11
Porter
Tag 5, 8.36 Uhr
Porter war zu aufgewühlt, um schlafen zu können. Sie hatten ihn gerade lange genug aus dem Vernehmungsraum gelassen, damit er aufs Klo gehen und am Wasserspender draußen auf dem Flur einen Schluck trinken konnte. Als sein Aufseher ihn hinausgeführt hatte, war es auf dem Flur still geworden. Detectives, die er seit Jahren kannte, Kollegen – sie hatten ihn alle bloß wortlos angestarrt. Er hatte den Impuls unterdrücken müssen, beide Hände nach oben zu reißen und »Buh!« zu rufen. Als sie ihn in den Raum zurückgebracht hatten, war er dort lange allein geblieben. Er hatte damit gerechnet, dass sie ihn einbuchten würden – sei es wegen der Beihilfe zu einem Gefängnisausbruch, wegen des Mordes im Guyon … Aber nichts passierte. Zumindest war bis jetzt noch nichts dergleichen passiert. Andererseits hatten sie es wahrscheinlich auch nicht eilig. Porter war klar, dass sie ihn hier nicht so bald wieder rauslassen würden. Er hatte die Augen geschlossen und versucht, sich auszuruhen, hatte aber nur das Geschrei in seinem Kopf gehört: die Fakten dieses Falles, die alle auf einmal auf ihn einbrüllten, hundert Stimmen, die in seinem Hirn im Widerstreit lagen.
Als es an der Tür klopfte, riss er die Augen auf. Verblüfft stellte er fest, dass volle zwei Stunden vergangen waren
.
Keine Ahnung, warum sie sich die Mühe gaben und anklopften. Er konnte die Tür ja doch nicht aufmachen. Eine gute Stunde lang hatte er dem Drang widerstanden, bevor er schließlich aufgestanden war und versucht hatte, den Türknauf zu drehen. Natürlich war die Tür verschlossen.
Als es klopfte, sah er also bloß hoch und wartete. Hörte, wie das Schloss entriegelt wurde. Einen Augenblick später schwang die Tür auf. Eine Frau Mitte zwanzig mit einer FBI-Marke und einem Chicago-Metro-Besucherausweis trug eine weiße Aktenkiste herein und setzte sie auf dem Tisch ab. »Das hier ist von Agent Poole.«
Dann war sie wieder verschwunden. Die Tür fiel zu und wurde verschlossen.
Es war still, nur die Klimaanlage surrte.
Porter ertappte sich dabei, wie er reglos die Kiste anglotzte. Er wusste genau, was sich darin befand, er konnte die Notizbücher verdammt noch mal regelrecht in der Pappkiste spüren – wie ein lebendiges, atmendes Tier, das es sich darin gemütlich gemacht hatte. Als er die flache Hand auf den Deckel legte, hätte er schwören können, dass davon Wärme abstrahlte.
Ein Schweißtropfen löste sich aus seiner Augenbraue und lief ihm über die Wange. Trotzdem machte er keine Anstalten, sich übers Gesicht zu wischen.
»Ich brauche etwas zu schreiben«, sagte er, ohne aufzublicken. Er wusste, dass ihn auf der anderen Seite des Spionspiegels jemand beobachtete, womöglich mehrere Jemands. »Und vielleicht Kaffee?«
Eine Minute später stand alles bereit – ein Whiteboard, Stifte, ein Becher und Kaffee in einer braun verkrusteten Kanne, deren Henkel mit Paketband umwickelt war.
Erst als er wieder allein war, zog Porter den Deckel von der Kiste, nahm ein Tagebuch nach dem anderen heraus und legte sie alle vor sich auf den Tisch. Sie waren
nummeriert, in der oben rechten Ecke stand jeweils eine Zahl – eins bis elf – in einer Handschrift, die er mittlerweile nur allzu gut kannte.
Er goss sich Kaffee ein und setzte sich wieder. Als er das erste Buch zur Hand nahm, konnte er regelrecht spüren, wie sich hinter dem Spiegel jemand leicht nach vorn beugte. Fast hätte er angefangen, laut vorzulesen.