Café Carla

Frühling 2003

Peter

Es lief exakt so ab, wie ich es vorausgesagt hatte: Noch im Morgengrauen klingelte mein Vater bei den Grunders Sturm. Moni war als erste an der Haustür – sie hatte sich eilig einen Pullover über den Pyjama geworfen. Anfangs versuchte sie noch, mit ihm zu diskutieren, worauf er erst recht rasend wurde und sich mit ihr einen Schlagabtausch lieferte, an dessen Ende sie ihn als Sektenführer bezeichnete und er sie als gottlosen Hippie. Irgendwann wurde es mir zu blöd. Ich zog meinen Pullover an, schlug Monis Angebot auf politisches Asyl aus und folgte meinem Vater durch den grauen, kalten Morgen nach Hause.

Lange würde ich das Theater sowieso nicht mehr mitmachen müssen. In einigen Wochen wurde ich volljährig.

Mein Vater zog deshalb nochmals sämtliche Register, um mich auf den richtigen Weg zurückzubringen. Den Weg von Jesus. Er schleppte mich zu einem Vortrag über Rockmusik im Gemeindehaus einer Freikirche am Stadtrand. Ich saß neben einer Schar pickliger Jungs – sie waren vielleicht beim Hören von Marilyn Manson erwischt worden – und hörte mir das Gefasel eines «Bibelwissenschaftlers» an. Rock, behauptete dieser Wicht mit krausem Vollbart und näselnder Stimme, habe seinen Ursprung in den heidnischen Ritualen afrikanischer Stämme – und schädige bei regelmäßigem Konsum das Gehirn. Ich prustete los: Es war dermaßen offensichtlich, wer hier den größten Hirnschaden hatte.

Ich solle sofort den Mund halten, zischte mein Vater neben mir und lief rot an. Aber was wollte er schon tun? Mir eine kleben? Ich war jetzt gleich groß wie er. Und hätte ihm einfach eine zurückgescheuert.

Es war fast tragisch mitanzusehen, wie seine Autorität, die einst so unbestritten war wie die Existenz von Gott und Teufel, innerhalb von Wochen in sich zusammenfiel. Je näher mein Geburtstag rückte, desto erbärmlicher wirkten seine letzten Versuche, sie aufrechtzuerhalten. Erst rückte er den Hausschlüssel nicht mehr heraus. Dann nahm er mich vom Gymnasium. Die öffentliche Schule hatte er sowieso schon immer als Brutstätte des Atheismus auf dem Wind gehabt. Stattdessen wollte mich dieser Trottel im Heimunterricht auf die Matura für Privatschüler vorbereiten. Doch als Lehrer war er unterste Schublade. Ständig schweifte er ab, wenn wir Algebra oder den Subjonctif durchackern wollten. Dafür verlor er sich in Vorträgen über Gott und die Welt. Sobald klar wurde, dass auch er den Stoff nicht begriff, schickte er mich unter einem Vorwand aus dem Studierzimmer und bunkerte sich bis zum Abendessen dort ein.

Mir wurde dermaßen langweilig, dass ich beim Rumhängen unten auf dem Vorplatz sogar mit den Hirnamputierten Frieden schloss. Sie hatten bald Lehrabschlussprüfung und kifften abends nur noch müde vor sich hin, statt anderen auf den Wecker zu gehen. Als ich ihnen von meinem Stress zu Hause erzählte, ließen sie mich aus Mitleid an ihrem Joint ziehen. Ich mochte den süßlichen Geruch aber nicht und gab ihn gleich wieder zurück.

Kurz vor meinem Geburtstag begannen bei uns zu Hause seltsame Dinge zu geschehen. Ich sah meine Mutter, die lächelte, wenn sie einverstanden war, und schwieg, wenn sie es nicht war, leise auf meinen Vater einreden. Statt Bohneneintopf kochte sie plötzlich mein Lieblingsessen: Fischstäbchen mit Mayo, Pizza und solche Sachen. Ich kriegte meinen Schlüssel zurück und durfte wieder raus in die Stadt. Zusammen mit meiner alten Klasse ging ich zu der großen Demonstration gegen die Irak-Invasion. Aus dem Küchenradio hatte ich mitgekriegt, dass die Amis ihre Pommes in Freedom Fries umbenannt hatten und es kaum erwarten konnten, Saddam an den Kragen zu gehen. Alle bei der Demo waren darum stinksauer auf George W. Bush. Ich hingegen spazierte grinsend im Meer der Regenbogenflaggen mit. Meine eigene Befreiung von einem Tyrannen nahte.

Wie es der Zufall wollte, wurde ich genau an dem Tag 18 Jahre alt, an dem die Marines in Bagdad Saddams Statue vom Sockel rissen. Ich legte die wenigen Kleider und Bücher, die ich von zu Hause mitnehmen wollte, in den Koffer, den ich von Janosch geborgt hatte. Meine Mutter flennte unterdessen in der Küche und schnitt die Erdbeertorte an, die sie extra für mich gebacken hatte. Ich schlang ein großes Stück davon runter, dann sagte ich ihr und meiner Schwester Lebewohl. Rebekkas Ärmchen und Beinchen klammerten sich an mich, als ich sie an mich presste und auf die Stirn küsste. Es brach mir das Herz, sie hier zurückzulassen. Ich schwor mir, sie aus diesem Gefängnis zu holen, sobald ich genug Kohle hatte, um ihr den Rest ihres beschissen kurzen Lebens so schön wie möglich zu machen.

Mein Vater hatte sich, ganz der Feigling, der er in Wahrheit war, im Studierzimmer verkrochen. Erst als ich meine Jacke anzog, ging die Tür auf, und er schlurfte hinaus. Er roch, als habe er eine ganze Kanne Kaffee getrunken. Und sah aus, als habe er nächtelang kein Auge zugemacht.

«Weißt du, was du hier tust, Peter?», fragte er mit erstickter Stimme. «Du brichst mit deiner Familie.»

«Ich breche mit dir», erwiderte ich und klammerte mich vor Wut am Griff des Koffers fest.

Er schwieg eine Weile, bevor er antwortete: «Alles, was ich getan habe, habe ich aus Liebe getan. Das musst du wissen, Peter. Ich habe versucht, dich zu beschützen.»

«Wovor denn?», schrie ich. Wovor wolltest du mich beschützen?»

«Vor den Versuchungen.» Zum ersten Mal blieb er leise, wenn ich laut wurde, und sah mich nur traurig an. «Vor der Welt, für die du uns jetzt verlässt, Peter.»

Ich hatte mir meinen Abschied triumphaler vorgestellt. Draußen pfiffen Vögel, Kirschbäume leuchteten rosa in der Frühlingssonne. Und ich? Flennte wie ein Mädchen, während ich zu Fuß den Weg zu den Grunders zurücklegte. Ich durfte so lange bei ihnen wohnen, wie ich wollte, hatten sie mir versichert. Da Janosch in der Schule war, empfing mich Moni mit einer festen Umarmung und einem zweiten Frühstück. Danach packte ich meinen Koffer im Computerzimmer der Grunders aus. Sie hatten es mit Einzelbett, Schrank und sogar einem Nachttischchen in ein Gästezimmer umfunktioniert. Am Abend warfen sie mir zu Ehren den Steinofen im Garten an, zum ersten Mal in diesem Jahr. Doch auch die drei Gläser Rotwein, mit denen ich mein Schweinehalssteak runterspülte, brachten mir keinen Schlaf. Die Bettdecke roch nach fremdem Waschmittel. Wälzte ich mich zur Seite, fiel mein Blick entweder auf die kahle Zimmerwand oder den Computer neben dem Bett. Mehr als alles andere aber vermisste ich das Schnaufen von Rebekka unter mir.

Doch vom nächsten Tag an blieb keine Zeit mehr für Heimweh. Nach einem langen Telefonat von Moni mit dem Rektor des Gymnasiums durfte ich in meine Klasse zurückkehren. Nun musste ich büffeln, dass mir der Schädel rauchte. In wenigen Wochen begannen die Maturaprüfungen. Janosch und der Rest der Klasse halfen mir beim Pauken, und da viele Lehrerinnen und Lehrer bei den Klausuren ein oder beide Augen zudrückten, schaffte ich den Abschluss mit Ach und Krach.

Kaum waren die Prüfungen durch, drängte Janosch darauf, wieder mit den Proben zu beginnen. Wir waren aber so aus der Übung, dass wir klangen wie ein Schepperorchester. Ich traf kaum einen richtigen Bund, bald brannte mein Hals vom Singen. Nach einer Stunde schmiss ich den Bass frustriert aufs Sofa. Seltsamerweise wollte sich die schlechte Laune, die mich gepackt hatte, von da an einfach nicht mehr verziehen. Nicht einmal, als wir nach den Sommerferien mit großem Trara die Maturadiplome überreicht bekamen. Da eine Telefongesellschaft gerade Herbstaktion hatte, schenkten Janoschs Eltern uns beiden zur Feier des Tages nagelneue Nokias. Doch genau darin, kapierte ich nach einer Weile, lag das Problem. Die Grunders gaben sich alle Mühe, eine gute Ersatzfamilie zu sein. Sogar Kelloggʼs Chocos kauften sie mir zuliebe zum Frühstück. Doch ich fühlte mich, als sei ich einfach von einem Daheim ins nächste gesteckt worden. Dabei wollte ich doch endlich auf eigenen Füßen stehen.

Ich wusste bloß nicht, wie ich ihnen das beibringen sollte.

Janosch

Auf einmal begann sich Peter zu benehmen wie ein Arschloch. Oft hing er mit geschlossener Tür in seinem Zimmer herum, sodass wir weder an ihn noch an unseren Computer herankamen. Wenn Linda auftauchte, um zu proben, interessierte er sich mehr für sie als dafür, unsere Songs wieder einzustudieren. Den Tiefpunkt erreichte sein Verhalten, als ich ihm im Proberaum einige neue Songideen zeigte.

«Und?», fragte ich, als ich sie ihm vorgespielt hatte.

«Die sind irgendwie langweilig», erwiderte Peter, der sich lustlos auf dem Sofa fläzte und an einem Bier nippte.

«Langweilig? Wieso das denn?»

«Weiß nicht.» Er setzte die Flasche ab und sah mich an: «Sie sind einfach langweilig, Janosch.»

«Danke Peter, sehr hilfreich», erwiderte ich gekränkt. Wäre er aufgesprungen und hätte mir eine geknallt, hätte er mich kaum härter treffen können. Tagelang hatte ich an diesen Songs gearbeitet und brannte nun darauf, sie einzuüben. Am liebsten hätte ich ihm sein Bier über den Kopf gekippt.

Ich war beinahe erleichtert, als er uns einige Tage später mitteilte, ein günstiges WG-Zimmer gefunden zu haben sowie einen Nebenjob in einem Café, mit dem er sich über Wasser halten konnte. An dem Tag, an dem er auszog, fuhren Paps und ich ihn zu einem Brockenhaus. Dort stattete er sich mit einer Matratze und einem Schrank aus und einer hellblauen Jeansjacke mit Silberknöpfen. Sie passte perfekt zu seinen Engelslocken und ließ ihn noch verwegener aussehen.

Wir transportierten alles in Peters neues Zuhause. Es lag in einer hufeisenförmig angelegten Mietskaserne, deren Straßenfront von Autoabgasen schwarze Flecken hatte. Peters Zimmer war eine Besenkammer mit Fenster in einer Dreizimmerwohnung, in der eine Komplettsanierung keine schlechte Idee gewesen wäre. Immerhin schienen sich die Ratten pudelwohl zu fühlen, die neugierig ihre Nasen aus den Pulloverkapuzen von Roni und Roli streckten – Peters neuen Mitbewohnern. Wir trugen Schrank und Matratze die knarzende Holztreppe in Peters Zimmer hoch, das damit fast schon vollgestellt war. Danach tranken wir in der Küche mit Gasherd und Rissen in den Kachelwänden ein Dosenbier.

Vorsichtig fragte ich Peter, wann wir wieder proben würden. Er müsse erst den Schichtplan im Café abwarten, antwortete er ausweichend.

«Wir können uns ja schreiben», schlug ich vor und zog demonstrativ mein Nokia aus der Hosentasche.

«Hast du mich eigentlich unter Peter gespeichert?», fragte er und trank sein Bier in einem Zug aus.

«Klar. Wie denn sonst?», erwiderte ich verdutzt.

«Ich heiße jetzt Pete», sagte er. «Nicht mehr Peter.»

«Was?»

«Ich heiße jetzt Pete. Klingt besser.»

Er war sich seiner Sache wohl selbst noch nicht ganz sicher, denn er fuhr sich verlegen durchs Haar. Da sein Blick aber beharrlich blieb, löschte ich in der Kontaktliste schulterzuckend das «r» aus seinem Namen. Als wir zum Abschied die Hände einschlugen, hatte ich tatsächlich das Gefühl, dass es nicht mehr Peter war, dem ich Tschüss sagte.

Ich schrieb ihm zwar noch einige SMS. Aber entweder musste er arbeiten oder er schrieb so freudlos zurück, dass ich es irgendwann bleiben ließ. Es war absurd. Ausgerechnet jetzt, da wir uns mit unseren Handys jederzeit erreichen konnten, verloren wir den Kontakt. Ich hatte mich so darauf eingestellt, nach der Schule nur noch Musik zu machen, dass ich plötzlich nicht mehr wusste, was ich mit mir anstellen sollte. Wochenlang kurvte ich mit unserem Van – Paps auf dem Beifahrersitz, die Hand diskret an der Handbremse – durch Zürich. Die Autoprüfung bestand ich zu meiner Überraschung im ersten Anlauf. Danach schrieb ich mich in letzter Sekunde an der Universität für Geschichte ein.

Doch das Unileben war anders, als ich es mir ausgemalt hatte. Statt neue Freunde zu finden, in Lesegruppen Marx zu diskutieren und zu WG-Partys eingeladen zu werden, saß ich verloren in überfüllten Hörsälen. In den Pausen trank ich Automatenkaffee mit Jungs, die so schüchtern waren wie ich. Da ich keine Schulklasse mehr hatte, die ich jeden Tag sah, vereinsamte ich noch mehr als in der Zeit, bevor ich Peter, oder eben Pete, kennengelernt hatte. An manchen Tagen schaffte ich es morgens kaum noch aus dem Bett. Dafür blieb ich halbe Nächte vor dem Fernseher hängen. Auf MTV lief nun kaum noch Musik, sondern es gab fast nur noch Sendungen wie Dismissed, eine Dating-Show mit sexhungrigen Gleichaltrigen. Sie erinnerte mich in erster Linie daran, dass ich keinen Sex hatte. Oder nur dann, wenn ich mich in unserem Computerzimmer durch Pornos klickte.

Wenn auf MTV mal Videoclips liefen, dann war es meist Macker-Musik. Limp Bizkit etwa oder 50 Cent. Diese Musiker klangen, als seien sie als Kinder in einen großen Topf voller Testosteron gefallen, und riefen in mir das Gefühl hervor, in der falschen Zeit geboren worden zu sein. Nirvana und die anderen Bands, die ich mit Pete in den Kaufhäusern entdeckt hatte, waren der Sound der 90er gewesen. Im Hier und Jetzt ging das Jahr 2003 zu Ende, ohne dass etwas Aufregendes in Sicht war. Dass die nächste musikalische Revolution von unserem Keller ausging, war leider auch kaum zu erwarten. Denn als ich an den Songskizzen weiterarbeiten wollte, die ich Pete gezeigt hatte, stellte ich bestürzt fest, dass er recht gehabt hatte: Sie waren langweilig.

Ich steigerte mich so in die Idee hinein, in einer hoffnungslosen Zeit zu leben, dass sich irgendwann der Schluss aufdrängte, dass auch mein Leben ohne Sinn war. Ich hatte schon das Bild vor Augen: Ich im Proberaum, mit einer Schlinge um den Hals. Am Boden der Verstärker, auf den ich gestiegen wäre und den ich in letzter Konsequenz weggetreten hätte. Das wäre ein Abgang, fantasierte ich. Doch bevor der Gedanke weiter reifen konnte, realisierte Mom, wie es um mich stand, und schleppte mich gegen meinen Protest zum Psychologen.

«Was fehlt Ihnen denn?», fragte der Psychologe, ein baumlanger Norddeutscher, der gerne und schallend lachte.

Ich erwiderte, dass ich keinen Sinn mehr im Leben sehe.

Der Psychologe lachte schallend und erwiderte, dass ich dringend ein Abenteuer brauche. Etwas, das mich über mich selbst hinauswachsen lasse. Auf der Rückfahrt von der Praxis schlug mir Mom vor, durch Indien zu reisen, so wie sie es einst mit ihrer besten Freundin getan hatte. Doch ich wollte nicht das Jugendabenteuer meiner Mutter nachahmen. Außerdem kannte ich niemanden, der mit mir verreisen würde. Alleine, war ich überzeugt, machte so etwas keinen Spaß.

Also begann ich wieder, halbe Nächte durchzuwachen, und schaufelte über die Feiertage Reste von Pasteten und Eistorten in mich hinein. In einer der letzten Januarnächte döste ich, schon fast mit dem Ecksofa verwachsen, vor laufendem Fernseher. Ich hatte mich in eine Wolldecke eingemummelt, weil ich zu träge gewesen war, nach oben zu gehen, mir die Zähne zu putzen und mich ins Bett zu legen. Das war meine Rettung. Denn plötzlich riss mich ein seltsamer Videoclip auf MTV aus dem Halbschlaf.

Vier Musiker spielten darin vor einem Hintergrund, der aussah wie eine zum Leben erwachte Grafik-Collage. Noch ungewöhnlicher aber war der Sound: Nach einem zügigen Intro drosselte der Song entgegen aller Intuition das Tempo, bis die Bassdrum in einen behäbigen, aber tanzbaren Takt mündete und die Band loslegte. In Sekundenschnelle saß ich kerzengerade auf dem Sofa. Was um alles in der Welt war das, wunderte ich mich. Es musste sich um Rockmusik handeln, denn ich hörte Bass, Drums und Gitarren. Doch sie klang anders als alles, was ich bis dahin gehört hatte. Sie sprühte vor Witz, und ich konnte gar nicht anders, als mit den Füßen zu ihrem Rhythmus zu wippen. Als der Clip endete und unten am Bildschirm der Name der Band eingeblendet wurde, war mein erster Impuls, Pete davon zu erzählen.

Ich griff nach meinem Handy, das leblos neben mir auf dem Sofa lag. Schon tagelang war keine Nachricht mehr eingetroffen. Ich tippte, stoppte mitten in der Nachricht aber wieder. War es nicht peinlich, ihm mitten in der Nacht zu schreiben, fragte ich mich. Einer Samstagnacht noch dazu? Würde Pete überhaupt antworten?

Pete

Ich radelte durch die Eiszapfenkälte heim und freute mich auf den heißen Kebab, der in einer Plastiktüte am Lenker baumelte, als das Handy klingelte. Linda, vermutete ich. Ich nahm die Kurve in den Innenhof meiner Siedlung und stellte das Fahrrad im Wellblech-Unterstand ab. Es war Linda, sah ich, als ich das Handy aus der Jackentasche gezogen hatte. Ich steckte es gleich wieder zurück und kramte den Schlüssel hervor. Ich hatte keinen Bock, jetzt noch zu ihr zu fahren. Eine Neunstundenschicht im Café Carla lag hinter mir. Danach war ich mit meinen Arbeitskollegen wie üblich durch die Kneipen der Nachbarschaft gezogen, die nach Mitternacht noch geöffnet hatten. In der letzten Bar hatte ich mit Karin rumgemacht. Schon wieder. So konnte das nicht weitergehen, beschloss ich, während im Treppenhaus schon der Lärm aus unserer Wohnung an meine Ohren drang. Roni und Roli hatten wieder ihren hirnrissigen Deutschpunk aufgedreht. Was zugleich hieß, dass sich eine Meute ungewaschener Filzhaarköpfe in der Küche tummelte. Sie kippten üblicherweise Dosenbier vom Discounter in sich hinein und stritten mit geröteten Augen über die optimale Aufzucht von Balkon-Marihuana. Sie verschwanden selten vor Sonnenaufgang.

Ich trat ein und kämpfte mich durch die Graswolke in die Küche vor. Schnappte ein Bier aus dem Kühlschrank, bevor alles weggesoffen war, und verzog mich aufs Zimmer. Ich warf die Jacke auf den Boden und genoss auf der Matratze sitzend den Kebab, so gut das bei dem Krach aus der Küche ging. Dann öffnete ich das Fenster, um eine zu rauchen. Die Angewohnheit hatte ich von den Kollegen aus dem Café Carla übernommen. Ich schnippte den Stummel auf die Straße runter und nahm das Nokia zur Hand. Ich wollte Linda schreiben, dass ich zu kaputt sei. Da sah ich das SMS von Janosch.

Er habe eine neue Band entdeckt, las ich, als ich das Briefchen-Icon geöffnet hatte.

Wen denn?, fragte ich.

Franz Ferdinand, antwortete Janosch. Take Me Out heiße der Song, den er eben auf MTV gesehen habe.

Nie gehört, tippte ich zurück. Ist er gut?

Der absolute Wahnsinn, Pete!

Immer wenn ich an Janosch dachte, überfiel mich das schlechte Gewissen. Dabei war der Wegzug von den Grunders die richtige Entscheidung gewesen. Endlich hatte ich mein eigenes Leben bekommen. Vier Schichten in der Woche kellnerte ich im Café Carla, deren Besitzerin tatsächlich Carla hieß. Sie war eine adrette ältere Dame, die ausschließlich junges Servicepersonal anheuerte. Vermutlich, um von der Inneneinrichtung abzulenken, die mit ihren rosa Marmortischchen und der goldgerahmten Vitrine im letzten Jahrhundert stehengeblieben war. Die Arbeit machte mir Spaß, zumindest anfangs. Tagsüber bediente ich Omas mit Milchkaffee und Schinken-Spargel-Canapés. Abends ergraute Geschäftsleute aus den umliegenden Büros mit Campari und gerösteten Erdnüssen. Wenn wir um elf unsere Schürzen auszogen und dichtmachten, brauste Carla in ihrem Oldtimer-Jaguar nach Hause, und der Rest der Belegschaft schlug sich die Nacht um die Ohren.

In der Freizeit hing ich vor allem mit Linda herum. Sie blies zwar Trübsal, weil sie seit ihrem Lehrabschluss im Sommer immer noch keine Stelle als Landschaftsgärtnerin gefunden hatte. So viel Trübsal, dass sie Pillen dagegen schlucken musste. Aber meine Schichtarbeit und ihre Arbeitslosigkeit erlaubten uns, ein aufregendes Leben zu führen. Wir besuchten uns gegenseitig, mal am Tag und mal mitten in der Nacht. Dann soffen wir und lästerten über unsere Väter. Sie über ihren, weil er noch vor ihrer Geburt das Weite gesucht hatte. Ich über meinen, weil er mir all das hatte vorenthalten wollen, was ich nun tat. Vor allem aber bumsten wir, was das Zeug hielt. In Lindas Zimmer, in meinem – und einmal sogar auf dem Rasen im Innenhof unserer Siedlung. So still Linda sonst war, so leidenschaftlich stöhnte sie beim Sex. Eine Weile lang überlegte ich, das Leben der anderen im Café Carla zu kopieren. Ein lockeres Studium zu beginnen, Soziologie vielleicht, ein bisschen zu arbeiten und viel zu feiern. Die sorgenfreie Existenz zu führen, die einem in einem Ort wie Zürich so leicht in den Schoß fiel.

Doch dann verpuffte diese Euphorie. Bald konnte ich die Schinken-Spargel-Canapés im Café Carla nicht mehr sehen. Die Omas schienen ihr Kleingeld mit jedem Tag langsamer abzuzählen. Die Bartouren nach Schichtende wurden immer vorhersehbarer und Linda immer anhänglicher. Zugleich wurde mir bewusst, wie ich mit meiner ungestümen Art auf Frauen wirkte. Es war, als hätte ich meine Freiheit nur erkämpft, um dann gleich wieder in eine Einbahnstraße einzubiegen. Ich musste an die Sommerferien in der Hardau denken. Daran, wie ich mir geschworen hatte, ein Leben ohne Kompromisse zu führen. Ein Leben, das größer war als die Leben der anderen.

Janosch war der einzige Mensch, den ich kannte, dem es, zumindest insgeheim, genauso ging. Auch wenn man es seiner verkniffenen Visage nicht auf den ersten Blick ansah: In ihm brannte dasselbe Feuer wie in mir. Er brauchte nur jemanden, der ihn zog.

Bist du noch wach?, wollte ich deshalb wissen.

Klar, antwortete Janosch. Er lade gerade den Song von Franz Ferdinand runter.

Ich komme, tippte ich und warf die Jeansjacke über.

Mit einer Kippe gegen die Kälte zwischen den Lippen radelte ich zu den Grunders. Als Janosch die Tür öffnete, sah ich selbst im schummrigen Eingangslicht, dass er schon bessere Tage gesehen hatte. Er trug eine zerknautschte Trainingshose wie ein Arbeitsloser im Reality-TV. Seine Fransen klebten ungekämmt an der Stirn. Übernächtigt blinzelte er mich aus seinen Mandelaugen an.

«Tut mir leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe», murmelte ich und streckte die Hand aus.

«Schon okay, Pete.» Janosch sah zwar noch etwas gekränkt aus, lächelte aber. «Willst du den Song hören?»

Im Computerzimmer luden wir Take me out von der Festplatte auf seinen iPod. Janosch hatte ihn zu Weihnachten gekriegt – wie halb Zürich, denn die weißen Ohrstöpsel sah man nun überall auf der Straße und in den Trams. Dann gingen wir in den Keller. Mein Bass lehnte noch am Verstärker, so wie ich ihn vor einigen Monaten hatte stehen lassen. Janosch schloss den iPod an die Lautsprecheranlage an und drückte Play.

Wir redeten nicht mehr viel in dieser Nacht. Mussten wir auch gar nicht. Denn nach diesem Song war alles gesagt. Stattdessen sprinteten wir wieder hoch ins Computerzimmer, druckten aus dem Internet die Bass- und Gitarrennoten zu Take Me Out aus und schnallten die Instrumente um. Meine Fingerkuppen schmerzten beim Spielen – die Hornhaut hatte sich nach der langen Pause zurückgebildet. Doch das Wummern aus meinem Marshall klang von der ersten Sekunde an fantastisch. Ich röhrte I want you ... to take me out ins Mikro, Janosch beugte sich über die Les Paul und variierte seine Gitarrenspur bald so gekonnt, dass sie besser klang als das Original. Ich hatte vergessen, in was für einen Beethoven er sich verwandeln konnte. Rasch füllte sich der Keller wieder mit der Energie, die nach unserem ersten Gig nie mehr zurückgekehrt war. Unser Jam endete erst, als Janoschs Vater im Pyjama in der Tür stand. Ob wir noch alle Tassen im Schrank hätten, mitten in der Nacht einen solchen Krach zu veranstalteten, erkundigte er sich.

Am nächsten Tag traf ich Linda in einem McDonaldʼs in der Nähe des Café Carla, wo ich danach Schicht hatte. Ich holte zwei Cola von der Theke und erklärte, dass ich und Janosch Noise Parade reaktivierten. Und dass wir sie gern wieder als Drummerin dabeihätten. Vermutlich sei es aber keine gute Idee, gleichzeitig Liebespaar und Bandkollegen zu sein, fügte ich an. Der Einwand schien mir eine elegante Lösung zu sein für mein Dilemma mit Linda auf der einen Seite – und Karin sowie allen anderen Frauen auf der anderen. Doch sie stieg nicht darauf ein.

«Wieso denn? Wieso können wir uns nicht gleichzeitig lieben und in einer Band spielen?»

Ich überlegte, Linda die Wahrheit zu sagen.

«Glaubt ihr, ihr zwei seid die Einzigen, die Rockstars werden wollen?» Entschlossen sog sie am Röhrchen ihres leeren Pappbechers, sodass die Eiswürfel klirrten. «Ich meine es ernst, Pete. Du weißt doch, dass ich vollen Einsatz geben werde!»

Nun schaffte ich es nicht mehr, Schluss zu machen. Außerdem, kam es mir in den Sinn, fand man gute Drummer nicht an jeder Hausecke.

«Okay, wieso nicht», sagte ich und lächelte sie an. Obwohl ich ahnte, dass die Geschichte nicht ganz unkompliziert werden dürfte.

Wir begannen, dreimal in der Woche zu proben. Bald hatten wir nicht nur zu unserer alten Form zurückgefunden, sondern spielten klarer und präziser als je zuvor. Ich verkaufte meinen Ibanez-Bass und legte den Erlös mit meinem Ersparten zusammen, um mir einen Fender Jazz zuzulegen, den Straßenkreuzer der Bassgitarren. Janosch bekam zum Geburtstag einen Röhrenverstärker der Marke Orange. Der zog den Sound der Les Paul durch den legendären warmen Filter. Linda rieb sich vor den Proben die Hände mit Magnesium ein, damit ihr keine Sticks mehr davonflogen.

Weil Janosch halbe oder ganze Nächte über Songideen brütete, hatten wir bald ein Set aus brandneuen Songs zusammen. Sie erinnerten etwas, aber nicht zu sehr, an Franz Ferdinand. Das Einzige, was unser Comeback jetzt noch verhindern konnte, war die Rekrutenschule. In weniger als einem Monat hätten ich und Janosch einrücken müssen. Aber Moni schickte uns zu einem Psychologen, der uns ein Attest schreiben könne. Der Psychologe lachte schallend, als wir ihm erklärten, uns drücken zu wollen. Dann diagnostizierte er bei Janosch spontan Depressionen und bei mir eine Aggressionsstörung. Was natürlich komplett hirnrissig war, wie wir uns auf dem Heimweg von der Praxis gegenseitig versicherten.

Die Schinken-Spargel-Canapés passten nicht mehr zu meinem neuen alten Leben – zuletzt hatte ich sowieso heimlich darauf gespuckt. Also schmiss ich den Job im Café Carla hin. Ich heuerte stattdessen als Stagehand bei einer Konzertagentur an, die mir ein Kollege aus dem Café empfohlen hatte. Da auch Janosch zur Abwechslung mal selbst was verdienen wollte, tat er es mir nach.

Schon wenige Tage später hatten wir unseren ersten Einsatz. Im Morgengrauen schlurften wir gähnend auf das Hallenstadion am nördlichen Stadtrand zu. Die Sattelschlepper von Sting, dem ehemaligen Sänger von The Police, waren schon vorgefahren. Neben ihnen rauchte ein Pulk von Typen in Arbeitskleidung Zigaretten. Ob wir die Neuen seien, fragte ein Mann, der mit einem Funkgerät spielte und wirkte wie ein Vorarbeiter. Wir nickten und gesellten uns zu den müden Gesichtern. Ich zog ebenfalls eine Zigarette aus meinem Pack und bot Janosch eine an. Er nahm sie, hustete aber, als ich ihm Feuer gegeben hatte. Die Umstehenden grinsten, und ich klopfte ihm auf den Rücken. Dann senkten sich die Rampen der Sattelschlepper. Wir zertraten unsere Kippen und streiften die Handschuhe über.

Schnell realisierte ich, dass es eine klare Arbeitsteilung gab. Die Roadies, die zur Band gehörten und diese auf der ganzen Tour begleiteten, ließen die Rollkisten voller Material die Rampe runter. Wir Handlanger empfingen sie und schoben sie in die Konzerthalle, wo wir sie nach den Anweisungen der Roadies entluden. Es war Knochenarbeit. Bald schmerzten mir Arme und Rücken. Schnell war auch klar, dass Janosch zu schmächtig für den Job war. Um ein Haar hätte er sich einen Scheinwerfer auf die Füße fallen lassen. Ich kam ihm in letzter Sekunde zu Hilfe, worauf uns der Vorarbeiter anschnauzte, dass man einen Scheinwerfer gefälligst allein trage und nicht zu zweit.

Trotzdem strahlten wir, als wir in der nächsten Zigarettenpause dem Gequatsche der Roadies lauschten. Es waren alles hartgesottene Briten, die einander mit Anekdoten über ihre Tourneen mit Metallica oder den Red Hot Chili Peppers übertrumpften. Auch wenn wir zweifellos das unterste Ende der Nahrungskette hier darstellten, fiel selbst für uns noch etwas vom Glanz des Showbusiness ab. Staunend spazierte ich mit Janosch zur Bühne, wo zwei riesige LED-Wände langsam zur Hallendecke hochfuhren.

«Eines Tages werden wir da auftreten.» Ich zielte mit der brennenden Zigarettenspitze auf eine der Lichtwände. «Dann wirst du auf der hier zu sehen sein und ich auf deren anderen. So wie Mick Jagger und Keith Richards bei den Konzerten der Stones.»

«Klar doch, Pete.» Janosch zog an seiner Zigarette und hustete beim Inhalieren schon weniger als vorher. «Erst müssen wir überhaupt wieder auf irgendeine Bühne.»

«Jetzt sei mal nicht so pessimistisch», erwiderte ich und paffte zuversichtlich einen Rauchkringel aus. «Das schaffen wir mit links. Wir werden uns vor Konzerten kaum retten können.»