3
Clair
Tag 5, 5.36 Uhr
Clair musste niesen.
»Verdammt noch mal«, murmelte Klozowski und sah sie quer durch ihre improvisierte Einsatzzentrale im John H. Stroger, Jr. Hospital an.
»Normale Menschen sagen Gesundheit«, gab Clair zurück und putzte sich die Nase.
»Meine Haut fühlt sich schon ganz klamm an. Mein Hals ist trocken, und mir tut alles weh«, sagte Klozowski. »Du weißt, was auf uns zukommt, oder? Als Nächstes Durchfall. Nichts ist schlimmer als Dünnpfiff, wenn man sich nicht innerhalb der eigenen vier Wände befindet. Nach und nach lösen sich die inneren Organe in Wohlgefallen auf und werden zu Brei. Die Augen auch. Wir treten von dieser Welt als breiige Pfütze ab. So hab ich mir das nicht vorgestellt. Als ich zur Polizei gegangen bin, hab ich mir eher gedacht, dass ich bei einem gloriösen Schusswechsel sterbe oder bei einer Durchsuchungsaktion oder bei einer Festnahme durch das Sondereinsatzkommando – aber doch nicht so!«
»Gloriös ist kein Wort«, entgegnete Clair. »Außerdem arbeitest du bei der IT. Was du da aufzählst – davon kriegt ihr Computernerds doch überhaupt nichts mit! Wahrscheinlich verblutest du eher an einem Papierschnitt oder bei einem Unfall mit deinem Federmäppchen.« Sie zerknüllte ihr Taschentuch und warf es in den Papierkorb unter dem Schreibtisch. Obenauf lag immer noch Upchurchs Krankenakte. »Außerdem hast du da, was die Symptome angeht, irgendwas durcheinandergebracht. Was du meinst, ist Ebola. Bei SARS lösen sich die Organe nicht auf.«
»Na, das wär dann ja mal Glück im Unglück.«
Clair nickte in Richtung von Klozowskis Laptop. »Gibt’s schon eine Zahl?«
»Willst du nicht hören.«
»Muss ich aber.«
»Dreiundzwanzig.«
Clair horchte auf. »Gar nicht so viele wie befürchtet. Hätte viel schlimmer kommen können.«
Klozowski hob die Hand. »Dreiundzwanzig potenzielle Opfer aus Upchurchs Akte. Wir haben sie mitsamt Familie hierher ins Krankenhaus gebracht. Wenn man die Ehepartner und Kinder mitzählt, sind wir schon bei siebenundachtzig.«
»Ach du Schande.«
Als sie begriffen hatten, dass Upchurch und sein Komplize die Leute umbringen wollten, die sie für Upchurchs missglückte Behandlung verantwortlich machten, hatte Clair sie alle ausfindig machen können und in die Klinik bringen lassen, weil sie davon ausgegangen waren, dass dies der einzige Ort war, an dem eine so große Gruppe sicher wäre. Doch genau damit hatten Upchurch und sein Komplize gerechnet – sie hatten Upchurchs jüngste zwei Opfer, Larissa Biel und Kati Quigley, mit einem hoch ansteckenden Krankheitserreger infiziert, weil sie genau gewusst hatten, dass die Mädchen ins nächstbeste Krankenhaus gebracht werden würden – und das war nun mal Stroger.
Binnen weniger Stunden hatten sie nicht nur die restlichen Leute von Upchurchs Todesliste der Virusgefahr ausgesetzt, sondern auch sämtliche Mitarbeiter, Patienten und aus anderen Gründen im Krankenhaus Anwesende. Inklusive Clair Norton und Edwin Klozowski.
Porter hatte Clair jedoch nicht nur deshalb angerufen, sondern auch, um zu berichten, dass es sich um ein SARS-Virus handelte und dass Upchurchs Komplize kein Geringerer als Anson Bishop war. Das komplette Krankenhaus war unter Quarantäne gestellt worden, und den gesetzlichen Vorschriften zufolge war Meldung an das Center for Disease Control ergangen, das augenblicklich ein Noteinsatzteam aus der nächsten Quarantänestation am O’Hare Airport geschickt hatte. Das Team war in siebenundzwanzig Minuten vor Ort gewesen; Kloz hatte extra auf die Uhr geschaut. In der Zwischenzeit hatte er bei sich geschlagene vier Mal Fieber gemessen.
Clair verstand immer noch nicht vollends, was Porters letzter Anruf zu bedeuten hatte.
Der Mann in der Leitung hatte nicht geklungen wie derjenige, den sie kannte.
Er hatte geklungen, als wäre er am Boden zerstört. Erledigt.
Sam hatte Dinge gewusst, die er gar nicht hätte wissen dürfen.
Als Nash und das SWAT-Team Upchurchs Haus gestürmt hatten, hatten sie Upchurch in einem Kinderzimmer im ersten Stock aufgespürt. Ein Kind war nirgends auffindbar gewesen – nur eine Schaufensterpuppe, die in Mädchensachen gekleidet und von Plüschtieren und Zeichnungen umgeben gewesen war. Wie sich herausgestellt hatte, handelte es sich bei dem Mädchen, mit dem sie gerechnet hatten, bloß um eine Figur aus einem nie veröffentlichten Comic, den Upchurch gezeichnet hatte. Er hatte sich ohne jeden Widerstand festnehmen lassen. Im Keller hatten sie Larissa Biel entdeckt – bewusstlos. Später erfuhren sie, dass das Mädchen Glas geschluckt hatte. Erst nahmen sie an, Upchurch habe sie dazu gezwungen, aber wie sich zeigen sollte, hatte sie die Splitter aus freien Stücken geschluckt, um zu verhindern, dass er das Gleiche mit ihr täte wie mit den anderen. In ihrer schriftlichen Erklärung schilderte sie, wie Upchurch die Mädchen ertränkt und dann wiederbelebt hatte – allem Anschein nach, weil er auf irgendeine verquere Weise versucht hatte herauszufinden, ob es ein Leben nach dem Tod gab. Als Larissa das Glas geschluckt hatte, war sie für ihn schadhaft gewesen, hatte für seine Versuche nicht länger getaugt.
Clair wollte sich nicht einmal ausmalen, wie man eine solche Entscheidung treffen konnte. Die Stärke, die Larissa Biel an den Tag gelegt hatte, indem sie die Pläne dieses Wahnsinnigen durchkreuzt und ihr Schicksal in die eigenen Hände genommen hatte, war schier nicht zu fassen. Biel erholte sich derzeit von der OP, bei der die Glassplitter entfernt und die Verletzungen in Hals, Kehlkopf und Magen versorgt worden waren. Was sie in Upchurchs Haus erlitten hatte, würde verheilen – allerdings wies sie inzwischen ebenfalls erste Symptome der Virusinfektion auf, die sie Anson Bishop zu verdanken hatte. Er hatte dem verletzten Mädchen eine Spritze mit dem Virus gesetzt. Ob sie sich auch davon erholen würde, stand in den Sternen.
Ebenfalls bewusstlos und mit einer kleinen weißen, mit schwarzer Kordel umwickelten Schachtel in Händen hatten sie auf dem Küchentisch in Upchurchs Haus Kati Quigley gefunden. Der Anblick schrie regelrecht nach Anson Bishop. In der Schachtel hatte ein Schlüssel gelegen, der zu einem Krankenhausspind im Stroger gepasst hatte. Und in diesem Spind hatten sie schließlich Paul Upchurchs Krankenakte gefunden – sowie einen Apfel, in dem eine Spritze steckte. Porter zufolge enthielt die Spritze den Krankheitserreger. Anscheinend hatte Bishop ihm verraten, dass er im Falle von Upchurchs Ableben irgendwo in der Stadt eine Epidemie damit auslösen würde.
Schneewittchen wusste es auch nicht besser , hatte Porter am Telefon gesagt.
Paul Upchurch selbst wurde zur Stunde operiert. Er hatte einen Gehirntumor, ein Glioblastom vierten Grades. Noch im Polizeigewahrsam war er zusammengebrochen. Porter hatte Clair aufgetragen, einen gewissen Dr. Ryan Beyer hinzuzuziehen, einen Neurochirurgen vom John-Hopkins-Uniklinikum. Sie hatte die Aufgabe an Klozowski delegiert, der keine zehn Minuten gebraucht hatte, um den Mediziner ausfindig zu machen. Clair hatte unterdessen Frank Poole vom FBI alarmiert, der wiederum Dr. Beyers Flug von Baltimore nach Chicago in einer FBI-Maschine organisierte. Der Flieger hob um kurz nach Mitternacht vom internationalen Flughafen Baltimore-Washington ab und landete nachts um einundzwanzig nach zwei in O’Hare. Von dort brachte eine Polizeieskorte Dr. Beyer ins Stroger Hospital, wo er an sämtlichen potenziell Infizierten vorbeigeschleust und zu den Operationssälen im zweiten Stock geführt wurde. Dort war Upchurch bereits vom hiesigen Personal für die OP vorbereitet worden. Upchurch und Bishop hatten mehrere Morde verübt, weil sie der Ansicht gewesen waren, dass Upchurchs Erkrankung nicht adäquat behandelt worden war. Im Guten wie im Bösen hatten seine Taten ihn an die Spitze einer langen Warteliste katapultiert – und nun stocherte also der führende Experte auf dem Gebiet in Upchurchs Gehirn herum.
Es klopfte an der Tür.
Sue Miflin, eine der Stroger-Stationsschwestern, steckte den Kopf herein.
»Detective? Dr. Beyer ist soeben aus dem OP gekommen und würde gern kurz mit Ihnen sprechen.«