16
Nash
Tag 5, 9.15 Uhr
Nash parkte den Chevy etwa einen halben Block von der Adresse entfernt, die Bishop geschickt hatte – 423 McCormick in der East Side. Er sah sich in beide Richtungen um. Nicht dass viel zu sehen gewesen wäre. Dieses Stadtviertel war in den Neunzigern von den meisten Chicagoern aufgegeben worden. Sobald diverse Gangs Einzug gehalten hatten, waren nach und nach auch die Ladengeschäfte verschwunden, bis nur noch eine Handvoll Pfandleiher und ein Kautionsvermittler sowie ein Kiosk geblieben waren, den kein Kunde betreten durfte. Stattdessen gab es ein fünf Zentimeter dickes Panzerglasfenster; über die Gegensprechanlage gab man seine Bestellung auf, und der Kioskbetreiber suchte die Sachen zusammen. Sobald bezahlt war, wurden die Einkäufe in eine Stahlschublade gelegt und dem Käufer übergeben. Über die Jahre, in denen es im Viertel immer schlimmer geworden war, hatten sich die letzten Bewohner (und selbst die Gangmitglieder) darauf verständigt, dass der kleine Laden unter besonderem Schutz stand. Seit sage und schreibe dreiundzwanzig Jahren war er nicht ausgeraubt worden – was trotzdem nicht hieß, dass der Ladenbesitzer die Tür aufmachte. Er ließ niemanden rein. Nicht mal einen Cop.
Damit hatte Nash nicht gerechnet – dass die Adresse, die Bishop geschickt hatte, 423 McCormick, ausgerechnet die Anschrift des Ladens war. Allerdings brannte drinnen Licht. Wahrscheinlich hatte der Besitzer um neun Uhr aufgemacht, auch wenn Nash hinter dem dicken Glas niemanden erkennen konnte.
Er beugte sich zum Handschuhfach, zog die Klappe auf, und Musikkassetten regneten in den Fußraum. »Scheiße.« Die Klappe hatte er schon vor Langem reparieren wollen. Ganz zuhinterst im Handschuhfach und mit Schwerlastschrauben auf den Plastikuntergrund montiert, lag ein Lederholster, in dem eine stupsnasige .38er steckte. Die nahm er heraus, kontrollierte die Trommel und schob sie sich im Rücken unter den Gürtel. Darüber hinaus steckte in seinem Schulterholster die vorschriftsgemäße Beretta, und eine Kel-Tec P-3AT trug er am Knöchel. Er hatte keine Ahnung, was ihm in den kommenden Minuten bevorstand, und hätte er ein Samuraischwert auf dem Rücksitz gehabt, hätte er womöglich auch das mitgenommen. Unter dem formlosen Mantel trug er eine Schutzweste. Die hatte er sich noch im FBI-Gebäude übergestreift, um zu vermeiden, dass ihn hier jemand dabei beobachtete.
Er legte sein POLIZEI-Schild unter die Windschutzscheibe, besann sich dann aber eines Besseren und warf es in den Fußraum zu den Kassetten. In dieser Gegend posaunte man besser nicht aus, dass man bei den Bullen war. Wahrscheinlich hatte es sowieso längst jemand spitzgekriegt. Er hatte immer noch niemanden zu Gesicht bekommen, spürte aber, dass er selbst beobachtet wurde – von oben, von vorn, von hinten. Er war sich sicher, dass er beschattet wurde; ob von Bishop oder einem hiesigen Späher, der seine eigenen Interessen oder die seiner Kumpels verteidigen wollte, blieb abzuwarten.
Nash atmete tief durch, drehte den Motor ab, stieg aus und trat auf den kalten, rissigen Gehweg. Er schlug die Tür zu, machte sich jedoch nicht die Mühe abzuschließen. Die Beifahrertür schloss ohnehin nicht, und in so einer Gegend legte man einem Dieb besser nicht auch noch Steine in den Weg. Andernfalls konnte man sich gleich auf die Suche nach einer neuen Scheibe machen.
Obwohl die Schneepflüge selbst in diesem Viertel die Straßen halbwegs frei hielten, sah es auf den Gehwegen komplett anders aus: An einigen Stellen war dreckschwarzer Schnee einen guten Meter hoch aufgetürmt, vor ein paar leeren Ladenfronten sogar noch höher. Nirgends war gestreut, und vorsichtig setzte Nash einen Fuß vor den anderen und umrundete vereiste Stellen, während jaulend der Wind an ihm zerrte.
Als er vor dem Fenster des Kiosks stand, klopfte er an die Sicherheitsscheibe, ging mit dem Gesicht ganz nah heran und spähte hinein. Ein Mann, vermutlich der Ladenbesitzer, saß auf einem Klappstuhl an einem Tisch zur Linken und las den Chicago Examiner. Er blickte kurz auf, sah Nash an und wandte sich wieder der Zeitung zu.
»Verdammt, was …« Nash klopfte erneut ans Fenster.
Ohne auch nur aufzublicken, drückte der Besitzer auf einen Knopf an einem klobigen Mikrofon. »Wollen kaufen, benutzen Sprechanlage.« Dann widmete er sich wieder der Zeitung. Blätterte um.
Nash wollte schon antworten, als ihm dämmerte, dass es keinen Zweck hätte. Er betrachtete das Mauerwerk und entdeckte den Knopf zur Gegensprechanlage auf einer Alukonsole zu seiner Linken. Er drückte den behandschuhten Finger auf den Knopf. »Ich bin …«
Er verstummte, wusste nicht, was er sagen sollte.
Ich bin mit Anson Bishop verabredet.
Ist Anson zu Hause?
Darf Anson rauskommen, spielen?
Der Mann schien genau zu wissen, weshalb Nash gekommen war – er musste gar nicht mehr sagen. Die Stahlschublade unter dem Fenster klappte auf – eine Stablampe und zwei Monozellbatterien. »Er meinte, Ihre Knarre können Sie von ihm aus mitnehmen. Aber Licht werden Sie brauchen.«
Nash griff in die Schublade, nahm die große Stablampe heraus, fummelte an dem Deckel am hinteren Ende herum, bekam ihn auf, schob die Batterien hinein und schraubte den Deckel wieder drauf. Statt LED ein älteres Modell mit Birnchen. Immerhin anständig hell.
»Sechs achtundfünfzig«, sagte der Ladenbesitzer.
»Wie bitte?«
»Lampe und Batterien: sechs achtundfünfzig.«
»Wo ist Bishop?«
Der Mann klapperte mit der Schublade. »Sechs achtundfünfzig!«
Nash schob die Hand in die Hosentasche, angelte einen Zehner heraus und legte ihn in die Schublade.
Der Besitzer zog die Schublade zu sich herüber, steckte den Zehner in seine Brieftasche und widmete sich wieder seiner Zeitung.
»He, und was ist mit dem Wechselgeld?«
»Viertel-Verschönerungs-Abgabe«, sagte der Mann, ohne aufzublicken.
Nash war nicht in der Stimmung, mit ihm zu streiten. »Dann sagen Sie mir jetzt, wo Bishop steckt.«
Der Ladenbesitzer seufzte, ließ die Zeitung sinken und wies mit dem knochigen Zeigefinger in Nashs Richtung. »426, direkt gegenüber. Wenn Sie in Begleitung gekommen wären, hätte ich 430 sagen sollen.«
»Ich bin allein.«
»Deshalb ja auch 426. Sind Sie schwer von Begriff? Ich sehe selbst, dass Sie allein sind. Und jetzt verschwinden Sie, Bullen sind schlecht fürs Geschäft. «
Als der Ladenbesitzer diesmal die Zeitung hochnahm, hielt er sie vor sich, damit Nash ihn nicht mehr sehen konnte. Eine unüberwindbare Mauer aus Druckerschwärze und Recyclingpapier.
Nash drehte sich um, wäre um ein Haar auf einer vereisten Stelle ausgerutscht und konnte sich gerade noch so aufrecht halten, indem er sich mit der freien Hand an der Klinkerwand abstützte. Die 426 auf der anderen Straßenseite sah kein bisschen besser aus als der Rest. Drei Stockwerke hoch, roter Backstein, solide schwarze Gitter vor den Fenstern im Erdgeschoss, Sperrholz vor den übrigen Fenstern. Jemand hatte auf die grüne Eingangstür einen orangefarbenen Pimmel gemalt und »CaliCorn 16« daneben geschrieben, was Nash rein gar nichts sagte.
»426 McCormick«, murmelte er vor sich hin, während er an dem Gebäude hochsah. »Fürs Sterben genauso gut wie jeder andere Ort auch.«
Er nahm sich noch einen Moment Zeit, um nach links und rechts zu sehen, und überquerte die Straße – bei Rot. Doch abgesehen von seinem Chevy war das einzige Fahrzeug weit und breit ein ausgebrannter alter Transporter, der halb unter dem Schnee begraben war.