5
Clair
Tag 5, 5.43 Uhr
Clair schaute zu der Krankenschwester, die in der Tür zu ihrem improvisierten Büro aufgetaucht war. Die Frau war im Dienst, seit Clair hier angekommen war, und sah keinen Deut besser aus als alle anderen – blutunterlaufene Augen, dunkle Schatten darunter, gebeugte Haltung. Trotzdem schien sie noch immer auf Hochtouren zu laufen. Clair meinte sich zu erinnern, dass die Frau nicht eine einzige Pause eingelegt hatte.
»Der Doktor ist auf Leitung vier«, sagte sie und nickte in Richtung des Telefons in der Dockingstation an der Wand.
Clair bedankte sich und kam auf die Füße.
Ihr tat alles weh.
Ihre Knochen. Die Kehle. Sogar die Augen pulsierten. Ihre Nase hatte sich in eine wahre Rotzfabrik verwandelt, und warm wurde ihr auch nicht mehr.
Kloz warf ihr einen argwöhnischen Blick zu. Drüben in seiner Ecke schien es ihm selbst kein bisschen besser zu gehen.
Sie lief auf den Telefonapparat zu, nahm den Hörer in die Hand und drückte auf den blinkenden Knopf. »Hallo? Hier spricht Detective Norton.«
»Detective, hier ist Dr. Beyer.«
Aufgrund der Quarantäne waren sie sich noch nicht
persönlich begegnet. Sie hatte ihn sich vorgestellt wie eine Mischung aus George Clooney, Patrick Dempsey und diesem niedlichen Typen aus Scrubs
, weil der ihr immer ein Lächeln entlockt hatte, und sie brauchte jetzt etwas, worüber sie lächeln konnte. Seine Stimme war sonor, leicht rau. Die Stimme eines Mannes, der schon sein Leben lang genau überlegte, bevor er etwas sagte.
Er räusperte sich und sagte dann genau das, was sie nicht hatte hören wollen: »Der Fall ist hoffnungslos. Das wissen Sie, oder? Dem Mann kann nicht mehr geholfen werden.«
Verstohlen spähte Clair zu Kloz. Was immer er gerade am Rechner getan hatte, lag auf Eis. Er starrte sie an. Leise sagte sie ins Telefon: »Wenn der Mann stirbt, dann bedeutet das höchstwahrscheinlich, dass Anson Bishop irgendwo in der Stadt SARS-Erreger freisetzt. Und das hieße, dass Tausende Menschenleben in Gefahr wären.«
»Das ändert leider nichts an den Tatsachen, Detective. Dieser Mann hat Krebs im Endstadium. Weite Teile seines Gehirns sind von den Tumoren komplett durchsetzt. Ich hab entfernt, was möglich war, aber der Schaden ist schlicht und ergreifend irreparabel. Ich bin gelinde gesagt überrascht, dass er überhaupt noch am Leben ist. Abgesehen davon, dass er motorische und Gedächtnisstörungen gehabt haben muss, hat der Tumor den hinteren Teil des Scheitellappens und die primär-motorische sowie die supplementär-motorische Rinde befallen. Wenn er wieder aufwacht, wird er nicht mehr vom Beatmungsgerät wegkommen. Außerdem ist sein Herzrhythmus gestört, und sein Sehvermögen dürfte gefährdet sein. Was die Lebensqualität betrifft …«
Der Arzt schwadronierte noch eine Weile weiter, und Clair schloss die Augen. »Wir haben gehört, Sie könnten ihn retten, weil Sie irgendeine Methode hätten …«
»Ich forsche an der Hopkins zur fokussierten Ultraschalltherapie«,
ging Dr. Beyer dazwischen. »Das ist ein nicht-invasives Verfahren zur Behandlung von Glioblastomen. Allerdings stecken wir, was die klinischen Versuche angeht, immer noch in den Kinderschuhen. Wenn er bei den ersten Symptomen vor ein paar Jahren an uns überwiesen worden wäre, hätte ich ihm vielleicht helfen können – aber jetzt? Dafür ist der Krebs zu weit fortgeschritten. Es gibt keine bekannte Methode mehr und keine Aussicht auf Besserung. Dafür ist es zu spät.«
»Und was können wir jetzt noch machen?«
»Nichts, was nicht schon versucht worden wäre. Stabilisieren Sie ihn. Machen Sie ihm das Leben so leicht wie nur möglich. Bereiten Sie sich auf das Unausweichliche vor. Es würde mich wundern, wenn er in seinem derzeitigen Zustand noch länger als ein, zwei Tage überlebt.«
Clair spähte erneut zu Kloz. Er hatte wieder diesen hoffnungsvollen Blick. Sie drehte sich von ihm weg und sprach weiter: »Sie werden der Presse erzählen müssen, dass Paul Upchurch seit der OP in besserer Verfassung ist, als wir es uns erhofft hätten. Dass sein Zustand sich stabilisiert. Dass Sie vorhaben, ihn mit ins Hopkins zu nehmen, sobald er transportfähig ist, und dort Ihre Behandlung fortsetzen. Sie müssen die Leute dort draußen davon überzeugen, dass Sie guter Dinge sind, was ihn angeht.«
Dr. Beyer antwortete nicht.
Clair sah auf die Uhr. »Hören Sie … Anson Bishop ist immer noch irgendwo dort draußen. Wir müssen ihn glauben machen, dass wir alles tun, was in unserer Macht steht, damit Upchurch die Behandlung bekommt, auf der Bishop bestanden hat. Gehen Sie nicht ins Detail – schieben Sie den Datenschutz vor oder was weiß ich. Sie müssen einfach nach außen überzeugend sein.«
»Detective, ich bin meinem Patienten verpflichtet, und mein Ruf als …
«
»Von Ihnen hängt möglicherweise das Leben Tausender Menschen ab. Dieser Mann, dieser Paul Upchurch, hat mehrere Mädchen entführt und ermordet. Zwei seiner Opfer liegen ebenfalls hier im Krankenhaus und kämpfen ums Überleben. Wenn Upchurch stirbt, führe ich hier ein Freudentänzchen auf, wie es die Welt noch nicht gesehen hat. Aber was die Öffentlichkeit angeht, was Anson Bishop angeht
, muss die Prognose positiv sein. Zumindest fürs Erste.«
Es blieb eine Weile still in der Leitung. »Darüber muss ich nachdenken, Detective. Und vielleicht mit meinem Anwalt sprechen. Was, wenn Bishop hier im Krankenhaus einen Komplizen hat, der alles mit anhört und an ihn berichtet? Ich persönlich kannte niemanden aus dem Team, das mit im OP war. Ich kenne nur meine eigenen Leute zu Hause in Baltimore.«
Clair seufzte und zupfte ihr zerzaustes Haar zurecht. »Ich sitze in diesem Zimmer fest … Sie müssen mit den Leuten aus dem OP reden. Erklären Sie ihnen, was auf dem Spiel steht.«
»Sie verlangen mir einiges ab, Detective.«
»Könnten Sie das tun?«
»Ich melde mich wieder.«
Er hatte aufgelegt, noch ehe sie etwas erwidern konnte. Sie hielt kurz inne, dann hängte sie den Hörer auf die Gabel.
»Und, wie war er?«, wollte Kloz wissen.
»Fantastisch.«
Noch bevor er darauf reagieren konnte, klopfte es erneut an der Tür. Durch das Fensterchen erkannte Clair Jarred Maltby vom CDC, dem Center for Disease Control. Er sah nicht glücklich aus.