an, das ist wegen bestimmter politischer Empfindlichkeiten.“ Neil schüttelte seinen Kopf und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. „Sie wollen alles unter den Teppich kehren und ich werde nichts von dem, was du mir erzählt hast, in die Akten aufnehmen, Micah. Du hast einen Mann in Notwehr erschossen, deine misshandelte, schwangere Schwester und deinen Neffen vor einem Kult gerettet, der vorhatte, sich aus irgendwelchen religiösen Gründen selbst zu zerstören. Dieser Fall ist abgeschlossen.“
„Nein, du verstehst das nicht. Ich will in den Akten haben, dass ich es war, damit es Rachel nicht schaden kann. Jemals.“
Neil schloss kurz seine Augen. „Was dort passiert ist, geht mich nichts an, es sei denn, du machst es offiziell. Es ist egal, ob du in Notwehr geschossen hast oder ob Rachel diejenige war, die es getan hat.“
„Ich war es“, leugnete ich schnell.
„Denkst du, ich würde sie für das, was sie getan hat, verurteilen? Ich habe die Fotos von dem gesehen, was übrig war, Micah. Die Bilder werden mir Albträume bescheren. Mach das, um Himmels willen, nicht real. Wenn du das tust, setzt du dich selbst und deine Familie
, Fragen aus. Weil wir gerade dabei sind, dieses Gespräch freundlich und vertraulich führen, was willst
du, dass ich tue?“
„Es kann nicht so einfach sein“, sagte ich und fing an, im Büro auf und ab zu gehen, unfähig, ruhig zu sitzen. „Ich muss wissen, dass Rachel niemals Fragen zum Tod ihres Ehemannes gestellt werden.“ Ich hielt abrupt an und sah Neil direkt an. Mein Magen drehte sich um und der Druck, der sich in mir aufbaute, musste explodieren. „Kannst du mir das zusagen?“
Neil schüttelte den Kopf. „Ich kann dir sagen, dass die Suche nach dem Sohn des Senators es zu etwas außerhalb unserer Kontrolle macht. Aber es gibt von außen keine Anfragen bezüglich der Toten. Es ist abgeschlossen, Micah. Lass es ruhen.“ Er nahm meine Hand und schüttelte sie. „Für Rachel, lass es jetzt ruhen.“
Als ich das Büro des Sheriffs verließ, sah ich Daniel davorsitzen. Er sagte nichts, stand aber sofort auf. Wir traten in die Kälte und dort, in der Isolation einer überfrorenen Straße, erzählte ich ihm alles, was der Sheriff mir gesagt hatte.
Er lauschte jedem Wort und machte keine Bewegung. Als ich fertig war, wartete ich darauf, dass er einen Kommentar abgab, und er starrte mich nachdenklich an.
„Es ist eine ehrenhafte Sache, deine Schwester zu beschützen“, murmelte er.
Ich ging sofort in die Verteidigung. „Du hörst nicht zu.“
Er stand auf und umarmte mich, als ob er mich niemals wieder loslassen würde.
„Nein, Micah, ich höre wirklich zu, zum ersten Mal in meinem ganzen Leben.“
„Daniel—“
„Jesus, Micah, willst du wohl auf mich hören? Ich liebe dich. Ich liebe dich schon seit Ewigkeiten. Zuerst als Freund meines Bruders, dann als das Kind, das ein winziges Kätzchen in unsere Küche gebracht hat, durchgehend, bis wir zusammen waren. Ich habe dich damals geliebt und ich habe niemals aufgehört, dich
zu lieben. Durch alles hindurch, warst du immer in meinem Herzen.“
Das war eine leidenschaftliche Rede, aber der Knoten in meinem Brustkorb wollte sich nicht lösen. „Ich will …“ Ich konnte nicht einmal anfangen zu erklären, was ich wollte
. Das hielt Daniel nicht davon ab, weiterzureden.
„Was willst du?“, fragte er vorsichtig.
„Ich liebe dich auch“, gab ich in festem Tonfall zu, nur für den Fall, dass er dachte, ich wäre mir nicht sicher. „Zur Hölle, ich habe nie aufgehört, dich zu lieben, sogar als ich mir selbst eingeredet habe, dass es eine unmögliche, hasserfüllte Sache wäre, die mich zerstören konnte, wenn ich nicht damit aufhörte.“
„Denkst du, wir können es noch einmal versuchen? Von vorne anfangen? Oder die Dinge zumindest akzeptieren? Ich liebe dich …“
„Aber vergibst du mir?“, fragte ich eindringlich.
„Es war nicht deine Schuld, Micah. Es war eine Abfolge von Dingen, die nie hätten passieren dürfen.“
„Aber vergibst du mir?“
Er runzelte die Stirn. „Natürlich tue ich das.“
„Daran ist nichts natürlich.“ Ich hasste es, dass ich das machte. Was versuchte ich zu erreichen, indem ich so heftig drängte? Vielleicht war es nur, weil ich mein Herz nicht vollkommen öffnen wollte, um dann mitzuerleben, wie Daniel eines Morgens aufwachte und sich daran erinnerte, dass alles meine Schuld war. Ich könnte es nicht ertragen, wenn er mich hasste.
Weil er mich vielleicht genau so sehr hasst, wie er sagt, dass er mich liebt
.
„Ich gebe dir keine Schuld an dem Unfall. Ich vergebe dir jede Kleinigkeit, die uns auseinandergetrieben hat. Jetzt bist du dran.“
„Womit?“
„Mir zu vergeben, dass ich dich ausgeschlossen, dir die Schuld gegeben habe.“
Ich verschränkte meine Hände hinter seinem Kopf und starrte in seine wunderschönen Augen. Vielleicht mussten wir beide einfach nur diese Worte hören.
„Ich vergebe dir. Ich liebe dich.“
„Können wir neu anfangen?“ Er fragte vorsichtig, legte seine Hände auf meine Hüften.
„Ich will nicht, dass wir neu anfangen.“ Ich sah das Aufblitzen von Trauer in seinen Augen, die ich dort nicht hatte platzieren wollen. „So habe ich es nicht gemeint. Ich meinte, dass ich möchte, dass wir alles, was passiert ist, annehmen und einander trotz der Erinnerungen lieben. Aber auch wegen ihnen.“
Er lächelte und zog mich näher an sich.
„Ich liebe dich, Micah.“
Und es war so einfach für mich, aus ganzem Herzen zu antworten. „Ich liebe dich auch, Daniel.“
„Immer?“
„Für immer.“