14
Tagebuch
Um kurz nach sechs wachte ich auf und musste pinkeln. Nicht die Art Dreh-dich-noch-mal-um-und-denk-an-was-anderes-und-halt-noch-eine-Weile-durch-Pinkeln, ich musste wirklich dringend, als würde im nächsten Moment meine Blase platzen, wenn ich nicht sofort etwas dagegen unternähme.
Irgendwie hatte sich die Decke um meine Beine gewickelt, was es nicht besser machte. Ich fiel fast aus dem Bett, als ich mich in aller Eile aus dem Durcheinander befreien wollte. Auf der Matratze über mir schnarchte, schnorchelte und grunzte Paul unaufhörlich weiter vor sich hin. Er lag auf dem Rücken, sein rechter Arm hing über die Bettkante. Die Dämmerung schlich bereits um unser Fenster.
Ich durchquerte das Zimmer, zog die Tür auf und stürzte mit beiden Händen im schlafanzugbekleideten Schritt hinaus auf den Flur. Wenn Mutter Natur ruft, und zwar aus voller Kehle, dann geschehen zwei Dinge, wie jeder Junge bestätigen wird: Er verspürt den überwältigenden Drang zu rennen – und er wird hart. Beides würde anhalten, bis ich eine Weile auf der Toilette am anderen Ende des Flurs zugebracht hätte.
Nun war es aber folgendermaßen: Die Bohlen im Flur knarzten, und Vince Weidner hatte mir schon einmal gesagt, dass er das Geräusch bis zum anderen Ende des Flurs hören könne. Außerdem hatte er mir angedroht, wer immer die Bohlen zum Knarzen bringe, werde dafür hart bestraft, ziemlich sicher grün und blau geprügelt und womöglich sogar aus dem Weg geräumt. Vince war sein Schlaf heilig, während ihm alles andere – oder vielmehr jeder andere – ziemlich egal war. Außer vielleicht das mit der Bestrafung – das schien er trotz allem ganz gut zu finden.
Ich wusste genau, welche Bohlen knarzten.
Paul hatte eine Karte gezeichnet und mir gleich an meinem ersten Tag im Finicky-Heim aus genau diesen Gründen geholfen, mir alles einzuprägen. Mit diesem Wissen setzte ich den linken Fuß auf die Diele, die direkt an der gegenüberliegenden Wand verlief, und schwang dann den rechten einen knappen Meter weiter in Richtung Toilette auf eine Stelle in der Mitte des Flurs. Auch wenn mein Körper weiterhin einfach nur hätte rennen wollen, geschah dies alles vollkommen lautlos.
Libbys Tür war geschlossen, und wie jedes Mal, wenn ich daran vorbeiging, blieb ich kurz davor stehen und spitzte die Ohren.
Sie weinte nicht, das war schon mal gut. Sie weinte immer noch oft, allerdings nicht mehr ganz so viel wie im Camden Treatment Center. Auch wenn ich sie nicht weinen hören wollte, wollte ich sie wenigstens hören. Es war merkwürdig beruhigend zu wissen, dass sie so nah bei mir in diesem Zimmer war. Mir ist klar, dass das seltsam klingen muss – immerhin waren wir uns nie begegnet. Hatten nie miteinander gesprochen. Ich wusste kaum, wie sie aussah, hatte immer nur flüchtige Blicke erhascht.
Am anderen Ende des Flurs rauschte die Spülung, und dann ging die Tür zum Mädchenklo auf.
Tegan kam heraus. Sie hatte die Augen zugekniffen, streckte sich und gähnte herzhaft. Außer einem dünnen weißen Schlüpfer hatte sie nichts am Leib, und ich blieb wie angewurzelt stehen – sogar der Drang loszurennen hatte sich schlagartig verflüchtigt. Nur meine Morgenlatte verflüchtigte sich nicht, und als sie die Augen wieder aufschlug, blieb ihr Blick daran hängen – an dem Schlafanzugzelt über meinem Schritt. Ich versuchte noch, es zu verdecken, war aber ein bisschen zu langsam – und ich würde lügen, wenn ich behauptete, es hätte nicht daran gelegen, was sie anhatte (oder vielmehr daran, was sie nicht anhatte).
»Himmel noch mal, genug gegafft?«, fragte Tegan und kam auf ihren langen Beinen auf mich zu. Mehrere Bohlen knarzten. »Du bist ja pervers!« Dann schlüpfte sie in ihr Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu, dass die Wände wackelten.
In seinem Zimmer stöhnte Vince auf.
Wie der Blitz lief ich den restlichen Flur entlang, stürzte in die Toilette und schloss hinter mir ab. Ich erleichterte mich und überlegte schon, ob ich die kommende Stunde auf der Schüssel verbringen müsste, damit ich Vince nicht begegnete, oder ob ich es irgendwie zurück ins Bett schaffen könnte.
Hinter dem Klo befand sich ein schmales Fenster, das zur Auffahrt hinausging, und während ich dastand, pinkelte und sich in mir Erleichterung breitmachte, sah ich nach draußen. In der Auffahrt stand ein Wagen, ein weißer Chevy Malibu, den ich schon einmal gesehen hatte. Im nächsten Moment lief Detective Welderman um das Fahrzeug herum und zog die hintere Tür auf. Kristina Niven stieg aus, sagte noch etwas zu ihm und stampfte dann zur Haustür. Sie trug ein kurzes schwarzes Kleid, dazu passende Schuhe mit Absatz und hatte sich ein Handtäschchen unter den Arm geklemmt.
Als ich mich wieder dem Detective zuwandte, sah er mir direkt ins Gesicht.