26
Clair
Tag 5, 10.02 Uhr
»Verdammt, ist das alles grässlich.«
Clair hätte auf Klozowskis Feststellung verzichten können, aber anscheinend hatte der Mann das Bedürfnis, laut auszusprechen, was ohnehin auf der Hand lag. Sie war drauf und dran, das Büro zu durchqueren, seinen Laptop zuzuklappen und ihm damit eins über den Schädel zu geben. Es war nicht das erste Mal, dass sie diesen Impuls verspürte, aber heute würde sie es vielleicht erstmals wahr machen. Wenn sie nicht dermaßen erschöpft wäre und sich nicht so krank und verschnupft fühlen würde …
Als sie Captain Dalton angerufen und ihn von Upchurchs Ableben in Kenntnis gesetzt hatte, schien er kein bisschen überrascht gewesen zu sein. Natürlich war das zu erwarten gewesen. Doch als sie ihm obendrein erzählte, was Upchurch zu ihr gesagt hatte, war er ebenso wenig verblüfft – und das
war verkehrt.
Er kannte Sam gut genug, um genau zu wissen, dass das nicht wahr sein konnte – und doch hatte er die Nachricht entgegengenommen wie die jüngste Wettervorhersage. Am Ende hatte er ihr befohlen, es niemandem zu erzählen – nicht den Medienvertretern, nicht den Kollegen der Bundesbehörden, keiner Menschenseele.
Ihr Handy vibrierte, und sie sah aufs Display.
Bishop festgenommen
.
Nash hatte die Nachricht geschickt.
»Nash hat Bishop geschnappt«, sagte Clair so leise, dass sie sich nicht sicher sein konnte, ob Kloz sie gehört hatte.
Er beugte sich näher an seinen Laptop heran. »Ich weiß. Sag ich doch. Alles ganz grässlich. Komm, das musst du dir ansehen.«
Sie hatte mit dem Rücken zur Wand am Boden gesessen, gleich neben der Tür, und als sie aufstand, protestierten ihre Gelenke mit einem lauten Knacksen. Er drehte den Laptop so herum, dass sie den Bildschirm sehen konnte. Ein Standbild von Nash vor einer Tür. Er hielt ein Pappschild mit der Aufschrift Ich ergebe mich
in der Hand. Darunter lief in einem eingeklinkten Fenster ein Video auf Dauerschleife: Anson Bishop, der auf dem Boden irgendeines Zimmers lag, und Nash, der auf ihn eintrat. Jedes Mal, wenn sein Stiefel Bishop in die Magengrube traf, fing das Video wieder von vorn an. Unter dem Kästchen mit dem Clip stand in riesigen Blockbuchstaben: So arbeiten Chicagos beste Ermittler.
»Das da verbreitet sich gerade in den sozialen Netzwerken«, sagte Kloz.
»Oh nein.«
»Und es geht noch schlimmer.«
Kloz klickte einen Link an, und ein weiteres Video öffnete sich – es fing damit an, wie Nash Bishop in den Bauch trat, Bishop sich davon zu erholen schien, ein paarmal hustete und dann sagte: »Ich habe mich ganz eindeutig ergeben und mich einem Angehörigen der Chicago Metro gestellt. Ich habe keinen Widerstand geleistet, habe mich ihm nicht in aggressiver Weise entgegengestellt. Trotzdem ist dieser Detective der Ansicht, er müsste Gewalt gegen mich ausüben und mein Leben bedrohen. Genau deshalb habe ich Sie dazugebeten: Damit Sie es bezeugen, damit Sie dokumentieren, dass er mich genau so behandelt wie
befürchtet. So wie ich von Anfang an behandelt wurde. Die Chicago Metro braucht mich als Sündenbock. Und damit versuchen sie nur, Leute aus den eigenen Reihen zu decken. Dieser Mann hier, Detective Brian Nash, ist Sam Porters Partner. Sie sind seit Jahren befreundet. Keine Ahnung, wie tief dieser Detective hier in der Sache mit drinsteckt, aber er hat eindeutig Dreck am Stecken, womöglich genauso viel wie Porter selbst. Was immer diese Männer mir vorwerfen – ich bin unschuldig.«
»Danach hat Nash die Kamera kaputt getreten. Channel Seven hat alles aufgezeichnet und schon mitteilen lassen, dass sie das Material der Konkurrenz zur Verfügung stellen. Es ist auf sämtlichen großen Kanälen«, sagte Kloz, der jetzt hektisch auf die Tastatur einhämmerte. »Sie wollen alle mit Bishop sprechen und verlangen die vollständige Aufklärung. Und sie wollen mit Sam sprechen. Sie wollen wissen, wo er gesteckt hat, als diese vier Morde heute früh verübt worden sind – und die anderen Morde natürlich auch. Das ist alles ganz grässlich.«
Sam Porter ist 4MK.
»Das hat Bishop zusammen mit Upchurch eingefädelt«, stellte Clair tonlos fest. »Irgendwie hat er das alles im Vorfeld so hingedreht.«
Clairs Handy fing an zu klingeln.
»Was ist denn jetzt schon wieder, verdammt?« Sie angelte es aus der Tasche und ging ran.
Es war Stout. »Wir brauchen Sie beide augenblicklich in der Cafeteria. Wir haben hier ein ernsthaftes …«
Dann war die Leitung tot.
Die Meute war schon zu hören, sobald sie durch die Tür auf den Flur hinaustraten – ein gellendes Durcheinander aus wütenden Stimmen, die sich über die anderen hinweg Gehör zu verschaffen suchten. Stout und seine drei Männer
standen zwischen dem Mob – anders konnte man ihn nicht mehr beschreiben – und den Glastüren, die die Cafeteria vom Hauptflur und letztlich vom Eingangsbereich trennten. Einer der Männer in der Menge hielt einen Stuhl in die Luft, ein anderer einen Garderobenständer aus Metall. Mit dem holte er wiederholt nach Stout aus. Die beiden Beamten, die Clair an der Tür postiert hatte, waren nirgends zu sehen.
Clair zwängte sich durch die Menge bis an die Stirnseite, wo sie sich mit der Hand am Holster zwischen Stout und den Garderobenmann schob.
»Wollen Sie jetzt auch noch auf uns schießen?«, brüllte der Garderobenmann.
»Hier ist jetzt sofort wieder Ruhe!« Clair hatte versucht zu schreien, so laut sie konnte, aber ihr versagte die Stimme, und sie bekam einen Hustenanfall.
»Die ist auch nicht besser als diese anderen Monster von der Metro!«, kreischte eine Frau in einem blauen Blümchenkleid. Sie hatte ihr Handy gezückt und auf Clair gerichtet. »Ihr lasst uns hier drin verrotten und wartet, bis einer nach dem anderen tot umfällt. Ihr beschützt uns nicht, ihr haltet uns hier gefangen
! Ich gehe jetzt raus!«
Andere pflichteten ihr lautstark bei, und Clair musste sich zusammenreißen, um nicht vor ihnen zurückzuweichen.
Jetzt holte der Garderobenmann auch nach ihr aus. Die Spitze des Garderobenständers fegte so haarscharf an ihrem Kopf vorbei, dass sie den Luftzug spüren konnte. Die Meute war für einen Augenblick still. Dann ging das Getöse umso lauter weiter.
Clair war drauf und dran, ihre Waffe zu ziehen, als urplötzlich ein gellender Pfiff alles übertönte. Als sie sich umdrehte, stand Klozowski mit zwei Fingern im Mund hinter ihr
.
»Es reicht!«, brüllte er.
Diesmal wurde es ruhig, und alle sahen ihn an.
»Wir wollen genauso wenig hier drin sein wie Sie – auch wir sitzen hier fest.«
»Es hieß, wir sollten herkommen, weil der Killer es auf uns abgesehen hätte – aber jetzt haben die ihn doch geschnappt. Warum dürfen wir also nicht gehen?« Das kam von einem älteren Mann auf der linken Seite. Er trug ein Tweedsakko und eine dunkle Hose. Er schien bemerkt zu haben, dass Clair versuchte, ihn irgendwie zuzuordnen, denn er antwortete, noch bevor sie die Frage gestellt hatte: »Dr. Barrington aus der Onkologie. Viele dieser Leute hier sind meine Mitarbeiter, und wir alle wollen einfach nur in unser normales Leben zurück.«
»So einfach ist das nicht«, entgegnete Clair.
»Wegen des Virus?«
Sie antwortete nicht.
Barrington hob die Hand. »Schon in Ordnung, Detective. Die meisten von uns sind medizinisch geschult. Wir verstehen nur zu gut, was es bedeutet, wenn eine Quarantäne verhängt wird. Außerdem wissen wir ziemlich genau, wie sich ein Virus verbreitet. Uns alle zusammenzupferchen ist da leider kontraproduktiv. Wir müssen die Kranken von den Gesunden isolieren. Und wir müssen zur Sicherheit alle einen Mundschutz tragen.«
Clair war gar nicht aufgefallen, dass sie ihre eigene Maske nicht länger trug. Sie hatte sie am Boden ihres Büros liegen lassen. Nur etwa die Hälfte der Leute in der Cafeteria hatte Masken angelegt.
»Das CDC gibt fleißig Medikamente aus«, fuhr Barrington fort. »Dafür sind wir auch sehr dankbar. Aber abgesehen davon, dass Sie eine Handvoll Leute mit offenkundigen SARS-Symptomen von hier entfernt haben, wird der Rest von uns wie eine homogene Gruppe behandelt
und in der Cafeteria und in den angrenzenden Räumen zusammengesperrt. Wir befinden uns auf dem Höhepunkt der Erkältungs- und Grippezeit. Viele von uns waren schon krank, bevor sie das Krankenhaus überhaupt betreten haben. Wir wissen nicht, wer von uns sich mit diesem SARS-Virus angesteckt hat, wer einfach nur erkältet ist oder eine Grippe hat … und die Einbildungskraft bringt obendrein gewisse Symptome hervor. Ich würde die Hand dafür ins Feuer legen, dass sich in diesem Raum Leute befinden, die glauben, sie wären krank, die aber in Wahrheit kerngesund sind. So tickt der Mensch – wenn wir uns nur in der Nähe eines Kranken aufhalten, geht der Körper in die Defensive. Und diese Defensive ruft Symptome hervor, die eine eingebildete Erkrankung imitieren – und unser Gehirn ist darauf trainiert, genau diese Symptome zu fürchten. So wird das Problem nur umso schlimmer.«
»Was schlagen Sie vor?«
»SARS lässt sich anhand von Symptomen kaum diagnostizieren, bis die Krankheit voll ausgebrochen ist. Zu diesem frühen Zeitpunkt fühlt sich ein infizierter Patient lediglich ›grippeähnlich‹; einige haben leichte Schmerzen, sind vielleicht verschnupft. Bei solchen Symptomen gibt es keine Methode, die belastbar verifizieren könnte, ob wir es mit einer Erkältung, mit einer Grippe oder – Gott bewahre! – mit SARS zu tun haben. Nun ist aber das Problem, dass die Krankheit im frühen Stadium am infektiösesten ist. Wir sollten dringend darüber nachdenken, uns hier in der Cafeteria gruppenweise zu isolieren: diejenigen mit Gliederschmerzen und Kopfweh in die eine Gruppe, die mit Halsschmerzen in die andere. Schnupfen und andere Atemwegserkrankungen in die dritte. Wer Fieber hat, muss ausgesondert und von den anderen entfernt werden. Das meiste davon ist Standardprozedere – das CDC weiß das, trotzdem wird nichts unternommen. Sie glauben, wenn wir
alle hier zusammenbleiben, ist das Vorsichtsmaßnahme genug. Es reicht in der Tat, um die Öffentlichkeit draußen vor einer Epidemie zu bewahren. Aber es nützt rein gar nichts, um diejenigen von uns hier drin zu beschützen, die nicht – noch
nicht – infiziert sind. Wenn nicht ganz bald etwas passiert, sind wir am Ende tatsächlich alle infiziert.«
Clair spürte, wie sich ein Niesanfall anbahnte, doch mit schierer Willenskraft rang sie ihn nieder. Wenn sie jetzt nieste, würden diese Leute sie höchstwahrscheinlich lynchen.
Barrington kam einen Schritt auf sie zu und sprach jetzt so leise, dass nur sie ihn hören konnte: »Ich habe mitbekommen, dass eine weitere Leiche aufgetaucht ist – Stanford Pentz aus der Kardiologie. Das allein hat hier ein bisschen für Panik gesorgt. Aber jetzt, da Bishop in Gewahrsam ist, hat sich die Panik gelegt. Ich sage Ihnen, wenn Sie diese Leute nicht unter Kontrolle bringen, dann wird das hier möglicherweise hässlich werden, und zwar von jetzt auf gleich. Hier köchelt eine Art ›Wir gegen die‹-Stimmung. Ich biete an, Ihnen zu helfen, solange wir noch die Möglichkeit haben. Lassen Sie zu, dass ich Sie unterstütze.«
Clair war klar, dass der Mann recht hatte, und sie hatte so eine Ahnung, dass die Leute ihm vertrauen würden – aufgrund der Art und Weise, wie sie ihn ansahen, und weil sie den Mund gehalten hatten, während er gesprochen hatte. »Sagen Sie Ihrem Freund dort, er soll den Garderobenständer hinstellen, und dann tue ich so, als hätte es den Angriff auf eine Beamtin nie gegeben. Fangen wir doch damit an.«
Barrington drehte sich nach links, behielt Clair aber im Blick. »Stell das Ding weg, Harry. Niemand hier würde dir nachweinen, wenn sie dich erschießen müsste. Gib ihr lieber nicht auch noch einen Grund dazu.«
Der Garderobenmann funkelte ihn für einen Augenblick
finster an, schnaubte dann aber und stellte den Ständer neben sich ab. Stout lief hinüber und holte ihn sich. »Soll ich den Mann festnehmen?«
Clair schüttelte den Kopf. »Jetzt beruhigen wir uns alle erst einmal wieder.«
»Wenn Sie mich mit dem Verantwortlichen aus dem CDC in Kontakt bringen, kann ich von hier aus helfen«, fuhr Barrington fort. Dann sprach er leise weiter: »Geben Sie diesen Leuten eine Aufgabe, damit sie nicht einfach nur herumstehen, und ich wette, sie werden schlagartig gefügiger.«
Clair ahnte, dass der Mann mit seiner Einschätzung richtiglag, und sie musste sich eingestehen, dass sie auch gar keine Zeit hatte, jetzt die Massendompteurin zu geben. »Sprechen Sie mit Jarred Maltby. Er hat sich oben eine Art Schaltzentrale eingerichtet. Geben Sie mir Ihr Handy.«
Er angelte sein Handy aus der Gesäßtasche und wollte es ihr schon geben, zog dann aber die Hand zurück, nachdem er ihr erneut misstrauisch in die Augen gesehen hatte, die unter Garantie genauso rot, juckend und verquollen waren, wie sie sich anfühlten.
»Vielleicht diktieren Sie mir die Nummer …«
Im nächsten Augenblick war der Schrei einer Frau quer durch die Cafeteria zu hören.