Celtic Glasgow

Januar 2006

Janosch

Wenige Tage nach Neujahr landeten wir in Glasgow. Nachdem wir unsere Rucksäcke und Taschen vom Gepäckband gehievt hatten, bestiegen wir einen der violetten Airport-Express-Busse ins Stadtzentrum. Es war eiskalt und zappenduster, als wir dort ankamen – obwohl erst später Nachmittag war. Aber Glasgow, kam mir in den Sinn, lag auch ein gutes Stück nördlicher als Zürich. Wir stiegen in die Subway um, die uns in den Süden der Stadt brachte. Dort, an der Harley Street, lag die Wohnung, die Ian für uns organisiert hatte. An der Station Cessnock schleppten wir unser Gepäck eine vom Alter geschwärzte, viktorianisch anmutende Steintreppe hoch und an einer Reihe hell erleuchteter Fast-Food-Buden vorbei, aus denen der Wind Fettschwaden auf den Gehsteig wehte.

«Da!» Pete zeigte mit der freien Hand auf eine weiß schimmernde Plakette an einer Hausmauer. «Harley Street.»

Wir bogen in eine Seitenstraße mit einer Reihe von Wohnhäusern aus Sandstein ein. Auch sie hatten ihre besten Tage definitiv hinter sich. Die Grünstreifen neben den Eingängen waren mit kniehohen Eisengittern eingefasst und mit Getränkedosen und sonstigem Abfall übersät. Über den Erkerfenstern hingen TV-Satellitenschüsseln. An unserer Adresse war gar ein zersprungenes Fenster mit Karton überklebt. Hier hätte Ian auf uns warten sollen; er war jedoch nirgends zu sehen. Pete versuchte mehrmals, ihn zu erreichen, landete aber jedes Mal auf der Combox und schimpfte schließlich aufs Band, wo zur Hölle er denn bleibe. Ich fröstelte und sah beunruhigt einigen Gestalten in Kapuzenpullovern hinterher, die ihre Bulldogge Gassi führten und uns im Vorbeigehen finster gemustert hatten. Obwohl Ian versprochen hatte, uns gut unterzubringen, schienen wir in einer der übleren Gegenden Glasgows gelandet zu sein.

Sowieso hatte uns Ian nicht die ganze Wahrheit über seine Heimatstadt erzählt. Das hatte ich kurz vor unserem Abflug in einer kurzen Internetrecherche herausgefunden. Glasgow eilte nämlich nicht nur der Ruf als Musikmekka voraus, sondern auch der als Europas Mordhauptstadt. Offenbar wimmelte es hier nur so von Jugendgangs, die sich ihre Zeit mit Messerstechereien vertrieben. Sofern sie nicht gerade damit beschäftigt waren, Drogen an die Glasgower zu verkaufen, die nach dem beispiellosen industriellen Niedergang ihrer Stadt in einem Teufelskreis aus Arbeitslosigkeit, Depression und Kriminalität gefangen waren. Ach ja, und was die Stadtderbys zwischen Celtic Glasgow und den Glasgow Rangers betraf, von denen Ian uns vorgeschwärmt hatte: Sie schienen die Stadt jedes Mal in ein halbes Bürgerkriegsgebiet zu verwandeln.

Ob Ian uns wohl sonst noch etwas vorenthalten hatte?

«Der taucht nicht mehr auf, Pete.» Ich schüttelte den Kopf. «Lass uns für heute in ein Hotel gehen.»

«Dafür haben wir keine Kohle!» Schlotternd steckte Pete das Handy in seine dünne Jeansjacke, die ihn vor der steifen Brise hier kaum schützte. Aber er hatte recht. Obwohl Pete in den Wochen vor unserem Abflug jeden möglichen Stagehand-Einsatz angenommen und ich in den Copyshop-Läden von Paps ausgeholfen hatte, reichte unsere Reisekasse bloß für einige Monate. Gerade als wir loslaufen wollten, um uns in einer der Fast-Food-Buden aufzuwärmen, knatterte ein Auto die Harley Street hinunter. Direkt neben uns setzte es auf den Randstein und bremste ab. Die verbeulte Tür auf der Beifahrerseite ging auf, und Ian stieg aus. Seine Nasenspitze war rot, entweder von der Kälte oder vom Alkohol oder vermutlich von beidem. Um seinen Hals war ein grün-weißer Celtic-Schal geschlungen.

«Tut mir leid!» Er drückte Pete und dann mich überschwänglich an sich. «Ich habʼ eure Ankunftszeit falsch notiert.»

«Wieso hast du nicht abgenommen?», fragte Pete leicht verärgert.

«Habʼ im Stadion das Telefon nicht gehört.» Mit entschuldigendem Blick kramte Ian einen Schlüssel aus der Tasche und gab dem Fahrer des Autos einen Wink, worauf dieses wieder auf die Straße setzte und knatternd hinter einer Kurve verschwand. «Es gibt aber auch eine gute Nachricht», meinte Ian grinsend und hielt uns die Tür auf. «Celtic hat gewonnen!»

Das Licht im Hauseingang war kaputt, außerdem roch es nach Urin. Wir folgten Ian in die oberste Etage hinauf, wo er eine Holztür mit abgewetztem Messingknauf öffnete. Dann betraten wir unser neues Zuhause. Es gehörte, wie Ian uns in einer E-Mail kurz vor dem Abflug geschrieben hatte, Kevin – einem Bekannten, der gerade auf Weltreise war. Ich stellte mein Gepäck auf dem zerkratzten Parkett ab und sah mich mit wachsendem Entsetzen in der Zweizimmerwohnung um. Das Wohnzimmer wirkte mit Trainspotting-Poster, speckiger Ausziehcouch und einem alten TV auf einer Holzkiste wie eine Kifferhöhle. Das Badezimmer war von Schmutzflecken überzogen. Und das Doppelbett im Schlafzimmer krachte fast zusammen, als Pete sich daraufsetzte. Außerdem hatte Kevin kaum aufgeräumt. Der Wäschekorb und der Schrank waren noch voll mit seinen Kleidern; im Kühlschrank in der kleinen Küche fanden wir Pizzareste.

«Kostet die Wohnung echt 400 Pfund im Monat?», wunderte sich auch Pete.

«Die Mieten in Glasgow sind gestiegen, seit ich hier weggezogen bin», sagte Ian und zuckte mit den Schultern.

Nachdem er sich verabschiedet hatte, waren wir so müde von der Reise, dass wir uns nicht mehr um das Chaos kümmern mochten. Wir zogen den Drehknopf des mittelalterlich anmutenden Heizkastens auf, so wie Ian es uns demonstriert hatte, und gingen zu Bett.

Im Morgengrauen schreckte ich hoch. Jemand hämmerte wie ein Irrer an die Tür. Ich rüttelte Pete wach, der neben mir schlief wie ein Stein.

«Pete», zischte ich, als er endlich blinzelte. «Da ist jemand!» Kaum hatte er sich aufgerichtet, kam zum Hämmern auch noch ein Gebrüll dazu.

«Gewen!», schrie eine dünne Männerstimme. «Gewen, du Wichser, mach endlich auf! Sonst komm ich rein!»

Entsetzt sahen wir uns an, dann eilten wir auf leisen Sohlen in die Küche. Hektisch durchsuchten wir die Schubladen nach Gegenständen, mit denen wir uns wehren konnten, sollte dieser Verrückte tatsächlich die Tür eintreten. Die Ausbeute war mager; ich fand ein stumpfes Tischmesser und Pete einen Kartoffelstampfer. Kampfbereit hielt er ihn mit beiden Händen am Stiel und stellte sich direkt neben der Tür auf.

«Ist das dein Ernst?», flüsterte ich.

«Du machst auf», befahl Pete. «Falls er hineinstürmt, falle ich ihm in den Rücken.»

Ich schloss die Augen und atmete durch, dann ließ ich die Hand mit dem Messer hinter meinem Rücken verschwinden und öffnete vorsichtig die Tür einen Spaltbreit.

«Gewen?», kam es von dahinter, auf einmal sanft.

Nun öffnete ich ganz. Das Gesicht des ausgemergelten Mannes dahinter fiel vor Enttäuschung in sich zusammen. Er trug nichts als Jeans und Sandalen, und sein knochiger Oberkörper schlotterte. In seinen Augen lag derselbe gehetzte Blick wie bei den Junkies zu Hause an der Langstraße.

«Wo ist Gewen denn?», fragte er. Erst jetzt begriff ich, wen er in seinem breiten schottischen Akzent meinte. Kevin, unseren Hauptmieter.

«Kevin ist auf Weltreise», erklärte ich. «Wir sind eben erst hier eingezogen.»

«Auf Weltreise?» Ungläubig linste der Mann über meinen Kopf hinweg in die Wohnung. Ganz so, als glaube er, Kevin sei immer noch hier und verstecke sich bloß. Dann ließ er die Schultern hängen und zottelte so traurig davon, dass er mir leidtat. Pete versorgte den Kartoffelstampfer wieder und setzte, da draußen der Tag anbrach, am Gasherd die blecherne Teekanne auf. Erst jetzt, da mir der Schreck aus den Knochen fuhr, realisierte ich, wie kalt es in der Wohnung geworden war. Ich zog die Heizung wieder auf. Dann nahm ich den Becher Tee entgegen, den Pete mir reichte, und fragte mich, wie um alles in der Welt ich auch nur eine weitere Nacht in diesem Loch aushalten sollte.

Am Nachmittag, als wir etwas Schlaf nachgeholt, Kevins Kleider ausgeräumt und unsere verstaut hatten, holte uns Ian im Auto seines großen Bruders Andy ab – der Klapperkiste, die ihn gestern hergebracht hatte. Kaum hatten Pete und ich uns auf die Rückbank geworfen, fuhr Ian ruckartig los. Das zerschlissene Polster roch nach Marihuana, auf dem Boden zu meinen Füßen rollte eine leere Wodkaflasche hin und her.

«Wohin fahren wir denn?», fragte ich, weil Ian statt zum Flughafen, wo am Sperrgutschalter unser Equipment wartete, stadteinwärts abbog.

«Wir feiern eure Ankunft in Glasgow!» Er zwinkerte mir im Rückspiegel zu.

Was er damit meinte, war unschwer zu erraten.

Wir fuhren parallel zum Clyde, dem Fluss, der Glasgows Süden von den Kuppelbauten und Bürogebäuden der Innenstadt trennte, in ein Wohnquartier mit schmucklosen, aschgrauen Sozialbauten hinein. Laurieston, erklärte Ian und wich einem Schlagloch in der Straße aus, hier sei er aufgewachsen. Seine Eltern wohnten noch immer dort; in derselben Siedlung wie Andy, bei dem Ian vorübergehend eingezogen war.

Wir parkten auf einem Kiesfeld unter einer alten Eisenbahnbrücke. Am Fuß eines dicken, gemauerten Pfeilers duckte sich ein grün-weiß getünchter Schuppen mit elektrischer Laterne über dem Eingang. Zwei kitschige Gemälde verzierten die Wände daneben: links ein zum Schuss ausholender Celtic-Fußballer; rechts ein frech grinsender Hasenkopf.

«Das Rabbitʼs Head», stellte Ian vor, während er die quietschende Tür aufstieß, «meine Stammkneipe in Glasgow.»

Im dämmrigen Innern verfolgte eine Handvoll Gäste ein Fußballspiel auf einem Großbildschirm. Die Barkeeperin mit Guinness-Logo am schwarzen Shirt zapfte uns drei Pints, dann nahmen wir in einer der runden Sitzbuchten Platz. Das quietschende Kunstleder unter meinem Hintern wirkte genauso billig wie die Holzverkleidung der Bar; über dem Schnapsflaschen-Regal hingen noch Plastikgirlanden von der Neujahrsparty. Die Wände waren im Gegensatz dazu liebevoll mit Celtic-Glasgow-Devotionalien tapeziert: grünweiße Wimpel, alte Trikots und gerahmte Schwarz-Weiß-Teamfotos aus den 70er-Jahren, auf denen langhaarige Spieler Pokale in die Höhe hielten. Das Rabbitʼs Head wirkte wie halb Pub, halb Kirche für Celtic-Fans.

Wir hatten erst ein paar Schlucke getrunken, als die Tür mit einem Knall aufflog. Ein massiger, in einem mausgrauen Trainingsanzug steckender Kerl mit Babygesicht und Glatze trat ein. Ian schnellte aus der Sitzbucht hoch; die beiden umarmten sich und klopften sich dabei brutal auf den Rücken.

«Freunde, das ist mein großer Bruder Andy!» Stolz legte Ian den Arm um ihn. «Andy, das ist die Schweizer Band, die ich manage.»

«AUS DER SCHWEIZ?», brüllte Andy erfreut und drückte unsere Hände, bevor er sich neben Ian auf die Bank wuchtete. «Habt ihr Schweizer Taschenmesser dabei?»

Wir schüttelten verwundert die Köpfe.

«Die würden euch auch nichts nützen, denn hier in Glasgow tragen wir richtige Messer!» Er griff ins Innere seiner Trainingsjacke und tat, als ziehe er gleich eines hervor. Ich zuckte vor Schreck zusammen, worauf Andy lachte und meinte, er mache doch bloß Spaß. Doch sein Lachen war eines von der Sorte, das schnell in etwas anderes umschlagen kann. Mit ausgebreiteten Armen lehnte er sich zurück, während sein kleiner Bruder eine neue Runde von der Bar zu uns trug. Danach besprachen die beiden detailliert den gestrigen Sieg von Celtic Glasgow und fluchten dabei wie die Rohrspatzen über die Glasgow Rangers, denen sie in wenigen Wochen im Stadtderby begegnen würden.

«Was ist eigentlich das Problem mit diesen Rangers?» Gereizt sah Pete die beiden über sein Glas hinweg an – die Fußballdebatte langweilte ihn offensichtlich genauso wie mich.

«Was das Problem mit den Rangers ist?», fauchte ihn Andy an. «Das Problem ist, dass es schwanzlutschende Schwuchteln sind!»

Ian, der neben seinem großen Bruder auf einmal wie ein absolut vernünftiger Typ wirkte, erklärte uns, dass die Rangers-Fans die Nachfahren schottischer Protestanten seien. Die hätten der britischen Krone einst dabei geholfen, Irland zu kolonisieren. Die Anhänger von Celtic dagegen stammten meist wie Ian und Andy von Iren ab, die einst nach Glasgow gekommen waren, um in den Schiffswerften und Fabriken des British Empire zu arbeiten.

«Und darum schlagt ihr einander jetzt nach den Spielen die Köpfe ein?», wollte Pete wissen.

Beide nickten einträchtig. Andy ging auf die Toilette; Pete und ich hielten mit einem Seitenblick die Zeit für gekommen, uns aus dem Staub zu machen. Schließlich waren wir wegen der Musik nach Glasgow gekommen und nicht wegen des Fußballs oder irgendwelcher historischer Fehden. Doch gerade als wir aufstehen wollten, schneite eine Schar Jungs in unserem Alter ins Rabbit’s Head. Sie hatten rote, runde Köpfe und begrüßten Ian, indem sie ihm herzlich auf die Schulter klopften und ihn dabei «Wichser» und «Fotze» nannten. Dann quetschten sie sich in unsere Sitzbucht, aus der wir nun nicht so schnell wieder herauskamen.

Wie sich herausstellte, waren es Ians und Andys Jugendfreunde, die auch alle in der Gegend wohnten und den Großteil ihrer Einkommen, sofern sie überhaupt Jobs hatten, in Saisonkarten und Auswärtsspiele von Celtic Glasgow investierten. Mit glühenden Gesichtern erzählten sie uns vom größten Ereignis ihres Lebens: der Reise zu einem Europacup-Match von Celtic in Amsterdam. Dort hatten sie sich nach Spielende mit gefälschten Tickets in den VIP-Bereich von Celtic geschmuggelt und ein Trikot von sämtlichen dort anwesenden Spielern signieren lassen. Als man ihnen auf die Schliche kam, wurden sie aus dem VIP-Bereich geschmissen und zettelten, wenn ich sie richtig verstand, zur Feier des Tages eine wüste Keilerei in einer Rotlichtbar an.

«Ist es das Shirt da oben?» Pete nickte zu einem Celtic-Trikot mit verblassten Unterschriften, das in einer Glasvitrine über der Bar hing.

«Shirt?», brüllte einer der Jungs. «Das ist kein Shirt, Mann! Das ist eine gottverdammte Reliquie!»

Sie prusteten los, Pete grinste, und auch ich musste zugeben, dass die gute Laune dieser Jungs ansteckend war. Angeheitert ging ich pinkeln und machte auf dem Rückweg einen Abstecher zur Jukebox. Sie stand neben einer winzigen Bühne, den ganzen Abend über war irischer Folk auf ihr gelaufen. Ich warf ein 50-Pence-Stück ein und wählte, da ich nichts Neueres fand, Song 2 von Blur aus. Als ich mich wieder gesetzt hatte und das Stück begann, drehte sich Andy, der sich inzwischen auf einen Hocker an der Bar gesetzt hatte, mit wutentbranntem Gesicht um.

«WER WAR DAS?», zeterte er los. «Wer lässt diese Schwuchteln laufen?»

Mein Puls raste schneller, denn Andys Augen blieben an mir haften. Vermutlich hatte er mich genau gesehen. Ian drehte sich zur Bar um und versuchte, seinen Bruder zu beruhigen.

«Lass mal gut sein Andy, ja?», rief er ihm zu. «Die Jungs konnten nicht wissen, dass du kein Blur-Fan bist.»

«Ist nun mal Musik für Schwuchteln, Bruderherz», fuhr Andy fort. Er schien sich nur mit Mühe beherrschen zu können, und schon sein Blick allein warf alle meine Schweißdrüsen an. «Bist du eine Schwuchtel?», rief er mir zu. «Denn wenn du Blur magst, musst du ja eine sein, nicht?»

«Andy, hör jetzt auf damit!» Ian lachte, klang dabei aber halb verlegen und halb verärgert.

Obwohl Andy abwinkte, mir den Rücken zukehrte und sich wieder über sein Bier beugte, hatte ich keinen Zweifel, dass er mir unter anderen Umständen die Fresse für Song 2 poliert hätte. Genauso wie er vermutlich andere Leute dafür verprügelte, dass sie das falsche Fußballtrikot übergezogen hatten. Zum Glück rief die Barfrau zur letzten Runde. So mussten wir Ians vergebliche Versuche, die Stimmung wieder zu kitten, nur noch ein Pint lang ertragen. Nachdem wir Ian das Versprechen abgerungen hatten, morgen unsere Instrumente abzuholen und mit dem Proben zu beginnen, torkelten Pete und ich sternhagelvoll aus dem Rabbit’s Head. Wir schlugen die Richtung ein, in der Ian uns eine Bushaltestelle versprochen hatte. Als wir sie endlich erreichten, sahen wir gerade noch die Lichtkegel des letzten Busses hinter einer Ecke verschwinden. Fluchend machten wir uns zu Fuß auf den Heimweg. Wir waren keine hundert Meter gelaufen, da krachte es oben am schwarzen Himmel. Es begann wie aus Kübeln zu gießen.

Pete

Am nächsten Morgen erwachten wir mit verstopften Nasen und Fieber. Fluchend zogen wir den Heizkasten auf, dem wieder mitten in der Nacht die Puste ausgegangen war, und sagten Ian für heute ab. Stattdessen schlugen wir auf der Ausziehcouch im Wohnzimmer unser Krankenlager auf. Wickelten uns in die Bettdecke, tranken Tee und glotzten auf dem Fernseher MTV. Gefühlt jeder dritte Clip war When The Sun Goes Down von den Arctic Monkeys. Er zeigte eine wirre Geschichte um eine Junkie-Nutte und ihren Zuhälter, den wir aus Guy-Ritchie-Filmen kannten.

«Ach», ich rutschte missmutig auf der Ausziehcouch herum, «so gut sind die nicht.»

«Sie haben schon was», meinte Janosch und rieb die Hände an seinem Teebecher, dessen Henkel abgebrochen war.

Die verdammten Arctic Monkeys. Seit Wochen füllten sie die Musikzeitschriften, als ob neben ihnen keine anderen Bands mehr existieren würden. Die Monkeys hatten sich auf Myspace eine riesige Fanbasis aufgebaut und sich so einen Plattendeal geangelt. Vor wenigen Tagen hatten sie ihr Debütalbum rausgebracht. Nun sprengten sie damit trotz Internetpiraterie und Krise der Musikindustrie alle Verkaufsrekorde. Als ich dick eingepackt rausging, um im nächsten Supermarkt Zitronen zu kaufen, sah ich die vier Wuschelköpfe sogar von den Tabloid-Zeitungen in einem Kiosk grinsen.

Warteten wir unterdessen tatsächlich und tranken Tee?

Ich deckte mich in der nächsten Apotheke mit Paracetamol ein und scheuchte Janosch zu Hause von der Couch auf. Erst nörgelte er rum, dass wir noch kränker würden, wenn wir jetzt rausgingen. Doch schließlich sah auch er ein, dass Herumheulen keine Option war, wollten wir hier was erreichen. Wir stopften uns mit Paracetamol voll und riefen Ian an. Erst fuhr er uns zum Flughafen, wo wir unser Equipment holten und britische SIM-Cards für die Nokias kauften. Dann holten wir Ians altes Drumkit aus dem Keller seiner Eltern. So voll beladen, dass der Motor von Andys Schrottkarre nur noch röchelte, fuhren wir in eine abgerockte Industriegegend. Hinter Backsteinmauern ragte der Schornstein einer stillgelegten Fabrik in den tiefen Himmel, der wohl zu Glasgow gehörte wie die Sprünge im Asphalt. Alles hier war so düster, dass man gleich einen Drum ’n’ Bass-Videoclip hätte drehen können.

Wir trugen unser Zeug ins Untergeschoss eines Warenhauses, dessen Fenster mit Brettern zugenagelt waren. Dort öffnete Ian einen Raum mit fleckigem Spannteppich und Röhrenlicht. Unser neuer Proberaum. Von nun an übten wir jeden Tag. Ian lernte unsere Songs erstaunlich rasch. Auch wenn er bei keinem Durchgang dasselbe spielte wie beim vorigen, knallten seine Schläge präzise im Takt. Seine selbstbewusste Art, das Drumkit zu bedienen, täuschte über verpasste Einsätze und andere Unzulänglichkeiten hinweg. Nach ein paar Tagen verschwand auch das Fieber. Unsere Körper gewöhnten sich an den Regen und die feuchte Kälte, die durch jede Gebäuderitze in Glasgow kroch. Etwa so, wie unsere Gaumen widerwillig akzeptierten, dass auf die Fritten in den allgegenwärtigen Fast-Food-Buden mit Open-Neonsignalen am Eingang Essig gespritzt wurde.

Eines Morgens geschah dann sogar, was ich nicht mehr für möglich gehalten hatte: Die Sonne brach durch. Sie leuchtete aus einem milchfarbenen Himmel auf die Sandsteinbauten und ließ die kupfergrünen Kuppeln der Innenstadt glitzern. Zogen die Leute in den Außenquartieren die Kapuzenpullover so tief ins Gesicht, als schämten sie sich, hier zu leben, machte die City eine selbstbewusstere Falle. Alles an ihr war massiv. Der Lärm, der abends aus den Pubs dröhnte. Die Prunkbauten, die den Kulissen des Harry-Potter-Films glichen, in den Linda mich mal geschleppt hatte. Die Windstöße, die durch die im Schachbrettmuster angelegten Straßen fegten und die Menütafeln vor den Restaurants auf den Gehsteig knallen ließen. Doch nicht nur der Wind zirkulierte in den Häuserschluchten. Sondern auch eine Energie, der man sich schwer entziehen konnte.

Glasgow war, wie Ian versprochen hatte, ein Ort für Musiker. Jedes zweite Pub versprach eine Liveband, und wo wir auch hinspazierten, sahen wir Gitarren: auf den Rücken von Fahrradfahrern, die sich durch die Autokolonnen schlängelten. Unter Tischen in Bars, in denen Bands Pläne ausheckten. An Bussitze gelehnt, über denen Köpfe zur Musik aus Kopfhörern nickten.

Deshalb wurden wir auch ungeduldig, als Ian nach zwei Wochen immer noch keinen Gig für uns geangelt hatte. Fragten wir nach, versicherte er, unsere Demo-CDs in Glasgow verteilt zu haben und auf die Antworten seiner Kontakte zu warten. In der Zwischenzeit begann er, im Rabbit’s Head auszuhelfen; zudem ging er ab und zu Andy bei irgendwelchen Geschäften zur Hand. Janosch war felsenfest davon überzeugt, dass die nicht sauber waren. Einmal eilte Ian sogar überstürzt aus unserer Probe, weil irgendeine Quartiergang im Rabbit’s Head eine Scheibe eingeschlagen hatte und er mit Andy und den Jungs Kriegsrat halten musste.

«Einen tollen Manager haben wir uns da geangelt.» Zurück an der Harley Street setzte Janosch diesen sarkastischen Blick auf, der mir so auf den Wecker ging. «Wo verschafft er uns wohl unseren ersten Gig? Im Rabbit’s Head?»

«Weißt du, was das eigentliche Problem ist?», ätzte ich zurück. «Ian hat recht. Auf unserem Demo ist kein Hit. Seit Tower Boys hast du keinen Knaller mehr geschrieben.»

Anstatt die Les Paul wieder aus dem Gitarrenkoffer zu packen und sich ans Komponieren zu machen, verzog sich Janosch schmollend in die Küche und verdrückte die Reste des Take-away-Tikka-Masala von gestern. Ich setzte mich auf die Couch und zappte erschöpft durchs britische TV-Programm. Gegen dessen Exzentrik wirkte unseres zu Hause wie Valium. Als Janosch fertig war mit Tikka Masala und Schmollen und aus der Küche zurückkehrte, rief Ian an.

«Habt ihr nächste Wochenende schon was vor?», fragte er aufgeräumt. «Ich habe nämlich einen Auftritt für uns. Und zwar im Nice 'n' Sleazy. Einem der besten Konzertlokale der Stadt.»

«Endlich!», fuhr es aus mir heraus.

«Ich habʼ doch gesagt, dass ich jede Menge Leute kenne.» Ian klang für eine Sekunde eingeschnappt, dann lachte er gleich wieder. «Was läuft bei euch Stubenhockern im TV?»

«Soapstar Superstar», antwortete ich. Und fragte mich selbst, wie ich da hängen geblieben war.

«Schiebt ihr eine Depression?», wunderte sich Ian. «Es ist Samstagabend; im Vic geht heute die Post ab!»

«Ist das auch eine Fußballkneipe?», wollte ich wissen.

«Nein», erwiderte Ian. «Im Vic trifft sich die Musikszene von Glasgow. Kommt schon, ich gebʼ einen aus!»

Um elf fuhren wir in einem Bus voll mit aufgebrezeltem Partyvolk über die King-George-Brücke in die City hinein. Zogen an Besoffenen vorbei, die mit Türstehern vor Pubs um Einlass stritten, und dann eine steile Straße hoch. Schließlich ragte ein majestätischer Sandsteinbau mit schwarz verstrebten Fensterfronten vor uns auf: die Glasgow School of Art. Auf der anderen Straßenseite hatte sich ein kleineres Schwestergebäude einen Platz erstritten – das Vic, das Lokal der Kunststudenten. Ian winkte uns von der Eingangstreppe aus zu, wo sich Leute mit Biergläsern drängten und schnatterten. An der Kasse zahlten wir fünf Pfund Eintritt, dann traten wir in die proppenvolle Bar. Sie war so schrottig eingerichtet wie das Rabbit’s Head – aber auf eine ganz andere, grandiose Art und Weise. Von der kahlen, mit Fettfilm überzogenen Decke hingen nackte Glühbirnen zum Bartresen runter. Über den wurde im Sekundentakt Lagerbier gereicht. Es kostete nur ein Pfund und wurde so großzügig auf den schwarz-weiß getäfelten Boden verschüttet, dass unsere Schuhe beim Gehen daran kleben blieben. Vor allem aber zog mich das Art-School-Publikum in den Bann. Niemand hier trug Trainingshosen oder Fußballtrikots. Dafür sah ich bunte Mäntel, kecke Frisuren und Stiefeletten – alles viel ausgefallener als zu Hause im Abart, wo alle Converse und Jeans anhatten. Begeistert folgten wir Ian zur Bar, wo er drei Bier bestellte und mit einer scharfen Barkeeperin im Leopardenmuster-Top plauderte. Wieso hatte uns dieser Depp nicht gleich hierhergebracht?

Ich nahm zwei der Gläser und reichte eines Janosch, der die Barkeeperin benommen anglotzte. Dann folgten wir Ian durchs Gedränge zur Treppe, die zum Konzertraum im Obergeschoss führte. Die Fensterfront des Saals war mit dicken schwarzen Vorhängen verdeckt; von der stuckverzierten Decke hing eine monströse Discokugel. Vorne auf der Bühne, zu drei Seiten ebenfalls mit Vorhängen umfasst, spielte eine Band. Obwohl sie höchstens Mittelmaß war, hüpfte das Publikum ausgelassen auf dem federnden Springboden. Es fing sogar kreischend den Sänger auf, als der zum Ende des Sets in die Menge sprang.

«Habʼ ich euch schon erzählt, dass wir Glasgower als bestes Livepublikum der Welt gelten?» Ian platzte fast vor Stolz, als er unsere offenen Münder sah. «Manchmal planen Bands uns nur wegen der Stimmung mit in ihre Tour ein.»

Ich konnte es kaum erwarten, in einer Woche auch vor so einer begeisterten Menge zu spielen.

Dann legte Ian mir und Janosch je eine Hand auf die Schulter. «Sagt mal», fragte er mit spitzbübischem Grinsen, «wollt ihr heute richtig Party machen?»

«Na klar!», erwiderte ich.

«Dann kommt mal mit.»

Janosch

Wir folgten Ian wieder hinunter zur Bar und von dort aus eine weitere Treppe, auf der kurioserweise Sägemehl verstreut worden war, zu den Toiletten hinab. Damit man auf den Bierlachen nicht ausrutsche, erklärte Ian die Maßnahme. Er schwang die Toilettentür auf und drängte uns ohne weitere Erklärung in eine Kabine. Die Toilettenschüssel war verstopft und randvoll mit Wasser. Ian hatte aber sowieso nicht vor zu pinkeln. Stattdessen zog er seine Brieftasche hervor und entnahm ihr ein Plastiktütchen mit weißem Pulver.

«Ist das Kokain?», fragte ich erschrocken.

«Frisch vom Hafen.» Ian schüttete einen Teil des Pulvers auf den Spülkasten und zerteilte es mit seiner Celtic-Glasgow-Saisonkarte in drei gleichmäßige Linien.

«Auch was?», fragte er. «Geht aufs Haus.»

Während Ian eine Pfundnote zu einem Röhrchen rollte, wägte ich nervös ab. Mom und Paps hatten mir kaum je etwas verboten, aber bei Drogen hatten sie mich immer zur Vorsicht ermahnt. Auch wenn Mom in ihrer Jugend gekifft hatte. Bevor ich mir weitere Gedanken machen konnte, hatte Pete seine Linie aber bereits geschnupft und hielt mir mit aufforderndem Blick die gerollte Note hin. Ich zögerte, dann ergriff ich sie und zog auch meine Linie hoch. Das Kokain hinterließ einen unangenehmen Reiz in der Nase, so wie wenn man kalte Luft einatmet, und einen schalen Geschmack im Rachen. Wir verließen die Toilette unter den anzüglichen Sprüchen der wartenden Jungs, die Ian schlagfertig parierte, und nahmen die Treppe zurück nach oben.

«Wann wirkt es?», fragte Pete ungeduldig.

«Und wie wirkt es?», wollte ich wissen.

«Werdet ihr gleich merken, Jungs.» Ian trat voraus in den Saal. Nun wusste ich, was er meinte. Das Konzert hatte sich in eine Party verwandelt. Einmal im direkten Sinne: Die Band hatte die Bühne geräumt, ein DJ legte Funk auf, und die Discokugel an der Decke hatte sich zu drehen begonnen. Vor allem aber fühlte sich alles wie eine Party an. Die Musik schoss glasklar aus den Boxen, und obwohl ich Funk nicht besonders mochte, begann ich begeistert mit dem Kopf dazu zu nicken. Ich sah Pete nach, der wie von der Biene gestochen ins Getümmel unter der Discokugel stob, da begann ich auch schon ohne Punkt und Komma zu reden. Mit einem Schlag waren meine Selbstzweifel hinweggefegt. Ich war zu einem dieser Menschen geworden, die ungefiltert die Gedanken loswerden, die ihnen in den Sinn kommen.

«Oh mein Gott», rief ich und zeigte aufgeregt auf den DJ, der eine Muschel seiner Kopfhörer aufs Ohr presste. «Das ist doch Paul Thomson, der Drummer von Franz Ferdinand!»

«Ja, der legt hier manchmal auf», antwortete Ian beiläufig und konnte mich gerade noch davon abhalten, mitten im Set zu ihm zu stürmen und ihm Hallo zu sagen. Stattdessen holte ich uns beiden frisches Bier, ging aber statt zum Tresen im Saal nach unten an die Bar. Denn dort arbeitete die Frau, die unsere erste Runde herausgelassen hatte.

Ich hatte Glück – sie war noch da. Ihre nachtschwarze Lockenpracht fiel auf breite, runde Schultern, die aus einem Top mit Leopardenmuster herausragten. Sie wischte gerade den Tresen und hob, als ich mich näherte, freundlich eine Augenbraue. Ihre Bewegungen waren so sportlich und elegant zugleich, dass ich ihr stundenlang dabei hätte zusehen können.

«Hi», sagte ich. «Zwei Lager, bitte.»

«Zweimal Pfütze des Hauses, hm?»

Sie lächelte. Zwischen ihren oberen Schneidezähnen klaffte eine Lücke. Nun war es endgültig um mich geschehen.

«Wo kommst du her?», fragte sie, während sie sich geschickt ein Glas von der Ablage schnappte, Bier einließ und sich mit der anderen Hand das nächste Glas angelte.

«Aus der Schweiz. Aus Zürich.»

«Sprachschule oder Austauschsemester?»

«Weder noch», erwiderte ich. «Ich bin mit meinem Freund hier. Wir wollen Rockstars werden.»

In diesem Moment dankte ich Ian still für das Kokain. Denn ohne Drogen hätte ich nun vermutlich irgendwas gestammelt oder hätte vor Nervosität gar das Bier umgestoßen, das die Frau auf den Tresen stellte. Doch nun strahlte ich sie mit all meinem Charme an.

«Aha. Jemand mit Ambitionen!» Mit amüsiertem Blick nahm sie das zweite Glas vom Zapfhahn und schob es mir über den Tresen zu. «Wie heißt eure Band denn?»

«Noise Parade», sagte ich und drückte zwei Pfund in ihre weiche, weiße Hand.

«Nie gehört.» Wieder hob sie eine Augenbraue; sie zwinkerte mir sogar zu. «Aber das kann sich ja ändern. Hals- und Beinbruch, Kumpel!»

Ich wäre gerne noch länger bei der Barkeeperin und ihrer atemberaubenden Zahnlücke geblieben. Doch sie lächelte bloß noch einmal, dann wandte sie sich zu ihrer Kollegin am anderen Tresenende um und rief ihr scherzhaft etwas zu, das ich nicht verstand. Als ich, ein randvolles Bier in jeder Hand und das Gelächter der beiden in den Ohren, auf der Treppe nach oben stieg, geschah etwas Seltsames. Innerhalb von Sekunden verwandelte sich meine Euphorie über die Begegnung in bittere Enttäuschung darüber, dass sie bereits vorüber war. Und darüber, dass ich die Frau vielleicht nie wiedersehen würde. Der Konzertsaal wirkte auf einmal finster. Ich scheute die Blicke der Umstehenden, murmelte Entschuldigungen, weil ich im Gedränge Bier auf fremde Füße und Ärmel verschüttete, und suchte mit wachsender Verzweiflung nach Ian.

Ich fand ihn schließlich in einer Ecke des Saales. Er hatte bereits ein neues Bier in der Hand und unterhielt sich mit einem Typen, der eine schwarzglänzende Melone und eine rote Kutte mit Goldköpfen trug wie ein Zirkusdirektor. Ian lächelte fürsorglich, als er mich erblickte, trank sein Bier aus und nahm mir eines ab.

«Alles klar, Kumpel?», fragte er.

Ich zögerte, worauf er eine Hand auf meine Schulter legte.

«Ist ausgefahren, hm?»

Ich nickte eifrig, weil es sich genauso anfühlte. Ausgefahren. Ian langte in die Hosentasche und drückte mir unauffällig das Tütchen in die Hand. «Zieh dir noch eine Linie.»

Damit das Kokain diesmal länger anhielt, nahm ich unten auf der Toilette zweimal so viel wie zuvor. Dass es stattdessen einfach doppelt so stark wirken könnte, hatte ich nicht bedacht. Noch bevor ich die Toilette verlassen hatte, fühlte ich mich wie der frisch gekrönte König von Glasgow. Ich sprang die Treppe hoch, rutschte vor einer Gruppe Frauen auf dem Sägemehl aus, was mir aber kein bisschen peinlich war, und kehrte zur Bar zurück. In meinem Gesicht klebte ein Grinsen, das ich überhaupt nicht mehr abstellen konnte. Leider war die Barkeeperin nirgends zu sehen; überhaupt schien der ganze Tresen für den Moment verwaist zu sein. Also beugte ich mich darüber, nahm ein sauberes Glas von der Ablage und ließ mir am Zapfhahn ein Bier ein, albern kichernd über meinen Lausbubenstreich.

«Hey, was soll das?»

Ich sah auf. Auf einmal, als habe der Boden sie eben ausgespuckt, stand die Barkeeperin wieder hinter dem Tresen. Sie zeigte mir ihre Zahnlücke. Diesmal aber nicht, weil sie lächelte, sondern weil sich ihr Gesicht vor Ärger verzog. Die Nüstern ihrer Stupsnase blähten sich auf. Vor Schreck ließ ich den halbvollen Becher fallen. Das Bier ergoss sich über den Tresen und über ein Schneidebrett, auf dem ein Messer und geschnittene Zitronenscheiben lagen. Ungläubig starrte die Frau auf den Schlamassel. Dann sah sie mich an, als sei ich der größte Idiot der nördlichen Hemisphäre.

«Willst du mich eigentlich verarschen?», fragte sie.

«Ich wollte dir bloß die Arbeit abnehmen.»

Ich versuchte wieder das charmante Lächeln von vorhin, doch diesmal fühlte es sich wie eine Fratze an. Am liebsten hätte ich mich in Luft aufgelöst. Weil das aber nicht ging, stand ich einfach blöd da und sah zu, wie die Barkeeperin die Bierlache mit einem Lumpen aufwischte. Als sie bemerkte, dass ich unfähig war, mich vom Fleck zu rühren, hob sie den Kopf und seufzte.

«Halb so wild, Kumpel», sagte sie. «Aber du gehst jetzt wohl besser nach Hause, ja?»

Niedergeschmettert kehrte ich in den Saal zurück, zog meine Lederjacke aus dem Kleiderhaufen in einer Ecke, auf den wir unser Zeug geschmissen hatten, und suchte nach Pete. Er trug unseren einzigen Wohnungsschlüssel bei sich. Ich fand ihn an der Fensterfront, wo er, halb eingewickelt in einen der Vorhänge, eine Frau mit pinken Strähnen im blonden Haar abknutschte. Es war mir peinlich, aber schließlich räusperte ich mich und bat ihn um den Schlüssel. Pete fischte ihn aus seiner Hosentasche und hielt mich, als ich mich umdrehen wollte, am Arm fest.

«Weißt du, was ich bei unserem Gig machen werde?» Er grinste wie ein Lackaffe – er musste sich ebenfalls eine zweite Portion gegönnt haben – und verkündete: «Ich werde stagediven, genau wie der Sänger vorhin!»

«Tu das», erwiderte ich matt und verließ das Vic. Weil ich keine Ahnung hatte, wo hier ein Nachtbus fuhr, hielt ich nach einigen Metern ein Taxi an. Es war ein schwarzes Cab mit harten Sitzen, auf denen der Hintern rasch eiskalt wurde. Während der Fahrt drückte ich mir das Gesicht an der Scheibe platt und starrte in den dunklen Clyde, den wir Richtung Süden überquerten und in den ich mich gerade gerne gestürzt hätte. Nie wieder Kokain, schwor ich mir. Nie wieder Drogen.

Als wir eine Woche später – nicht weit von der School of Art entfernt – im Nice ʼnʼ Sleazy spielten, musste ich wieder an Petes Stagediving-Ansage denken. Wäre es nicht so deprimierend gewesen, hätte ich bei der Vorstellung, wie sich Pete von der Bühne ins Publikum warf, laut lachen können.

Denn das bestand in erster Linie aus Kenny, dem Veranstalter des Abends; ein blasser Junge mit Babyspeck an den Hüften und wachen, wasserblauen Augen. Er war als Einziger geblieben und nickte mitten im leeren Zuschauerraum zu unserer Musik. War man großzügig, konnte man auch die Frau hinten an der kleinen Bar mitzählen, die den Kühlschrank mit rot-weißen Bierdosen der hier beliebten Marke Red Stripe auffüllte. Damit waren wir mal wieder bei zwei Zuschauern angelangt.

Kaum waren wir am Nachmittag zum Soundcheck im Nice ʼnʼ Sleazy erschienen, einer Musikbar mit untergeschossigem Konzertraum, war uns klar geworden, welche Art von Gig Ian uns organisiert hatte. Er hatte, wie er zugab, am schwarzen Brett einer Glasgower Universität Kennys Anschlag für einen Newcomer-Bandabend gesehen und uns angemeldet. Wie die drei Bands, die vor uns gespielt hatten, mussten wir 50 Pfund Anteil für die Raummiete berappen und erhielten dafür ein Viertel des Eintrittsgeldes, auch wenn wir keinen einzigen Gast mitgebracht hatten. Die Band vor uns hatte uns deswegen vorwurfsvolle Blicke zugeworfen; mit ihr war auch der Rest des ohnehin bescheidenen Publikums verschwunden.

Obwohl unser 45-Minuten-Set erst zur Hälfte um war, kam es mir vor, als stünden wir schon seit Stunden auf der Bühne. Ian traktierte angetrunken die Drums; neben seinem Hocker standen zwei leere und ein angefangenes Red Stripe. Pete ließ sich, wie üblich, nichts anmerken. Er schwang sich mit seinem Bass hin und her wie ein wildgewordenes Pendel und trat manchmal so weit nach vorne an den Bühnenrand, dass ich fürchtete, er spränge demnächst wirklich auf Kenny.

«Thank you, Glasgow!», rief Pete nach dem letzten Song in die Leere des Raums hinein. Er tat es so feurig, dass sogar die Barfrau hinten klatschte und einen Jauchzer ausstieß. Wir luden unsere Verstärker und die Drums in Andys Karre, die Ian in der Nähe des Nice ʼnʼ Sleazy geparkt hatte. Da er noch ins Rabbitʼs Head wollte, fuhr er gleich los. Pete und ich kehrten in den Konzertraum zurück, packten unsere Instrumente ein und erhielten von Kenny 30 Pfund Konzertgage. Während Pete auf die Toilette ging, entschuldigten Kenny und ich uns gegenseitig dafür, dass wir nicht für mehr Publikum gesorgt hatten. Ich bestand darauf, Kenny von unserer Gage wenigstens eine Runde zu spendieren. Er wollte kein Bier, ließ sich von der Barkeeperin aber ein Wasser reichen.

«Wir kennen nun mal niemanden hier», bedauerte ich, als wir uns auf eine der roten Polsterbänke an der Seitenwand des Raums gesetzt hatten. Kenny knabberte an seinen Fingernägeln und schüttelte abwehrend den Kopf.

«Ich würde euch wieder buchen», erwiderte er. «Einfach, weil ihr gute Musik macht. Darum geht es am Ende ja, nicht?»

Ich nickte. Aber eigentlich waren wie ja hierhergereist, um genau solche Sätze nicht mehr hören zu müssen.

«Wir dachten eben, der Laden sei sowieso voll», erklärte ich. «Weil Glasgow ja eine Musikstadt ist.»

«Samstags ist die Konkurrenz halt immer groß», meinte Kenny. «Außerdem sind dann viele im Vic.»

«Sind dort eigentlich auch die A&Rʼs?», fragte ich.

«Welche A&Rʼs?» Kenny sah mich verdutzt an.

«Die A&Rʼs aus London.» Nun blickte ich Kenny verwundert an. «Ian sagte, hier in Glasgow wimmle es von Leuten aus der Musikindustrie, die auf der Suche nach den nächsten Franz Ferdinand seien.»

Kenny verschluckte sich vor Überraschung so heftig an seinem Wasser, dass ich ihm auf den Rücken klopfen musste.

«Da hat euer Manager aber arg übertrieben», meinte er und trank zur Beruhigung einen Schluck. Es komme schon mal vor, dass ein Londoner Label eine Glasgower Band unter Vertrag nehme, fuhr er fort und lächelte. «Aber die meisten Bands hier oben sind nicht darauf aus, Millionen zu scheffeln. Die drehen lieber ihr eigenes Ding. Das ist doch sowieso cooler, als jeden Hype mitzumachen, nicht?»

Ich lächelte, während es in mir zu kochen begann. Ian hatte uns einen Bären aufgebunden. Glasgow mochte die Stadt mit dem besten Livepublikum sein, wenn es denn auftauchte. Aber sicher nicht der Ort, an dem man einen Plattendeal mit einem Major-Label einfädelte. Wir hätten wohl ebenso gut auf die Äußeren Hebriden reisen können, um durchzustarten, überlegte ich, während ich Pete von der Toilette zurückkehren sah. Er wirkte wie ein Reisender, dem man noch nicht gesagt hat, dass er im falschen Hafen von Bord gegangen ist.

Pete

Draußen an der Sauchiehall Street, Glasgows Ausgangsmeile, war die Apokalypse ausgebrochen. Der Wind kippte die Werbetafeln für 50-Penny-Wodkashots vor den Pubs auf den Asphalt. Jungs in flatternden T-Shirts verdrückten Mitternachtskebabs. Mädchen in Miniröcken und mit den High Heels in den Händen torkelten schreiend herum. Eines kotzte sich mitten auf der Straße die Seele aus dem Leib, ihre Freundin hielt ihr derweil routiniert das Haar zurück. Dann gingen die zwei weiter, als sei nichts passiert.

«Sauchiehall Chaos», wie Ian uns vorgewarnt hatte.

Abgespannt kämpften wir uns durch den Wirrwarr und nahmen den Bus in die Harley Street. Janosch pennte gleich ein. Aber ich kriegte kein Auge zu. Ich hatte mich so auf unseren ersten Gig hier gefreut, und dann das. Ich war so enttäuscht gewesen, dass ich auf dem Klo im Nice ʼnʼ Sleazy um ein Haar die Toilettenschüssel zertrümmert hätte. Seit einem Monat hingen wir in Glasgow herum und standen noch immer auf Feld eins. Dabei hatte ich alles auf diese Karte gesetzt. Ich hatte Job und Zimmer in Zürich gekündigt und alles, was ich nicht mitnehmen konnte, auf Ebay vertickt. Was, wenn das hier schiefging?

Neben mir hatte Janosch friedlich die Augen geschlossen – er konnte ja auch einfach in die Arme seiner Familie zurückkehren. Ich konnte nirgendwo hin. Auf einmal bekam ich solchen Schiss, dass sich meine Kehle zuschnürte. Ich ging in die Küche, trank am winzigen Küchentisch ein Glas Wasser und zwang mich, ruhig zu atmen. Schob das kleine Hebefenster hoch und sah zum Hinterhof raus, wo der Mond ein gespenstisches Licht auf die Mülltonnen in den Backstein-Einfassungen warf.

Reiß dich zusammen, Pete, befahl ich mir. Es musste einen Weg geben.

Vor Kurzem hatten die Arctic Monkeys im New Musical Express von ihren Anfängen erzählt. Der NME dominierte mit seinen knalligen Schlagzeilen die britische Indieszene, samstags kauften wir deshalb immer die neuste Ausgabe. Jedenfalls hatten auch die Monkeys lange in halbleeren Clubs gespielt. Vor Freunden, die es kaum erwarten konnten, nach dem Konzert die Biege zu machen. Doch sie hatten durchgehalten und sich nach und nach eine Fangemeinde aufgebaut. Diese wiederum hatte für die Band geworben, indem sie Demo-CDs in Bussen liegen gelassen und die Songs im Internet verbreitet hatte.

Auch Franz Ferdinand hatten eine Weile gebraucht. Die Bandmitglieder hatten zuvor in erfolglosen Combos gespielt, bis sie mit Anfang 30 dann doch noch Rockstars wurden. Doch auch sie hatten eine zündende Idee gehabt: Sie hatten ein leer stehendes Gebäude in Glasgow besetzt, es Château genannt und darin Partys veranstaltet, bei denen sie selbst auftraten.

Wir mussten uns auch was einfallen lassen. Nur was?

Fieberhaft dachte ich nach. Dann riss mich ein Hämmern an der Tür aus den Gedanken.

«Gewen!», krächzte eine vertraute Stimme. «Geeween!»

Dieser Idiot hatte mir jetzt gerade noch gefehlt.

Mit einem entnervten Schnauben riss ich die Tür auf und erklärte unserem schlotterndem Junkie-Nachbarn, dass Kevin noch immer auf Weltreise sei.

«Ist er eben nicht!» Eifrig schüttelte der Junkie den Kopf und begann, mich vollzuquatschen. Wenn ich ihn richtig verstand, hatte er heute Ms Wolf getroffen, die Besitzerin dieses Lochs. Und die hatte ihm offenbar erzählt, dass sie Kevins 200 Pfund für nächsten Monat bereits brieflich erhalten habe. Und zwar mit Absender aus Liverpool.

«Kevin zahlt 200 Pfund Miete?»

«Ja, natürlich», antwortete der Junkie irritiert. «Wie wir alle.»

Angestrengt überlegte er, wo er in seiner Geschichte stehengeblieben war. Ich musste mir derweil eingestehen, dass Ian uns über den Tisch zog. Die Bude kostete die Hälfte dessen, was wir an ihn abdrückten. Unser redseliger Nachbar hatte mittlerweile den Gesprächsfaden wiedergefunden und faselte irgendwas davon, dass Kevins Oma in Liverpool lebe und er sich vermutlich bei ihr verstecke.

«Vor wem sollte er sich denn verstecken?», fragte ich ungläubig.

«Vor Nigel.» Der Junkie zog eine Miene, als verrate er mir ein Staatsgeheimnis. Tatsächlich wurde seine Story nun so richtig abenteuerlich. Kevin, vermutete der, habe seine letzte Lieferung nicht bezahlen können und Glasgow deshalb wohl nach den Neujahrsfeiern fluchtartig verlassen.

«Was für eine Lieferung?» Langsam schwante mir Böses.

«Na was wohl, Junge? Smack!» Der Junkie zeigte sein verfaultes Gebiss und lachte. Dann nahm sein Heroinentzug wieder überhand. Allen Ernstes bat er mich darum, bei uns herumsuchen zu dürfen, ob Kevin etwas von seinem Stoff dagelassen habe. Ob er den Verstand verloren habe, fragte ich und knallte die Tür zu. Wütend trat der Junkie von außen dagegen und fluchte. Nigel werde uns bald besuchen, rief er noch durch die Tür und machte dann höhnisch lachend den Abgang.

«Was ist denn hier los, Pete?»

Hinter mir stand Janosch im Pyjama. Verschlafen rieb er sich die Mandelaugen.

«Was wollte der jetzt schon wieder?»

Ich informierte ihn darüber, dass wir vermutlich in der Wohnung eines verschuldeten Kleindealers wohnten, der sich gegenwärtig vor einem Großdealer namens Nigel verstecke.

«Was machen wir, wenn dieser Nigel mit einer abgesägten Schrotflinte die Tür durchschießt?», fragte Janosch. «Holst du dann wieder den Kartoffelstampfer aus der Küche?»

«Erzähl keinen Blödsinn!», erwiderte ich. «Der Typ ist doch paranoid.»

«Und wenn nicht?» Janosch zuckte zusammen, weil draußen auf dem Flur laute Stimmen erschallten. Wir kapierten zwar schnell, dass es andere Nachbarn waren, die betrunken nach Hause kamen. Doch da griff die Panik schon wild um sich. Hektisch begannen wir, die Wohnung auf den Kopf zu stellen, um nach versteckten Drogen, Drogengeld oder gar Waffen zu suchen. Wir stellten die Ausziehcouch auf den Kopf, tasteten im Parkett nach losen Teilen und öffneten sogar den Spülkasten der Toilette. Nach einer Stunde waren wir überzeugt, nicht in einem Drogenversteck zu hausen. Dafür hatten wir unter dem Wackelbett im Schlafzimmer eine angebrochene Flasche Captain Morgan-Rum entdeckt. Wir gossen davon etwas in den Tee, mit dem wir uns am Küchentisch beruhigten. Auf einmal begannen Janoschs Schultern in einem seltsamen Rhythmus zu zucken.

«Es war ein Fehler, hierherzukommen!», schluchzte er. «Ich hasse diese Stadt!

«Was dachtest du denn?», fuhr ich ihn an. «Dass man uns hier den roten Teppich ausrollt?»

Janosch schwieg und starrte trotzig in den Teebecher vor sich.

«Ian ist ein Armleuchter», gab ich schließlich zu. «Aber er ist immer noch der einzige Mensch, den wir hier kennen.»

«Der Typ zockt uns am laufenden Meter ab!»

Nun sagte ich nichts mehr. Ich war fix und fertig. Ich goss mir großzügig aus der Rumflasche in den Tee nach. Trank. Und hoffte, dass Janosch nicht kapierte, dass auch ich kurz davor war, in Tränen auszubrechen. Doch er schniefte nur noch einmal und schüttelte den Kopf.

«Ich bleibe nur, wenn wir uns von Ian trennen», sagte er, «sonst gehe ich nach Hause, Pete.»

«Na gut», erwiderte ich mit letzter Kraft. «Aber du sagst es ihm. Ich mag mich nicht immer um jeden Scheiß kümmern.»

Erst flackerte die übliche Panik in Janoschs Gesicht auf. Doch dann tat dieser Schisshase etwas, das ich ihm nicht zugetraut hätte. Er wischte sich mit der Hand über die Augen und nickte entschlossen: «In Ordnung. Ich sage es ihm.»

Janosch

Es ging schon auf den Abend zu, als Ian am nächsten Tag endlich das Telefon abnahm. Ich konnte ihn kaum verstehen, weil im Hintergrund ohrenbetäubender irischer Folkpunk lief und Leute durcheinanderschrien.

«Ian, wir müssen etwas Wichtiges besprechen», sagte ich.

«Was sagst du?», rief er. «Es ist etwas laut hier!»

«Wir müssen etwas Wichtiges besprechen, Ian!», rief ich zurück.

«Wir haben heute die Rangers runtergeputzt und feiern gerade. Kann das nicht warten?»

Ich atmete aus. «Nein», entschied ich. «Kann es nicht.»

Nun wusste ich auch, was der Lärm im Hintergrund bedeutete. Ich hatte ganz vergessen, dass heute das Stadtderby über die Bühne gegangen war. Den ganzen Tag schon hatten wir vom nahen Stadion der Glasgow Rangers her Fangesänge vernommen, uns aber nichts weiter dabei gedacht.

«Na gut!», schrie Ian durch das Stimmengewirr. «Dann kommt halt her.» Er nannte mir eine Straßenkreuzung in der Nähe des Stadions, wo er und seine Jungs vor einem Pub tranken.

Wir schlüpften in unsere Jacken, gingen die sonntäglich stille Harley Street hinunter und bogen in die vierspurige Hauptstraße ein, die an der Subway-Station vorbei zum Stadion führte. Ich wusste nicht, welcher Teufel mich gerade ritt, dass ich mich kopfvoran in die Höhle des Löwen begab. Doch es war wohl der Mut des Verzweifelten. Entweder wurden wir Ian los – oder wir konnten unser Vorhaben gleich ganz abbrechen. Auf der Hauptstraße kamen uns Pulks von blau-weiß-rot gekleideten Rangers-Fans entgegen, die Richtung Zentrum spazierten. Nur wenige Celtic-Fans in ihren grün-weißen Pullovern hatten sich in den Strom verirrt; sie schienen es eilig zu haben, von hier wegzukommen. Kein Wunder, dachte ich, während wir über plattgedrückte Pommes-Styroporboxen und wertlos gewordene Eintrittstickets trampelten: Je näher man dem Stadion kam, desto betrunkener wurden die Fans. Als wir den Weg einiger glasig dreinblickender Ranger-Anhänger kreuzten, löste sich ein drahtiger Mann aus der Gruppe, machte einen Satz auf mich zu und täuschte einen Schwedenkuss vor.

«Lass uns umkehren, Pete», stieß ich hervor, während der Mann davontorkelte und sich dabei vor Lachen den Bauch hielt. Von meinem Mut war nichts mehr übrig. Diese Stadt war einfach eine Nummer zu hart für mich. Ich musste an die sechste Klasse zurückdenken, als ich in einer Schülerauswahl Fußball gegen Oberstufenschüler gespielt hatte. Sie waren schneller und einen halben Kopf größer gewesen; wir hatten dem Ball nur hinterhergesehen und waren dauernd angerempelt worden.

Glasgow fühlte sich genauso an.

Doch Pete zerrte mich am Ärmel weiter, bis wir zu einer Gruppe Polizisten in schwarzen Hosen und neongelben Westen gelangten. Sie wachten vor Absperrgittern darüber, dass sich die beiden Fangruppen möglichst nicht vermischten. Sogar die Pferde einer berittenen Einheit schnaubten neben einer Reihe Streifenwagen. Vermutlich, weil wir nicht aussahen wie gewaltbereite Fußballfans, ließen uns die Polizisten kommentarlos durch eine Lücke zwischen den Gittern auf die andere Seite wechseln.

Hinter der Blockade lag, flankiert von rostroten Sandsteinhäusern mit Türmchen, die Kreuzung, die Ian uns angegeben hatte. Mitten auf ihr wankte eine Gruppe von Männern mit um die Hüfte gebundenen Celtic-Pullovern. Sie grölten You'll never walk alone, die Hymne der Celtic-Fans, die Ian uns zu Hause in Zürich einmal ergriffen vorgesungen hatte. Ich war heilfroh, dass auch ich nicht alleine ging, sondern Pete an meiner Seite hatte. Es lag die Art von unheimlicher Ruhe in der Luft, die jeden Augenblick in einen Sturm umkippen konnte.

«Da seid ihr beiden Knalltüten ja!»

Ian winkte uns aus einer feiernden Meute zu, die sich vor einem kleegrün gestrichenen Pub tummelte. Er hatte sich eine im Wind flatternde Celtic-Flagge um den Hals gebunden, sodass er damit aussah wie ein schottischer oder eben irischer Cäsar, und war gerade damit beschäftigt, daumendicke Pommes aus einer Styroporbox zu mampfen. Neben ihm standen Andy, in Trainingshose und Celtic-Trikot, sowie einige der Jungs von unserem Abend im Rabbitʼs Head. Sie registrierten unsere Ankunft aber gar nicht, da sie damit beschäftigt waren, provozierende Blicke zu den berittenen Polizisten an der Straßensperre zu werfen.

«Bisschen Glasgower Salat?» Ian bot uns zur Begrüßung Pommes an, die in brauner Soße aufgeweicht waren. Pete nahm eine; ich schüttelte den Kopf.

«Was war denn so wichtig, dass es nicht warten konnte?»

Mit fragendem Blick steckte sich Ian eine Pommes in den Mund. Er wirkte so glücklich über den Sieg gegen die Rangers, dass ich es kaum über mich brachte, den Satz auszusprechen, den ich auf dem Hinweg in Gedanken eingeübt hatte. Ich räusperte mich, dann sagte ich ihn trotzdem auf:

«Wir wollen nicht mehr, dass du unser Manager bist.»

Ian hörte auf zu kauen. «Wieso das denn?»

Dass er tatsächlich überrascht war, ließ mich dann aber gleich wieder sauer werden.

«Du behauptest die ganze Zeit Dinge, die nicht stimmen», antwortete ich. «Du kennst niemanden in der Musikindustrie, und in Glasgow gibt es überhaupt keine A&Rʼs aus London!»

«Woher willst du denn wissen, wen ich kenne?» Er kaute weiter und sah mich halb verärgert, halb belustigt an. «Falls ihr euch darüber beklagt, dass ihr nach einem Monat noch nicht auf der Titelseite des NME seid», fuhr er fort, «dann seid definitiv ihr es, die nichts vom Musikgeschäft verstehen.»

Ich holte Luft, um meine Bombe platzen zu lassen: «Und was ist mit unserer Monatsmiete?», fragte ich. «Du streichst doppelt so viel ein, wie wir Kevin zahlen müssten. Außerdem ist der gar nicht auf Weltreise, sondern auf der Flucht!»

Nun war Ian baff. Schweigend bohrte er eine Pommes in die eklige braune Soße, während er vermutlich überlegte, wie er sich aus der Angelegenheit winden konnte. Er entschloss sich zum Gegenangriff.

«Na und? Über was beklagt ihr euch?» Trotzig zuckte er mit den Schultern. «Ich habe euch eine Wohnung besorgt.»

«Darum geht es nicht! Du verarschst uns die ganze Zeit.»

«Ich helfe euch, verdammt noch mal!» Er knallte seine Styroporbox auf den Deckel des klobigen Abfalleimers neben ihm und deutete mit beiden Händen entrüstet auf seine verwaschenen Jeans. «Glaubt ihr, ich kaufe mir von dem Geld Kleider von Burberry oder so was?»

Ich schüttelte den Kopf. Die Pumas an seinen Füßen sahen zwar brandneu aus. Doch dies war wohl kein günstiger Moment für solche Spitzfindigkeiten, denn Ian kam in Fahrt und fuhr sich aufgebracht über den Schädelknochen.

«Das Geld wächst hier nicht auf Bäumen», schimpfte er. «Das ist nicht wie bei euch zu Hause. Weißt du, wann mein Dad das letzte Mal in den Ferien am Mittelmeer war? In der Wärme, wo ihm mal für eine Woche seine verfluchte Hüfte nicht schmerzt?»

«Darum geht es nicht», wiederholte ich leise, schämte mich aber zugleich, der reiche Schweizer zu sein, der keine Ahnung vom Leben anderer Leute hatte. Zu allem Übel hatten wir mit dem Wortwechsel nun auch die Aufmerksamkeit von Andy auf uns gezogen. Er knallte sein Bierglas auf den Abfalleimer und wandte sich uns zu.

«Gibtʼs ein Problem, Bruderherz?» Seine Stimme klang so bedrohlich wie eine anfliegende Bomberflotte. «Haben die Schwuchteln hier was gegen dich? Soll ich ihnen zeigen, was mit Leuten passiert, die nicht nett zu meinem kleinen Bruder sind?»

«Vergiss es, Andy. Spielt keine Rolle.»

Ian nahm ihn besänftigend am Arm, doch es war zu spät. Andy hatte mich bereits im Visier. Vermutlich hatte er sich sowieso vorgenommen, zur Feier des Tages jemanden zu verprügeln. Das würde nun halt ich sein. Geschickt entwand er sich dem Griff seines Bruders und machte einen Satz auf mich zu, die Hände bereits zu Fäusten geballt.

So musste es sich anfühlen, wenn man von einem wilden Tier angegriffen wurde. Ich stand paralysiert da; unfähig, zu fliehen oder in Deckung zu gehen. Kein Bitten und Winseln würde Andy davon abhalten, mich auf dieser Glasgower Kreuzung zum Krüppel zu prügeln. Er schwang die Faust bereits, um sie mir mit voller Wucht ins Gesicht zu schlagen, als direkt neben ihm eine heransausende Flasche auf dem Asphalt zerschellte. Meine Rettung nahte, und zwar in der Form einiger Hooligans des Rangers Football Club. Sie trugen Polohemden und Sneakers, mussten so die Polizeisperre passiert haben und rannten quer über die Kreuzung auf uns zu.

Von da an lief alles nur noch in Zeitlupe. Ich hörte Schritte und zersplitterndes Glas. Ich sah schneeweiße Turnschuhe, die wie Pingpongbälle auf mich zuhüpften, und dann meine Arme, die instinktiv nach vorne schnellten und mit ungeahnter Kraft einen Mann im Polohemd von mir wegstießen.

Ein dumpfer Aufprall, ein gellender Schrei, dann schaltete der Film wieder auf Normaltempo. Andy hielt den Rangers-Hooligan, der auf uns zu gerannt war, im Schwitzkasten. Eine weitere Glasflasche flog dicht an mir vorbei und zersprang am Pub-Eingang, wo ein anderer Ranger-Hooligan einem Celtic-Fan das Trikot über den Kopf zog. Ich wurde weggezogen, stolperte fast, konnte mich aber gerade noch aufrappeln. Pete hatte mich gepackt und zog mich um die Hausecke in eine Quartierstraße, die von der Kreuzung abging. Ian folgte uns dicht auf den Fersen.

«Verschwindet von hier!», keuchte er und schob uns in die Straße hinein. «Das hier ist nichts für zarte Seelen.»

Damit stürzte er sich ins Getümmel zurück, das sich bereits in hektischer Auflösung befand. Uniformierte rannten heran, Pferde kamen angaloppiert. Zuletzt sah ich noch, wie Andy einem der Pferde einen Hieb auf die Schnauze versetzte, worauf die perplexen Polizisten ihre Pfeffersprays zückten und ihn großzügig damit einsprühten. Pete und ich rannten die Straße hinunter, bis wir in sicherer Entfernung waren. Dann verschnauften wir. Eine Euphorie machte sich in mir breit, wie ich sie schon lange nicht mehr gespürt hatte.

«Mit dem Hooligan im Lacoste-Hemd wäre ich fertiggeworden», sagte ich und zog mit zittrigen Fingern Tabak und Papers aus der Jackentasche. Wir waren kurz nach unserer Ankunft auf Selbstgedrehte umgestiegen, weil Zigarettenpacks hier so teuer waren wie ein halbes Abendessen.

«Klar doch, Janosch.» Pete klopfte mir kumpelhaft auf die Schulter. «Den hättest du plattgemacht.»

«Egal ob dieser Nigel kommt oder nicht –wir müssen aus unserer Wohnung heraus», entschied ich und steckte die Zigarette in den Mund. «Mit Ian sind wir fertig.»

«Einverstanden.» Pete nickte und gab mir Feuer. Vielleicht hatte ich falschgelegen, ging es mir durch den Kopf, während ich einen tiefen Zug nahm und sich das Nikotin in meinen Nervenbahnen ausbreitete. Vielleicht war ich doch hart genug für Glasgow.