Es konnte doch nicht so schwer sein. Frustriert saß ich auf dem Ecksofa in unserem Wohnzimmer und schrammelte auf Moms Lagerfeuergitarre herum. Dicker Regen prasselte an die Glasfront, die zu unserem Garten hinausging. Mit einem Seufzer legte ich die Gitarre aufs Sofa und schlich in die Küche, um mir etwas zu essen zu holen. Es konnte doch nicht so schwer sein, dachte ich noch einmal, während ich ein Stück Schwarzbrot mit schottischem Bio-Lachs belegte und mampfend ins Wohnzimmer zurückkehrte. Es konnte doch nicht so schwer sein, einen eigenen Song zu schreiben.
Schließlich bestanden selbst die Meisterwerke von Nirvana meist aus gerade mal drei Teilen: Strophe, Refrain sowie einer Bridge, die vor den letzten Refrain eingeschoben wurde. Doch obwohl ich seit Wochen am Herumprobieren war, kam ich einfach nicht vom Fleck. Jedes Gitarrenriff und jede Melodie, die mir in den Sinn kamen, stellten sich früher oder später als Abklatsch eines Songs heraus, der auf meiner Stereoanlage gerade auf Heavy Rotation lief. Vermutlich, überlegte ich, musste ich einfach auf die Inspiration warten. In den Interviews im Rolling Stone erzählten Musiker oft von plötzlichen Eingebungen, die sie in Hotelzimmern oder auf nächtlichen Taxifahrten überkamen. Doch ich führte nun mal nicht deren aufregendes Leben. Meines spielte sich lediglich zwischen der Schule und unserem Zuhause ab. Ich sah zum Garten hinaus, wo das Wasser von der grauen Plastikplane ablief, mit der Paps den Steinofen für den Winter abgedeckt hatte. Wie sollte mich die Inspiration hier je finden?
Ich warf mich aufs Sofa und stellte den Fernseher an, dann hob ich die Gitarre wieder auf und schrammelte gelangweilt weiter. MTV Cribs lief. Es war eine Sendung, in der Rap- und Rockstars ihre kindisch eingerichteten Villen voller Whirlpools, Privatkinos und Playstations präsentierten. Immer öfter zeigte MTV solchen Unsinn statt Musikvideos. Doch bevor ich mich weiter darüber ärgern konnte, drang auf einmal ein messerscharfer Klang an meine Ohren. Er kam nicht aus dem TV-Lautsprecher, stellte ich überrascht fest. Sondern von der Gitarre auf meinem Schoß.
Meine Finger hatten einen Dreiklang gegriffen und tasteten schon nach dem nächsten Akkord, den ich bereits in meinem Kopf hörte. Zu meiner Überraschung fanden sie ihn auch und darauf gleich einen dritten, der die Spannung des zweiten auflöste und damit das Riff abschloss.
Aufgeregt rannte ich auf mein Zimmer, holte den digitalen Handrekorder, den ich fürs Komponieren gekauft hatte, und spielte das Riff ein. Während ich es in Endlosschleife abspielte, begann ich, eine Melodie dazu zu summen. Rasch fand ich eine Gesangslinie für die Strophe. Nach einer Weile, als ich schon fürchtete, die Inspiration habe mich verlassen, auch eine eingängige Melodie für den Refrain. Ich nahm alles auf und fügte mit der Gitarre eine Bassspur hinzu, die ich im Gegensatz zu den abgehackten Akkorden durchlaufend spielte. So kam das Stück in Fahrt.
Gespannt spielte ich das Ganze auf dem Rekorder ab. Ich atmete auf: Der Song glich keinem anderen, den ich kannte. Er war einzigartig. Vor Euphorie geriet ich so aus dem Häuschen, dass ich die Aufnahme immer wieder abspielte und dazu auf dem Teppich vor dem Sofa auf und ab hüpfte.
Als sich Peter den Song am nächsten Morgen in der Schule angehört hatte, riss er sich verblüfft die Kopfhörer des Handrekorders aus den Ohren.
«Hast du das komponiert?»
«Ja!» Ich platzte fast vor Stolz.
«Hast du auch Lyrics dazu?»
Ich schüttelte den Kopf. An den Text hatte ich überhaupt nicht gedacht. Da in dem Augenblick Herr Hummler das Klassenzimmer betrat, kehrte ich zu meinem Pult zurück und zerbrach mir, während der Rest der Klasse eine Cicero-Übersetzung in Angriff nahm, den Kopf darüber, wovon mein Song handeln könnte. Ich hatte keine Freundin, die mich hätte verlassen können. Wenn man davon absah, dass Jana aus meiner Pultreihe meine Blicke seit einer Weile nicht mehr erwiderte. Und zu meinem Leidwesen dafür nun ständig mit ihrem Banknachbarn tuschelte. Abgesehen davon war mein Leben frei von Dramen. Ich war nicht drogensüchtig, und meine Eltern liebten mich. Krieg oder Terror waren in der Schweiz in nächster Zeit auch kaum zu erwarten.
«Mir fällt nichts ein», gestand ich Peter am Ende des Schultages niedergeschlagen. «Hier passiert ja nie was. Nicht mal ein Getto gibt es hier in Zürich.»
Peter überlegte: «Doch. Komm mit!»
Etwas später standen wir in der Hardau, wo Peters Familie wohnte. Von nah wirkten die Türme, die höchsten der Stadt, tatsächlich um einiges eindrücklicher als aus der Ferne. Stockwerk um Stockwerk stapelten sich die eingezogenen Balkone und die Fensterreihen mit den ziegelroten Metallrahmen in den farblosen Himmel. Wir zurrten unsere Jacken fest, weil ein steifer Wind eingesetzt hatte, und hockten uns auf eine Bank, hinter der jemand Fuck Cops auf den Beton gesprayt hatte. So richtig wie ein Getto wirkte die Hardau aber nicht; dafür waren die Rasenstücke unter den Türmen zu ordentlich gestutzt.
Mit geteilten Ohrstöpseln hörten wir meine Songskizze vom Rekorder ab. Ich wartete währenddessen mit Kugelschreiber und Notizblock in den Händen darauf, dass mir etwas einfiel. Doch nach einer halben Stunde stand bloß Lost in Concrete auf dem Papier. Außerdem schmerzten meine Finger vor Kälte. Peter hatte die Hände in den Jackentaschen vergraben und wippte ungeduldig mit den Füßen; sein Blick schweifte über den menschenleeren Vorplatz.
«Dir fällt auch nichts ein, oder?», fragte ich leicht gereizt.
«Nein.» Peter zog Rotz hoch und spuckte vor seine Füße. «Ich glaube, du bist der Kreativere von uns beiden.»
Doch kaum hatte ich mich wieder Stift und Papier zugewandt, packte er mich am Arm.
«Achtung», raunte er, «da sind die Hirnamputierten.»
Drei Gleichaltrige kamen breitbeinig auf uns zu. Sie trugen Trainingshosen von Fila und obenherum, trotz der Kälte, bloß Fußballtrikots. Das mussten die Jungs sein, von denen mir Peter erzählt hatte. Meist hörten sie auf einem tragbaren CD-Player Hip-Hop oder spielten Fußball auf dem Rasen neben der Siedlung. Wurde ihnen aber langweilig, munterten sie sich damit auf, andere zu piesacken. Peter in seinen Caritas-Klamotten gab da natürlich ein traumhaftes Ziel ab.
«Da ist ja der Kürbiskopf.» Der Kleinste der Jungs, der zugleich der Breiteste war, blieb vor unserer Bank stehen. Obwohl ich ihn kaum zu interessieren schien, brach mir der Angstschweiß aus.
«Es ist doch Oktober, Kürbiskopf», machte der Kleinste weiter, säbelte mit einem imaginären Messer in der Luft herum, «wieso hat noch niemand Suppe aus deinem Kopf gemacht?»
Seine beiden Kollegen prusteten los, vermutlich weil Peters rundes Gesicht und der Rotstich seiner Locken mit etwas Fantasie an einen Kürbis erinnerten. Peter hatte sich über die Jahre wohl zu viele solcher Pöbeleien anhören müssen. Vielleicht wollte er auch nicht vor mir bloßgestellt werden. Auf jeden Fall stand er auf, statt die Provokation zu ignorieren, fixierte den Kleinen mit kühlem Blick und erwiderte: «Die einzigen Kürbisse, die es hier gibt, sind die dicken Titten deiner Mutter, die ich gestern gebumst habe.»
Ich brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, was Peter da von sich gegeben hatte. Genau wie die drei Jungs, die ungläubig ihre Mäuler aufsperrten. Peter riss mich von der Bank hoch und rannte los. Ich sprintete hinterher, die drei Jungs, die sich aus ihrer Starre gelöst hatten, dicht im Rücken, und folgte Peter in den Eingang eines Wohnturms. Wir rannten wie um unser Leben, sprangen drei Treppenstufen auf einmal hoch und schwangen uns ums Geländer zum nächsten Treppenlauf, sodass wir fast in die Wand krachten. Nach ein paar Stockwerken warfen wir unsere Köpfe zurück und realisierten, dass unsere Verfolger längst aufgegeben hatten. Da sie aber vermutlich noch unten herumlungerten und wir schon fast in Peters Etage angekommen waren, entschied er, dass wir einstweilen dort Zuflucht suchen sollten.
An der Wohnungstür hing eine goldgerahmte, altmodisch verschnörkelte Aufschrift: Glaube an den Herrn Jesus, so wirst du und dein Haus selig! Peter zog seinen Schlüssel hervor, bedachte mich mit einem warnenden Blick und öffnete. Ich roch Gemüsesuppe, als ich hinter ihm eintrat. Es war das erste Mal, dass ich Peters Zuhause sah. Die Wohnung war klein und eng, das Licht dämmrig. Direkt hinter dem Eingang lag schon die Küche. Peter ging zum Herd und hob naserümpfend den Deckel der vor sich hin köchelnden Suppe. Dann nahm er zwei Gläser aus dem Küchenschrank darüber und füllte sie mit Leitungswasser. Wir leerten sie in einem Zug und keuchten weiter, noch immer außer Atem vom Treppenrennen.
«Hetzen bringt nie etwas, Peter.»
Sein Vater trat in Pantoffeln und Wollpullover aus dem schummrigen Flur rechts von der Küche. In einer Hand hielt er eine Kaffeetasse. «Zu spät bist du so oder so.»
«Ich habʼ die Zeit vergessen», erwiderte Peter und stupste mich an. «Janosch hilft mir wieder mal mit Französisch.»
«Eigentlich schätzen wir es, wenn du Besuch vorher anmeldest. Aber das weißt du ja, Peter.» Sein Vater warf ihm einen strengen Blick zu, rang sich dann aber doch ein Lächeln ab und machte einen Schritt nach vorne, um mich zu begrüßen. Als er meine Hand drückte, bemerkte ich die Kekskrümel, die in seinen Barthaaren hingen.
«Wozu brauchst du denn dieses Gerät, Janosch?», fragte er. Erst hatte ich keine Ahnung, wovon er sprach, doch dann folgte ich seinem Blick zu meiner Hand hinunter. Ich erschrak so sehr, dass ich das Aufnahmegerät fast auf den Linoleumboden hätte fallen lassen. Weil es mir schwerfiel zu flunkern, geriet ich in Panik, mich zu verplappern und unser Bandprojekt auffliegen zu lassen. Doch Peter kam mir zu Hilfe. Er erklärte seinem Vater, dass das Gerät der Schule gehöre und wir die Aufgabe hätten, damit Französisch-Vokabeln aufzunehmen. Kaum hatte er das gesagt, bugsierte er mich in sein Zimmer, wo wir die Tür hinter uns schlossen und aufatmeten. Ein wenig kam es mir vor, als sei unsere Verfolgungsjagd erst jetzt zu ihrem Ende gekommen.
Wir warfen unsere Schulrucksäcke auf den Teppich mit dem bunten Spiralmuster. Genau wie die schief stehende Ikea-Kommode, der winzige Schreibtisch am Balkonfenster und das Etagenbett sah er aus wie ein aus der Mode geratener Einrichtungsgegenstand, den auch wir mal besessen haben könnten, inzwischen aber längst entsorgt oder im Brockenhaus abgeliefert hätten. Peter beugte sich über die untere Matratze des Etagenbetts, von der ein Quietschen erklang.
«Rebekka, das ist mein Freund Janosch», sagte er und machte Platz, damit ich ebenfalls hinzutreten konnte. Peter hatte mir schon viel von seiner kleinen Schwester erzählt. Ich erschrak trotzdem, als ich sie nun vor mir sah und ihre verkrümmten Fingerchen drückte. Alles in ihrem Gesicht wirkte, als sei es von seinem richtigen Platz verrutscht. Aus einem Mundwinkel lief Speichel herab. Ich war erleichtert, als Peter sich wieder vor mich schob, mir das Aufnahmegerät aus der Hand nahm und Rebekka die Stöpsel in die Ohren steckte. Er drückte Play, worauf seine kleine Schwester mit den Armen zu strampeln begann und ein unverständliches Brabbeln von sich gab.
«Sie mag den Song», stellte Peter zufrieden fest. «Also taugt er definitiv was. Fehlt nur noch der Text.»
Ich öffnete die Tür zum eingezogenen Balkon und trat an die Betonbrüstung. Für einen Augenblick empfand ich eine riesige Dankbarkeit darüber, dass ich in meiner Familie aufwuchs und nicht an diesem trostlosen Ort. Ich sah hinunter auf den Vorplatz und erblickte die drei Jungs von vorhin. Sie tummelten sich auf derselben Bank, auf der Peter und ich zuvor gesessen hatten. Plötzlich kam mir eine Idee. Ich eilte ins Zimmer zurück und griff nach Notizblock und Stift, die neben meinem Rucksack lagen. Während Peter mit Rebekka spielte, kritzelte ich drauflos. Als ich die richtigen Worte gefunden hatte, zeigte ich ihm die beiden Zeilen auf dem Block.
Watch out, watch out for the Tower Boys
Is it so much fun to see us run?
Peter nickte anerkennend. «Das könnte klappen.»
Wir stöpselten uns je einen Kopfhörer ein, spielten die Aufnahme ab und sangen leise den Text dazu. Mit Glanz in den Augen sahen wir uns an. Die Lyrics passten wie angegossen zum Rhythmus des Refrains. Peter kümmerte sich wieder um Rebekka; ich schrieb weiter, vom gleichen Fieber gepackt wie am Vortag beim Komponieren. Bald hatte ich die Verse für die erste Strophe beisammen. Ich war so vertieft, dass ich gar nicht bemerkte, wie es draußen finster wurde und im Nachbarturm die Lichter angingen. Irgendwann öffnete Peters Vater die Zimmertür und fragte, ob ich nicht langsam nach Hause müsse.
Da ich offensichtlich nicht zum Abendessen eingeladen war, packte ich Rekorder und Notizblock in meinen Rucksack und verabschiedete mich von Peter. Unten trat ich vorsichtig vom Turmeingang auf den schummrig beleuchteten Vorplatz. Unsere Verfolger waren verschwunden; vermutlich waren auch sie zum Abendessen gerufen worden.
Während ich durch die Kälte zur nächsten Tramstation stolzierte, machte sich ein wärmendes Hochgefühl in meiner Brust breit. Wir hatten unseren ersten Song.
Zur nächsten Probe erschien Linda mit einem schwarzen Bandana um die Stirn. So flögen ihr beim Spielen die Haare nicht so ins Gesicht, erklärte sie. Obendrein sah sie auch noch ziemlich cool aus damit. Wir übten Tower Boys, wie wir unseren Song nannten. Die ersten Durchgänge kamen noch recht holprig daher. Doch dann kriegte Linda den Dreh raus: Sie unterlegte das Lied mit einem Wechsel aus Bassdrum und geschlossener Hi-Hat, die sie beim Refrain öffnete und damit ordentlich Krach veranstaltete. Ihr Rhythmus zog so stark, dass ich mich beim Spielen hin- und herschwang, bis sich mein Basskabel ganz verquirlte.
«Wir brauchen einen Auftritt», entschied ich, als wir nach zwei Stunden schwitzend die Instrumente abschnallten.
«Wir können doch erst eine Handvoll Songs», wehrte Janosch ab. «Und nur einer ist von uns.»
«Na und?» Ich schnaubte gereizt. «Für ein kleines Konzert reicht das allemal!»
Da Janosch weiter auf stur schaltete und auch Linda nicht übermäßig motiviert tat, nahm ich die Sache selbst in die Hand. Ich schrieb die Adressen von Clubs und Konzertlokalen aus den Kulturagenden der Zeitungen raus und beschloss, dort mein Glück zu versuchen.
Am nächsten Wochenende packte ich einige Demo-CDs, die ich auf einem der bunten iMacs im Computerraum unserer Schule gebrannt hatte, in meinen Rucksack. Genau ein Song war darauf: eine rudimentäre Aufnahme von Tower Boys, die wir in der letzten Probe mit Janoschs Rekorder aufgezeichnet hatten. Zur Tarnung legte ich einen Stapel Flugblätter der Brüder und Schwestern über die CDs. So hatte ich eine gute Ausrede, für einige Stunden von zu Hause zu verschwinden.
Die Flugblätter schmiss ich unterwegs in die Sihl. Danach strampelte ich ins Rotlichtviertel der Stadt weiter, wo gelangweilte Nutten auf den Fenstersimsen von 24-Stunden-Kiosken kauerten. Hier befand sich die erste Adresse auf meinem Zettel. Hinter einem Sexkino bog ich in eine Seitengasse ab und stieß die vollgesprayte Tür einer Rock-Bar namens Anakonda auf. Ich musste husten, weil ich mitten in eine Tabakwolke trat. An Rundtischen saßen Rocker-Opas in Lederkutten und warfen mir über ihre Biere hinweg herausfordernde Blicke zu. Ich ignorierte sie und ging direkt auf die mit blechernen Highway-Schildern und Neon-Leuchtschriften dekorierte Bar zu.
Dort zapfte eine Frau mit dicken, tätowierten Armen Bier.
«Ich spiele in einer Band», erklärte ich und legte eine unserer Demo-CDs auf den Tresen. «Können wir hier auftreten?»
«Nein», erwiderte sie ungerührt.
«Aber hier gibt es doch manchmal Konzerte, oder?» Ich nickte zur winzigen, dreieckigen Bühne, die in eine Ecke der Bar gequetscht war.
«Wir sind schon ausgebucht für die nächste Zeit.» Immerhin hob die Frau nun kurz den Blick von der Zapfanlage, bevor sie weiter Bier ins zerkratzte Glas laufen ließ.
«Aber wir haben einen Song, der bläst Ihnen die Birne weg. Versprochen!» Ich schob ihr die CD über den Tresen zu.
«So, tut er das?» Die Frau stellte das Bier ab, stützte ihre Arme auf den Tresen und lächelte dünn. «Die Antwort ist trotzdem nein. Außerdem liegen bei uns schon so viele Demos von Bands herum, dass ich meine Wohnung damit tapezieren könnte.»
Auch an den übrigen Adressen kriegte ich nur Absagen. Als wäre dies nicht genug, rief am Montag auch noch irgendein Idiot von der Stadtverwaltung bei uns zu Hause an. Jemand hatte einige der Flugblätter aus der Sihl gefischt, und der Beamte drohte mit einem Bußgeld für die Brüder und Schwestern Jesu Christi, sollte das noch mal passieren. Ich konnte mich gerade noch aus der Affäre ziehen, indem ich behauptete, die Hirnamputierten hätten mir die Flugblätter geklaut. Ich kam mit einem Tag Hausarrest davon. Trotzdem schob ich eine heftige Krise. Wie sollten wir so je ein Konzert kriegen? Ich glaubte schon, auf alle Ewigkeiten dazu verdammt zu sein, im Keller der Grunders zu proben.
Doch dann, kurz vor Weihnachten, hatte ich endlich mal Glück. Eine Basssaite riss mir beim Proben. Also ging ich am schulfreien Nachmittag ins Musikhaus, um Ersatz zu kaufen. Es war gerade tote Hose. An der Kasse, über der wohl zum Scherz ein roter Weihnachtsstrumpf hing, stützte der Verkäufer mit dem Ziegenbart die Ellbogen auf den Tresen und quatschte mit einem anderen Mann. Der war schon älter, dreißig vielleicht, und hatte ausufernde Geheimratsecken. Aber auch eine coole olivgrüne Bundeswehr-Jacke mit aufgenähten Bandstickern.
«Das weiß doch jeder Depp, dass man in einer Band nichts miteinander anfängt», schimpfte er gerade, als ich hinter ihm anstand. «Nicht, wenn man es ernst meint, Leute!»
Der Verkäufer nickte und spielte dabei mit seinem Nietenarmband. Dann fiel sein Blick auf mich. Was ich denn wolle, raunzte er.
Ich fragte nach Basssaiten, worauf er ein Set von einer Stange hinter der Kasse schnappte und den Zwanziger einkassierte, den ich mir von Janosch gepumpt hatte.
Der andere Mann ließ sich davon nicht in seinem Gejammer unterbrechen. Nun brauche er eine neue Vorband, quengelte er und wedelte mit den Händen in der Luft. «Am ersten Januarmontag! Dann sind doch alle noch von Neujahr verkatert. Oder in den Bergen.»
Ich steckte das Rückgeld ein, das mir der Verkäufer reichte, und nahm meinen ganzen Mut zusammen: «Ich bin in einer Band», schaltete ich mich ein. Wir könnten spielen!»
Der Ziegenbart setzte ein dämliches Grinsen auf. «Hast du nicht erst vor ein paar Wochen hier einen Bass gekauft?», fragte er. «Kannst du denn überhaupt schon spielen?»
«Ich übe jeden Tag!», entgegnete ich. Was ich ja auch getan hätte, wenn ich wie Janosch über meinem Proberaum gewohnt hätte. Er zuckte gleichgültig mit den Schultern, doch das Interesse des anderen Mannes war geweckt.
«Was spielt ihr denn?», fragte er und kramte Tabak sowie Papers aus seiner Jackentasche.
«Alternative Rock.»
«Das spielen doch alle. Ich meine: Wie klingt ihr?»
Ich streifte meinen Rucksack ab, in dem für genau solche Fälle nun immer eine Demo-CD steckte, und wollte sie dem Mann geben. Da er aber schon mit Zigarettendrehen beschäftigt war, nickte er zum Verkäufer weiter. Der nahm mir die CD demonstrativ seufzend ab und schob sie in die Stereoanlage, die hinter dem Tresen stand. Ich erschrak, als die ersten Takte von Tower Boys aus den Hi-Fi-Boxen schallten. Auf den Kopfhörern von Janoschs Rekorder hatten meine Stimme und Lindas Crashs nicht dermaßen übersteuert geklungen. Die beiden anderen schnitten schmerzhafte Grimassen, der mit einem silbernen Totenkopfring bestückte Finger des Ziegenbarts fuhr schon auf die Stopp-Taste zu. Doch dann setzte der Refrain mit Watch out, watch out for the tower boys ein. Der Finger hielt inne. Und der Mann mit den Geheimratsecken sah überrascht von der fertig gedrehten Zigarette auf.
Vor der nächsten Probe klingelte Tom, wie der Mann hieß, an der Tür der Grunders. Er war zwar nur Mitglied eines Kollektivs, das montagabends in einer alten Gewerbehalle Konzerte organisierte. Doch wir empfingen ihn wie den Chef von Universal Records. Oder gleich wie den Sonnenkönig persönlich. Moni nahm ihm die Bundeswehr-Jacke ab, Janosch holte ihm ein kühles Bier aus der Küche. Dann gingen wir nach unten, wo es inzwischen nach einem richtigen Proberaum aussah. Ich und Janosch hatten vor einigen Tagen den Keller entrümpelt und dafür einen Orientteppich als Unterlage fürs Schlagzeug und ein Sofa für die Pausen aus dem Brockenhaus geholt. Tom schwang sich aufs abgeranzte Leder, dann spielten wir ihm unser Set vor. Es bestand aus Nirvana-Covers, Tower Boys und einem weiteren Song, den Janosch in der Zwischenzeit geschrieben hatte.
Als wir fertig waren, zog Tom sein Tabakzeug hervor und räusperte sich: «Ich sage es lieber geradeheraus, Leute», fing er an. «Eigentlich gehört ihr noch nicht auf eine Bühne.»
Janosch warf mir einen besserwisserischen Blick zu.
«Ihr spielt wild durcheinander», fuhr Tom fort und verteilte gleichmäßig Tabak auf einem Paper. «Euch fehlt es einfach an Übung.»
Janosch nickte wie ein Streber. Linda legte betreten die Drumsticks auf die Snare. Ich schnaubte leise.
«Aber ich habe gesagt: eigentlich.»
Tom schmunzelte, steckte sich die Zigarette in den Mundwinkel und gab sich Feuer. Es habe ihm nämlich Spaß gemacht, uns zuzuhören, fuhr er fort und lehnte sich zurück. «Ihr habt etwas, das andere Bands auch nach tausend Proben nicht haben», sagte er und blies genüsslich Rauch aus. «Nennen wir es einmal Charisma.»
«Heißt das jetzt, wir haben den Gig?», fragte ich perplex.
Er nickte. «Erster Januarmontag. Ihr eröffnet für One Way Street. Eine halbe Stunde, maximal.»
Stürmisch bedankten wir uns und versprachen hoch und heilig, uns ins Zeug zu legen. Tom lächelte großmütig und zog an der Zigarette. «Eins noch, Leute», schob er nach. «Spielt nicht nur Covers von Nirvana. Die Leute wollen auch was anderes hören.»
Drei Wochen lang probten wir wie die Verrückten.
Wir übten so oft, dass sich Hornhaut auf unseren Fingerkuppen bildete. Im Keller wurde es währenddessen so kalt, dass wir an den Füßen und Nasenspitzen froren und zum Schluss in unseren dicksten Pullovern spielten. In den Pausen brachte uns Mom heißen Tee hinunter. Ihr war auch eine Idee gekommen, wie Peter von seinem Vater die Erlaubnis für die zusätzlichen Proben und vor allem für den Konzertabend bekam. Sie flunkerte ihm vor, dass Peter und ich mit unserem «Folkduo» an einem Liederabend für Senioren auftreten durften. Mit spitzbübischer Freude gab sie ihm sogar die Telefonnummer eines Altersheims in den Bündner Bergen, das ein Freund von ihr leitete – den sie natürlich eingeweiht hatte. Doch Peters Vater schluckte die Geschichte überraschenderweise, ohne dort anzurufen. Seine einzige Bedingung war, dass Peter vor Mitternacht wieder zurück in der Hardau sein musste.
Am Vorabend des Konzertes spielten wir unser 30-Minuten-Set, neu mit Covers von Muse und Radiohead, zweimal durch, bespannten Bass und Gitarre mit neuen Saiten und machten Lindas Schlagzeug transportbereit. Danach tranken wir in feierlicher Schweigsamkeit das Bier, das uns Paps in den Keller gestellt hatte. Als wir die Treppe jedoch hochstiegen, empfing er uns mit demselben Gesicht, mit dem er uns damals mitgeteilt hatte, dass unser Labrador Mario unter einen Laster geraten war.
«Es tut mir leid», sagte er, «wir sind aufgeflogen.»
So geschickt Paps darin war, sein kleines Copyshop-Imperium zu leiten oder einen Fahrradschlauch zu wechseln, so unbesonnen war er manchmal im menschlichen Umgang. Zerknirscht berichtete er uns, was geschehen war: Peters Vater hatte mal wieder angerufen. Weil Mom im Kino war, hatte Paps das Telefonat entgegengenommen – in Gedanken ganz beim Fußballmatch im Fernsehen, wie er sich verteidigte. Jedenfalls hatte er auf die Frage, ob Peter schon unterwegs sei, doch tatsächlich geantwortet, dass wir nur noch mit einem Bier darauf anstoßen würden, es morgen so richtig krachen zu lassen.
«Ich habe unser Versteckspiel vergessen.» Paps seufzte und sah Peter mit ernster Miene an. «Du gehst wohl besser rasch nach Hause.»
Kreidebleich zog der seine Jacke an. Doch als wir uns vor der Tür verabschiedeten, packte er mich am Arm.
«Wir treten morgen auf!», sagte er bestimmt.
«Wie denn?», wollte ich wissen. Du kriegst doch einen Monat Hausarrest nur dafür, dass du ein Bier getrunken hast!»
«Ich lasse mir was einfallen.» Er sah mich so beschwörend an, dass ich ihm mein Wort gab, das Konzert nicht abzusagen. Auch wenn ich keine Ahnung hatte, wie er das hinbiegen wollte.
Am nächsten Morgen war Peter in der Schule krankgemeldet. In der Mittagspause rief ich von der Telefonkabine im Schulfoyer aus bei ihm zu Hause an. Vielleicht, überlegte ich, hatte ihn tatsächlich die Grippewelle erwischt, die zurzeit durch die Schule schwappte. Doch das barsche «Nein», mit dem sein Vater aufhängte, nachdem ich gefragt hatte, ob ich Peter die Schulaufgaben vorbeibringen solle, ließ mich stark daran zweifeln. Ich rief Linda an, und wir beschlossen, Peter zu vertrauen und nach der Schule wie geplant das Equipment zu verladen und zum Soundcheck zu fahren.
Es war ein nebliger, verhangener Tag. Paps kurvte eine Weile lang mit zugekniffenen Augen im alten Industrieviertel herum, bis wir die richtige Seitenstraße fanden. Durch die beschlagene Frontscheibe entdeckte ich Tom, der auf der Laderampe eines zweistöckigen Gewerbebaus saß und rauchte. Er winkte uns zu, stand auf und half uns, das Equipment auf die Rampe zu hieven. Von dort nahmen wir den gefährlich ratternden Warenlift ins Obergeschoss. Als wir die schwere Doppeltür aufstießen, schallte uns vom Ende des Korridors monotoner Grunge entgegen. Das mussten One Way Street sein, die Hauptband des Abends.
Die Vorband habe immer zuletzt Soundcheck, erklärte uns Tom, während wir die erste Ladung Material durch den Korridor schleppten. So könne der Tontechniker die Einstellungen am Mischpult für den Auftritt gleich belassen.
Wir betraten eine kleine Halle mit hohen, verstrebten Industriefenstern auf einer Längsseite. Vorne waren Holzpaletten zu einer Bühne aufgeschichtet und mit dicken, ausgebleichten Orientteppichen belegt. Vier Jungs spielten darauf; sie waren etwas älter als wir und ganz sicher mehr aufs Aussehen bedacht. Zwar trugen sie zerschlissene Jeans, doch schoben sie sich bei jeder Pause ihres Instruments die gepflegten, schulterlangen Haare hinter die Ohren. Als sie den Soundcheck beendet hatten, sprangen One Way Street von der Bühne und stürmten zu ihren hübschen Freundinnen auf den beiden Ledersofas, die hinten im Saal aufgereiht waren. Daneben befand sich eine Bar mit einem verchromten Großkühlschrank, auf dem das Logo eines alternativen Lokalbiers prangte.
Während wir uns auf der Bühne einrichteten, erklärte ich Tom, dass Peter noch etwas Dringendes in der Schule erledigen müsse und deshalb erst nach dem Soundcheck komme. Tom nickte, runzelte aber die Stirn dabei. Auch ich fragte mich langsam, wie Peters Plan genau aussah. Hinter der verstrebten Fensterfront wurde es bereits dunkel.
Als sich Linda hinter die Drums gesetzt und ich meine Gibson mit dem Verstärker verbunden hatte, spielten wir ein paar Takte von Tower Boys. So konnte der Tontechniker hinter dem Mischpult die Lautstärken unserer Instrumente einpegeln. Linda und ich tauschten beunruhigte Blicke aus. In dieser Halle klangen wir ganz anders als zu Hause im Keller. Auf einmal waren unsere Instrumente glasklar zu hören – und damit auch jeder Fehler.
Nach einer Weile hob der Tontechniker den Daumen, und Tom schickte uns zum Essen. Hinten am Bartresen reichte uns jemand zwei dampfende Plastikteller Spaghetti mit Fertigsoße. Linda und ich setzten uns auf eine mit Kissen belegte Palette neben den Sofas, auf denen One Way Street mit ihren Freundinnen herumschäkerten.
«Wo bleibt Peter nur?» Linda kaute mit besorgtem Blick.
«Keine Ahnung», erwiderte ich leise und stocherte auf meinem Teller herum. Dass ich kaum einen Bissen herunterkriegte, hatte weniger mit Peters Verbleib zu tun als mit dem Lampenfieber, das mich von Kopf bis Fuß erfasst hatte. Die Halle füllte sich langsam mit Publikum. Die Leute tröpfelten zur Tür hinein, durch die wir zuvor unser Equipment getragen hatten, und bekamen an der improvisierten Kasse auf einem Stehtisch für fünf Franken einen Stempel aufs Handgelenk gedrückt. Da es Montag war, kamen hauptsächlich Studenten, die am nächsten Tag spät zur Uni mussten, wenn überhaupt, hatte Tom uns erklärt. Ich fand sie ganz schön einschüchternd, wie sie sich lässig über den Bartresen lehnten und Bierflaschen mit Bügelverschlüssen entgegennahmen. Nicht einmal, als Mom, Paps und Lindas Mutter auftauchten, beruhigte ich mich. Meine Knie begannen zu schlottern, während Paps seine Videokamera auspackte und sie unablässig durch den Raum zu schwenken begann.
Da wir in wenigen Minuten spielen sollten, kam nun auch Tom zu uns geeilt. Nervös zog er an einer Selbstgedrehten und wollte wissen, wo zur Hölle Peter stecke.
«Wir können nicht ewig warten, Leute», bestimmte er. «Wenn er nicht bald auftaucht, schicke ich One Way Street direkt auf die Bühne.»
Ich nickte. Inzwischen wäre mir das ganz recht gewesen. Ich wollte gar nicht mehr auftreten.
Ich saß am kleinen Tisch am Balkonfenster und starrte ins schwarze Nichts raus. Ich wollte nicht, dass Rebekka meine wässrigen Augen sah. Nur ab und zu blickte ich auf meine Armbanduhr. Als ob das irgendwas half. Jetzt hätten wir dann gleich auf die Bühne gehen müssen. Aber ich saß hier fest. Mein Vater, dieser Tyrann, schob draußen am Küchentisch Wache, damit ich nicht türmte.
Er war außer sich gewesen, als ich gestern Abend nach Hause gekommen war. Seine Barthaare hatten gezittert wie verrückt. Ich hätte ihn angelogen, hatte er geschrien. Wir alle hätten ihn angelogen und sein Vertrauen missbraucht. Ebenso laut schreiend erwiderte ich, dass ich ja nicht hätte lügen müssen, wenn ich die Musik spielen dürfte, die ich spielen wollte. Und überhaupt, machte ich weiter, weil ich gerade in Fahrt gekommen war. Wie könne Musik, die so fantastisch klinge, überhaupt von Satan stammen? Ich hätte morgen den ganzen Tag Zeit, über diese Frage nachzudenken, brüllte mein Vater zurück, bevor er meinen Schlüssel verlangte und mich aufs Zimmer schickte.
Mit dieser Aktion hatte er unsere Wohnung von einem sinnbildlichen in ein echtes Gefängnis verwandelt. Und damit auch meinen Plan durchkreuzt: heute nach dem Unterricht einfach direkt zum Konzertlokal zu gehen, bevor er mich in der Schule oder bei den Grunders abpassen konnte. Ich war so sauer, dass ich am liebsten das Zimmermobiliar zertrümmert hätte wie Kurt Cobain seine Gitarre nach einem gelungenen Konzert.
Stattdessen stand ich auf und lief wie ein Tiger im Käfig im Zimmer auf und ab. Ich ertrug das Sitzen nicht mehr. Vom Bett aus verfolgte mich Rebekka mit ihren großen Augen. Hätte sie gekonnt, wäre sie ganz sicher aufgestanden und hätte mich in die Arme genommen. Ich streifte meine Hausschuhe ab und fuhr mit den Socken das Spiralmuster auf dem Teppich nach. Das beruhigte mich sonst immer. Diesmal passierte aber genau das Gegenteil. Auf einmal schienen die Wände des Zimmers näher zu rücken, die Decke schien sich auf mich zu senken. Das Atmen fiel mir schwer, und ich begann, nach Luft zu ringen. Ich musste sofort hier raus. Ich rannte zur Balkontür, riss sie auf, trat hinaus und legte meine Hände auf die Betonbrüstung. Die klirrend kalte Luft brachte mich langsam wieder zur Besinnung.
Was zur Hölle war das gewesen, fragte ich mich erschrocken.
Sechs Stockwerke unter mir lag im funzligen Licht der Vorplatz. Von dort aus wanderte mein Blick zur Brüstung des Balkons unter unserer Wohnung. Mit einem Mal – so plötzlich, wie sich vorher die Wände bewegt hatten – war dieser Gedanke da. Er war komplett hirnrissig. Aber der einzige Weg, von hier wegzukommen. Ich durfte nur keine Zeit verlieren, bevor der Mut mich verließ.
Also eilte ich ins Zimmer zurück, beugte mich am Bett zu Rebekka herunter und legte verschwörerisch den Zeigefinger über die Lippen. Sie durfte keinen Alarm schlagen, sonst war ich am Arsch. Ich hob sie hoch und legte sie sachte auf den Teppich. Dann zog ich die Laken von beiden Matratzen ab, verknotete sie und ging wieder auf den Balkon. Ein Ende des improvisierten Seils band ich an der Markisenstange fest, das andere warf ich über die Brüstung. Als ich schon darauf geklettert war, vernahm ich ein Quietschen aus dem Zimmer. Rebekka lag noch immer bäuchlings auf dem Teppich, zappelte wild mit Ärmchen und Beinchen und starrte mich entsetzt an. Sie hatte Angst um mich. Ich überlegte, reinzugehen und sie zu beruhigen. Aber ich durfte keine Zeit mehr verlieren. Jede Sekunde konnte das Spatzenhirn aus der Küche ins Zimmer kommen und nachsehen, was ich trieb.
Ich wickelte das Lakenseil zweimal um eine Hand und verkrallte die Zehen in meinen Hausschuhen, damit diese nicht abfielen. Mit einem Stoßgebet – nicht zu Gott, sondern zu irgendjemand anders – ließ ich mich runter. Ich atmete nicht und dachte nichts, während ich in der Luft hing. Es war, als würde jemand anderes meinen Körper steuern. Nach einer Ewigkeit ertasteten meine Füße wieder festen Boden – die untere Balkonbrüstung. Ich ließ mich noch ein Stück weiter ab – und stand auf dem unteren Balkon.
Jetzt setzte mein Herzschlag wieder ein. So viel Adrenalin pumpte durch meinen Körper, dass ich die Balkontür auch einfach hätte eintreten könnte. Doch sie war nur angelehnt. Mit hämmerndem Puls betrat ich das fremde Wohnzimmer. Der Fernseher lief, davor hatte jemand chaotisch Kleider hingeworfen. Erst als ich mich zur Haustür schlich, kapierte ich, was los war. Aus dem Zimmer hinten im Flur, das bei uns das Elternzimmer war, drangen Gestöhne und das Quietschen eines Bettes. Ich hatte echt ein Riesenschwein; auch der Hausschlüssel steckte. Ich schlüpfte aus der Tür und stand im Treppenhaus. Unglaublich, diese hirnverbrannte Idee hatte tatsächlich geklappt. Dann kam mir in den Sinn, dass mein Vater meinen Abgang jederzeit bemerken konnte. Wie ein Lebensmüder rannte ich das Treppenhaus nach unten, zog draußen mein Fahrrad aus dem Unterstand und fuhr mit einem triumphierenden Jauchzer los.
Auf dem Video, das wir uns später ansahen und von dem uns wegen der ständigen Kameraschwenks von Paps schwindlig wurde, war die Ankunft von Peter zu sehen. «Da ist er, da ist er!», war Moms aufgeregte Stimme zu hören. Es folgte ein wilder Schwenk zum Eingang. Dort stand Peter, in Hausschuhen, Hochwasserhose und Wollpullover, und erklärte der Frau an der Kasse wild gestikulierend, dass er zur Vorband gehöre.
Als das geschah, saß ich mit brennendem Hintern auf der Toilette. Obschon niemand mehr daran glaubte, dass unser Sänger noch auftauchen würde, hatte ich aus lauter Nervosität trotzdem noch Durchfall bekommen. Doch als ich die WC-Tür aufstieß und zu meinem Entsetzen Peter erblickte, der am Eingang von Tom mit einem Kopfschütteln begrüßt wurde, war mir klar: Nun gab es kein Zurück mehr.
«Leute, Leute, was für ein verdammter Krimi!», fluchte Tom und gab dem Tonmann hinter dem Mischpult ein Zeichen. Wir versammelten uns neben der Bühne. Linda band ihr Bandana um, und Peter knetete sich die von der Kälte geröteten Finger.
Ich schloss kurz die Augen. Dann gingen auch schon die Deckenleuchten aus und die Bühnenscheinwerfer an. Nacheinander stiegen wir über das Treppchen aus Paletten auf die Bühne, vor das Publikum, das nun aus allen Ecken der Halle strömte. Zum Glück schienen die Scheinwerfer so hell, dass ich die Gesichter nicht erkannte. Dafür brannte das Licht dermaßen im Nacken, dass ich bereits schwitzte, als ich meine Les Paul in die Hand nahm.
Mit einem Trommelwirbel legte Linda los. Es war der Auftakt zu unserem Intro, das ich an Heiligabend, den Bauch voll mit Weihnachtsgans, unten im Keller komponiert hatte. Peter setzte mit dem Bass in einen walzermäßigen 3/4-Takt ein, und ich mit einem Tremolo – einem Ton, den ich in schneller Abfolge immer lauter werdend spielte. Lindas Trommelwirbel wurde währenddessen immer intensiver. Doch bevor wir beim krachenden Höhepunkt ankamen, rutschte ihr ein Drumstick aus der Hand. Oder flog vielmehr, weil sie ihn in einer Aufwärtsbewegung verlor. Er schoss knapp an ihrem Kopf vorbei und landete hinter der Bühne. Aus dem Publikum erklangen verdutzte Lacher, was mich so aus dem Konzept brachte, dass meiner schweißnassen Hand das Plektron entglitt. Nun war bloß noch Peter zu hören. Irritiert hob er seinen Blick vom Bass und sah uns an.
Jetzt geht alles den Bach runter, schoss es mir durch den Kopf. Noch bevor wir überhaupt richtig begonnen hatten. Als Nächstes fürchtete ich Buhrufe oder Bierflaschen, die zur Bühne flogen. Vielleicht hatte auch jemand an Tomaten und faule Eier gedacht. Doch Linda vollbrachte ein kleines Wunder: Sie schaffte es, mit einem Fuß die Bassdrum zu treten und wieder in Peters Bassspiel einzusteigen, während sie sich gleichzeitig zur Seite beugte, um einen Ersatzstick aufzuheben. Mit einem ungläubigen Lächeln über ihr geglücktes Manöver nahm sie den Rhythmus wieder auf. Auch ich fasste neuen Mut und klaubte ein Ersatzplektron aus der Hosentasche.
Wir gewannen wieder an Schwung und beendeten das Stück einigermaßen würdevoll. Ich meinte, im aufmunternden Applaus des Publikums sogar einige Jauchzer zu hören.
Tatsächlich ging uns von nun an alles leichter von der Hand. Die Beinahe-Katastrophe hatte unser Lampenfieber weggefegt. Es war, als ob uns von nun an ein unsichtbares Band zusammenhielte. Linda drosch auf die Felle. Ich verschmolz mit der Musik, wie ich es bei gelungenen Proben tat. Peter fraß sein Mikrofon fast auf; er blähte seine Nüstern, als er den Refrain zu Plug In Baby von Muse hinausschrie. Und ließ seine Stimme für Radioheads Fake Plastic Tree zu einem Bündel aus Angst und Schmerzen schrumpfen. Auch wenn es im Bühnenlicht nicht zu erkennen war, wusste ich, dass alle Augen auf ihn gerichtet waren.
Als nach Tower Boys, unserem Finale, nur noch der Nachklang meiner Gitarre aus dem Verstärker dröhnte, kam Linda wie abgesprochen hinter dem Schlagzeug hervor und stellte sich zwischen Peter und mich in die Mitte. Wie im Theater legten wir die Arme um unsere klitschnassen Hälse und verneigten uns, während sich im Publikum Rufe nach einer Zugabe verbreiteten. Fragend blickten wir zu Tom, der an der Seite der Bühne stand. Er grinste und hob einen Daumen in die Höhe.
«Spielt noch einen Song!», rief er uns zu.
«Aber wir haben keinen mehr», erwiderte ich.
«Dann spielt einfach den letzten noch mal!», verlangte ein Betrunkener aus der ersten Reihe.»
«Ja! Spielt Power Boys noch mal!», kam es von irgendwo.
«Es heißt Tower Boys», korrigierte Peter ins Mikro.
«Wen interessiert das denn?», schrie jemand anders.
Wir zuckten mit den Schultern und spielten Tower Boys ein zweites Mal. Weil Peter im letzten Refrain samt seinem Bass wild auf und ab hüpfte, fing auch das Publikum damit an, sodass es zum Schluss fast so aussah wie in den Konzert-Mitschnitten auf MTV. Es fühlte sich an, als würden wir Ketten sprengen. Als sei für einen Augenblick alles möglich. Doch dann war der Song zu Ende; unsere Instrumente verhallten und der Applaus versiegte langsam.
Tom stellte die Scheinwerfer aus und das Deckenlicht an.
Linda begann, ihre Becken abzuschrauben. Janosch verstaute die Les Paul im Gitarrenkoffer und sammelte seine Effektgeräte ein. Nur ich blieb stehen und gaffte dem sich zerstreuenden Publikum nach. Ich konnte es nicht fassen, dass unser Gig schon vorbei war. Es war, als wäre ich innerhalb von Sekunden von Übergröße wieder auf mich selbst zurückgeschrumpft. Alles hätte ich gegeben, um weiterzuspielen. Alles, damit dieses Gefühl zurückkehrte. Neben der Bühne standen aber schon One Way Street, die Pfoten um die Gitarrenhälse geschlungen und die Gesichter ungeduldig auf mich gerichtet. Also packte auch ich meine Sachen zusammen und half Linda, das Schlagzeug abzumontieren. Wie mit Tom abgemacht, luden wir unser Equipment gleich in den Van der Grunders. So stand das Zeugs drinnen nicht im Weg herum.
Als wir alles verstaut hatten und wieder reingingen, waren One Way Street schon zugange. Wir schlängelten uns durchs Publikum nach hinten zu den Sofas, wo Janoschs Eltern und Lindas Mutter warteten. Auf dem Weg klopften mir wildfremde Leute auf die Schultern, ich erhaschte bewundernde Blicke. Was mich etwas darüber hinwegtröstete, dass ich gleich danach dastand wie bestellt und nicht abgeholt. Linda fiel ihrer Mutter in die Arme; Janosch wurde von seinen Eltern gedrückt. Ich begann schon, mich mies zu fühlen, da schlangen sich zwei schlanke Arme um meinen Hals. «Du bist ja der geborene Entertainer, Peter!», rief Moni durch den Lärm und lachte stolz. Da One Way Street ihre Verstärker noch weiter hochgedreht hatten als wir, machten Lindas Mutter und Janoschs Eltern den Abflug. Allerdings nicht ohne Janosch das Versprechen abzuknöpfen, noch morgen den Van auszuräumen. Kaum waren sie gegangen, drängten wir uns nach vorne zur Bühne und holten abwechselnd Runden von der Bar. Weil Gratis-Bier zu unserer Gage gehörte, waren wir bald ziemlich verladen. Wir wären wohl bis zum Umfallen geblieben, hätte Linda nicht irgendwann auf die Uhr geschaut und uns daran erinnert, dass wir heute Schule hatten. Noch immer glühend vor Euphorie torkelten wir zur Hardbrücke, um über die Gleise auf die andere Stadtseite zu kommen. Vor der Aufstiegsrampe stießen wir auf einen verlassenen Einkaufswagen. Janosch und ich setzten Linda hinein und schoben sie kreischend zur Brücke hoch.
Als wir oben mit den Händen auf den Knien um Atem rangen, verging mir das Lachen schnell: Rechts neben der Brücke ragten die Hardau-Türme in die Nacht. Ich hatte Moni versprochen, direkt nach dem Konzert nach Hause zu gehen. Meine Eltern würden sich bestimmt zu Tode sorgen, hatte sie mit eingeschärft. Doch ich konnte nicht nach Hause. Nicht jetzt, nicht in diesem Zustand. Ich fragte Janosch deshalb, ob ich bei ihm pennen könne. Mein Vater würde sowieso zwei und zwei zusammenzählen und morgen früh dort aufkreuzen. Also schlugen wir am Ende der Brücke den Weg zu den Grunders ein.
Vor Janoschs Haus meinte dann auch Linda auf einmal, sie sei zu betrunken, um es noch bis zu ihr zu schaffen. Kichernd und lärmend stolperten wir in den Eingang, bis Janosch uns ermahnte, die anderen im Haus nicht zu wecken. Er zog das Ecksofa vor dem TV aus und holte uns eine Wolldecke aus dem Wohnzimmerschrank. Dann wünschte er Gute Nacht und wankte die Treppe in sein Zimmer hoch. Linda und ich warfen uns aufs Sofa. Ich starrte zur Decke und konnte auf einmal nur noch daran denken, was morgen passieren würde. Mein Vater hatte sich bestimmt schon eine Bestrafung ausgedacht, die alles Bisherige locker in den Schatten stellen würde. Doch dann spürte ich plötzlich Lindas eiskalte Finger auf meinem nackten Bauch. Ihre Nasenspitze fuhr meine Wange hoch. Für eine Sekunde versteifte sich alles in mir. Aber Linda fing an, mich so linkisch zu küssen, dass ich annahm, dass dies auch für sie das erste Mal war.
Nun löste sich alles in mir. Ich strich über ihre Haare und ihren Hals. Was ihr einen Schauer durch den Körper jagte. Entweder weil sie es mochte, oder weil auch meine Finger eiszapfenkalt waren. Wie anders die Welt doch vom einen auf den anderen Augenblick aussehen konnte, dachte ich. Ich probierte einen Zungenkuss und sog Lindas nach Bier riechenden Atem ein. Dann fuhr ihre Hand langsam meinen Bauch hinab, und ich dachte an gar nichts mehr.